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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erstes Kapitel. §. 15.
durch die Freude und Verwundrung der Versammlung ge-
stört zu werden, durch welche doch der Erzähler selbst
sich unterbrechen lässt, -- sondern es müsste auf jeden
Fall angenommen werden, dass der Verfasser von dem
Seinen hinzugefügt, und die Geschichtserzählung durch die
lyrischen Ausbrüche seiner Muse bereichert habe 16); denn
was Kuinöl vermuthet, Zacharias habe den Lobgesang erst
nachher verfertigt und niedergeschrieben, ist doch, neben
dem Wunderlichen, dem Texte zu sehr zuwider. -- End-
lich, wenn die Erklärer sich darauf berufen, am allerwe-
nigsten würde ein Erfinder gewisse andre Züge so richtig
getroffen haben, wie das Zuwinken, den Streit des Fami-
milienraths, und dass der Engel gerade zur rechten Hand
des Altars gestanden 17): so zeigen sie nur, dass sie von
Poesie und Volkssage entweder keinen Begriff haben, oder
hier keinen haben wollen, da ja ächte Dichtung und Sage
gerade durch Anschaulichkeit und Natürlichkeit der einzel-
nen Züge sich auszeichnet 18).

§. 15.
Die mythische Ansicht von der Erzählung auf verschie-
denen Stufen.

Die oben nachgewiesene Nothwendigkeit und die zu-
letzt dargelegte Möglichkeit, die historische Treue des vor-
liegenden Berichts zu bezweifeln, hat mehrere Theologen
veranlasst, die ganze Relation über die Verkündigung der
Geburt des Täufers für eine Sage zu erklären, entstanden
aus der Wichtigkeit, welche Johannes als Vorläufer für
die Christen hatte, und aus Nachbildung einiger A. T.li-
chen Erzählungen, in welchen Isaaks, Samuels und nament-

16) Über die Schriften des Lukas, S. 23.
17) Paulus und Olshausen z. d. St., Heydenreich a. a. O. 1, S. 87.
18) Vergl. Horst, in Henke's Museum, 1, 4, S. 705.
Das Leben Jesu I. Band. 7

Erstes Kapitel. §. 15.
durch die Freude und Verwundrung der Versammlung ge-
stört zu werden, durch welche doch der Erzähler selbst
sich unterbrechen läſst, — sondern es müſste auf jeden
Fall angenommen werden, daſs der Verfasser von dem
Seinen hinzugefügt, und die Geschichtserzählung durch die
lyrischen Ausbrüche seiner Muse bereichert habe 16); denn
was Kuinöl vermuthet, Zacharias habe den Lobgesang erst
nachher verfertigt und niedergeschrieben, ist doch, neben
dem Wunderlichen, dem Texte zu sehr zuwider. — End-
lich, wenn die Erklärer sich darauf berufen, am allerwe-
nigsten würde ein Erfinder gewisse andre Züge so richtig
getroffen haben, wie das Zuwinken, den Streit des Fami-
milienraths, und daſs der Engel gerade zur rechten Hand
des Altars gestanden 17): so zeigen sie nur, daſs sie von
Poësie und Volkssage entweder keinen Begriff haben, oder
hier keinen haben wollen, da ja ächte Dichtung und Sage
gerade durch Anschaulichkeit und Natürlichkeit der einzel-
nen Züge sich auszeichnet 18).

§. 15.
Die mythische Ansicht von der Erzählung auf verschie-
denen Stufen.

Die oben nachgewiesene Nothwendigkeit und die zu-
letzt dargelegte Möglichkeit, die historische Treue des vor-
liegenden Berichts zu bezweifeln, hat mehrere Theologen
veranlaſst, die ganze Relation über die Verkündigung der
Geburt des Täufers für eine Sage zu erklären, entstanden
aus der Wichtigkeit, welche Johannes als Vorläufer für
die Christen hatte, und aus Nachbildung einiger A. T.li-
chen Erzählungen, in welchen Isaaks, Samuels und nament-

16) Über die Schriften des Lukas, S. 23.
17) Paulus und Olshausen z. d. St., Heydenreich a. a. O. 1, S. 87.
18) Vergl. Horst, in Henke's Museum, 1, 4, S. 705.
Das Leben Jesu I. Band. 7
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[97/0121] Erstes Kapitel. §. 15. durch die Freude und Verwundrung der Versammlung ge- stört zu werden, durch welche doch der Erzähler selbst sich unterbrechen läſst, — sondern es müſste auf jeden Fall angenommen werden, daſs der Verfasser von dem Seinen hinzugefügt, und die Geschichtserzählung durch die lyrischen Ausbrüche seiner Muse bereichert habe 16); denn was Kuinöl vermuthet, Zacharias habe den Lobgesang erst nachher verfertigt und niedergeschrieben, ist doch, neben dem Wunderlichen, dem Texte zu sehr zuwider. — End- lich, wenn die Erklärer sich darauf berufen, am allerwe- nigsten würde ein Erfinder gewisse andre Züge so richtig getroffen haben, wie das Zuwinken, den Streit des Fami- milienraths, und daſs der Engel gerade zur rechten Hand des Altars gestanden 17): so zeigen sie nur, daſs sie von Poësie und Volkssage entweder keinen Begriff haben, oder hier keinen haben wollen, da ja ächte Dichtung und Sage gerade durch Anschaulichkeit und Natürlichkeit der einzel- nen Züge sich auszeichnet 18). §. 15. Die mythische Ansicht von der Erzählung auf verschie- denen Stufen. Die oben nachgewiesene Nothwendigkeit und die zu- letzt dargelegte Möglichkeit, die historische Treue des vor- liegenden Berichts zu bezweifeln, hat mehrere Theologen veranlaſst, die ganze Relation über die Verkündigung der Geburt des Täufers für eine Sage zu erklären, entstanden aus der Wichtigkeit, welche Johannes als Vorläufer für die Christen hatte, und aus Nachbildung einiger A. T.li- chen Erzählungen, in welchen Isaaks, Samuels und nament- 16) Über die Schriften des Lukas, S. 23. 17) Paulus und Olshausen z. d. St., Heydenreich a. a. O. 1, S. 87. 18) Vergl. Horst, in Henke's Museum, 1, 4, S. 705. Das Leben Jesu I. Band. 7

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/121>, abgerufen am 30.03.2024.