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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Siebentes Kapitel. §. 77.
so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem
Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere
entscheiden muss, da das Erstere nach dem so eben Aus-
geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü-
her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli-
sten ist.

Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16--21. müs-
sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten
Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V.
13. stiess uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des
Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich
dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al-
les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan-
gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit
dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits
gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm
mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia-
logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des
Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und
fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber
verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel-
chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver-
schmelzt, und jenen von sich selber reden lässt, wie nur
er über Jesum reden konnte.

§. 77.
Die Reden Jesu Joh. 5--12.

Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft
sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine
längere Rede (V. 19--47.). Schon die Weise, wie Jesus
V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un-
terschied von der Art, wie er diess in den ersten Evange-
lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu-
mente: das von David, der die Schaubrote ass, woran sich das
auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der

Siebentes Kapitel. §. 77.
so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem
Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere
entscheiden muſs, da das Erstere nach dem so eben Aus-
geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü-
her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli-
sten ist.

Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16—21. müs-
sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten
Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V.
13. stieſs uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des
Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich
dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al-
les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan-
gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit
dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits
gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm
mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia-
logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des
Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und
fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber
verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel-
chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver-
schmelzt, und jenen von sich selber reden läſst, wie nur
er über Jesum reden konnte.

§. 77.
Die Reden Jesu Joh. 5—12.

Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft
sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine
längere Rede (V. 19—47.). Schon die Weise, wie Jesus
V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un-
terschied von der Art, wie er dieſs in den ersten Evange-
lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu-
mente: das von David, der die Schaubrote aſs, woran sich das
auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der

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[645/0669] Siebentes Kapitel. §. 77. so kann man sie nur entweder ganz Jesu oder ganz dem Evangelisten zuschreiben, wobei man sich für das Leztere entscheiden muſs, da das Erstere nach dem so eben Aus- geführten unmöglich, das Leztere hingegen nach dem frü- her Beobachteten ganz in der Weise des vierten Evangeli- sten ist. Doch nicht blos über den Abschnitt V. 16—21. müs- sen wir dieses Urtheil fällen, sondern auch schon den 14ten Vers fanden wir im Munde Jesu minder passend, in V. 13. stieſs uns einiges Verdächtige auf, das Benehmen des Nikodemus V. 4. und 9. war uns undenkbar, und endlich dieser selbst sammt der nächtlichen Scene, auf welcher Al- les vorgeht, erschien fingirt. So hat uns das vierte Evan- gelium gleich bei dieser ersten Probe, wenn wir sie mit dem vergleichen, was wir über Joh. 3, 22 ff. 4, 1 ff. bereits gesehen haben, alle Haupteigenthümlichkeiten der von ihm mitgetheilten Reden Jesu dargelegt. Sie fangen gerne dia- logisch an, und soweit diese Form geht, ist der Hebel des Gesprächs der grelle Contrast zwischen geistigem Sinn und fleischlicher Auffassung der Reden Jesu; meistens aber verlieren sie sich hierauf in fortlaufende Vorträge, in wel- chen der Referent die Person Jesu mit seiner eigenen ver- schmelzt, und jenen von sich selber reden läſst, wie nur er über Jesum reden konnte. §. 77. Die Reden Jesu Joh. 5—12. Im 5ten Kapitel des johanneischen Evangeliums knüpft sich an eine von Jesu am Sabbat verrichtete Heilung eine längere Rede (V. 19—47.). Schon die Weise, wie Jesus V. 17. seine Thätigkeit am Sabbat vertheidigt, ist im Un- terschied von der Art, wie er dieſs in den ersten Evange- lien thut, bemerkenswerth. Diese haben hiefür drei Argu- mente: das von David, der die Schaubrote aſs, woran sich das auch Joh. 7, 23. aufgeführte von dem sabbatlichen Arbeiten der

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/669>, abgerufen am 25.04.2024.