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Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888.

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Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor
reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner
Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen,
kund geworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl
sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe
eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich
vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den
"Leipziger" oder von "Pappes Hamburger Lese-
früchten". Noch fühl' ich es gleich einem Schauer,
wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen
mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Ur-
enkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst
begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen
Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so
weniger weder die Wahrheit der Thatsachen ver-
bürgen, als, wenn Jemand sie bestreiten wollte,
dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern,
daß ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 1

Was ich zu berichten beabſichtige, iſt mir vor
reichlich einem halben Jahrhundert im Hauſe meiner
Urgroßmutter, der alten Frau Senator Fedderſen,
kund geworden, während ich, an ihrem Lehnſtuhl
ſitzend, mich mit dem Leſen eines in blaue Pappe
eingebundenen Zeitſchriftenheftes beſchäftigte; ich
vermag mich nicht mehr zu entſinnen, ob von den
„Leipziger” oder von „Pappes Hamburger Leſe-
früchten”. Noch fühl' ich es gleich einem Schauer,
wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen
mitunter liebkoſend über das Haupthaar ihres Ur-
enkels hinglitt. Sie ſelbſt und jene Zeit ſind längſt
begraben; vergebens auch habe ich ſeitdem jenen
Blättern nachgeforſcht, und ich kann daher um ſo
weniger weder die Wahrheit der Thatſachen ver-
bürgen, als, wenn Jemand ſie beſtreiten wollte,
dafür aufſtehen; nur ſo viel kann ich verſichern,
daß ich ſie ſeit jener Zeit, obgleich ſie durch keinen

Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 1
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[0013] Was ich zu berichten beabſichtige, iſt mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hauſe meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Fedderſen, kund geworden, während ich, an ihrem Lehnſtuhl ſitzend, mich mit dem Leſen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitſchriftenheftes beſchäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entſinnen, ob von den „Leipziger” oder von „Pappes Hamburger Leſe- früchten”. Noch fühl' ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkoſend über das Haupthaar ihres Ur- enkels hinglitt. Sie ſelbſt und jene Zeit ſind längſt begraben; vergebens auch habe ich ſeitdem jenen Blättern nachgeforſcht, und ich kann daher um ſo weniger weder die Wahrheit der Thatſachen ver- bürgen, als, wenn Jemand ſie beſtreiten wollte, dafür aufſtehen; nur ſo viel kann ich verſichern, daß ich ſie ſeit jener Zeit, obgleich ſie durch keinen Theodor Storm, Der Schimmelreiter. 1

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_schimmelreiter_1888/13>, abgerufen am 18.04.2024.