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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
Vater, der allein die rechte Zeit für diese Katastrophe wis-
se (Marc. 13. 32.), ihm gleichsam das Signal zu geben,
und wurde auch dadurch nicht irre gemacht, dass ihn das
Ende ereilte, ehe ein solches erfolgt war. Wer diese An-
sicht von dem Hintergrunde des messianischen Planes Jesu
blos desswegen scheut, weil er durch dieselbe Jesum zum
Schwärmer zu machen glaubt 4), der bedenke, wie genau
diese Hoffnungen den langgehegten Messiasbegriffen der
Juden entsprachen 5), und wie leicht auf dem supranatu-
ralistischen Boden jener Zeit und in dem abgeschlossenen
Kreise der jüdischen Nation eine für sich abenteuerliche
Vorstellung, wenn sie nur Nationalvorstellung war und
sonst wahre und grossartige Seiten bot, auch einen beson-
nenen Mann in sich hineinziehen konnte.

Was sofort nach dem Gericht die Frommen erwartet,
die zoe aionios in der basileia tou patros, diese vergleicht
Jesus zwar in Einstimmung mit jüdischen Vorstellungen 6)
gerne mit einem Gastmahl (Matth. 8, 11. 22, 2 ff. u. s.), in
welchem er selbst noch zu trinken (Matth. 26, 29.) und das
Pascha zu feiern hofft (Luc. 22, 16.): doch scheint seine
anderweitige bestimmte Erklärung, dass in dem aion mel-
lon die organischen Verhältnisse der Geschlechter aufhö-
ren und die Menschen isaggeloi sein werden (Luc. 20, 35 f.),
jene Reden mehr oder weniger zur Geltung von Bildern
herabzusetzen.

§. 63.
Verhältniss Jesu zum mosaischen Gesetz.

Weil in der von Jesu gestifteten Kirche die mosaische
Religionsverfassung faktisch ihren Untergang gefunden hat,
so liegt es nahe, zu vermuthen, dass auch in der Absicht

4) de Wette, bibl. Dogm. §. 216.
5) Bertholdt, Christol. Judacor. §§. 30 ff.
6) Bertholdt, §. 39.

Zweiter Abschnitt.
Vater, der allein die rechte Zeit für diese Katastrophe wis-
se (Marc. 13. 32.), ihm gleichsam das Signal zu geben,
und wurde auch dadurch nicht irre gemacht, daſs ihn das
Ende ereilte, ehe ein solches erfolgt war. Wer diese An-
sicht von dem Hintergrunde des messianischen Planes Jesu
blos deſswegen scheut, weil er durch dieselbe Jesum zum
Schwärmer zu machen glaubt 4), der bedenke, wie genau
diese Hoffnungen den langgehegten Messiasbegriffen der
Juden entsprachen 5), und wie leicht auf dem supranatu-
ralistischen Boden jener Zeit und in dem abgeschlossenen
Kreise der jüdischen Nation eine für sich abenteuerliche
Vorstellung, wenn sie nur Nationalvorstellung war und
sonst wahre und groſsartige Seiten bot, auch einen beson-
nenen Mann in sich hineinziehen konnte.

Was sofort nach dem Gericht die Frommen erwartet,
die ζωὴ αἰωνιος in der βασιλεία τοῦ πατρὸς, diese vergleicht
Jesus zwar in Einstimmung mit jüdischen Vorstellungen 6)
gerne mit einem Gastmahl (Matth. 8, 11. 22, 2 ff. u. s.), in
welchem er selbst noch zu trinken (Matth. 26, 29.) und das
Pascha zu feiern hofft (Luc. 22, 16.): doch scheint seine
anderweitige bestimmte Erklärung, daſs in dem αἰὼν μέλ-
λων die organischen Verhältnisse der Geschlechter aufhö-
ren und die Menschen ἰσάγγελοι sein werden (Luc. 20, 35 f.),
jene Reden mehr oder weniger zur Geltung von Bildern
herabzusetzen.

§. 63.
Verhältniss Jesu zum mosaischen Gesetz.

Weil in der von Jesu gestifteten Kirche die mosaische
Religionsverfassung faktisch ihren Untergang gefunden hat,
so liegt es nahe, zu vermuthen, daſs auch in der Absicht

4) de Wette, bibl. Dogm. §. 216.
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6) Bertholdt, §. 39.
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[494/0518] Zweiter Abschnitt. Vater, der allein die rechte Zeit für diese Katastrophe wis- se (Marc. 13. 32.), ihm gleichsam das Signal zu geben, und wurde auch dadurch nicht irre gemacht, daſs ihn das Ende ereilte, ehe ein solches erfolgt war. Wer diese An- sicht von dem Hintergrunde des messianischen Planes Jesu blos deſswegen scheut, weil er durch dieselbe Jesum zum Schwärmer zu machen glaubt 4), der bedenke, wie genau diese Hoffnungen den langgehegten Messiasbegriffen der Juden entsprachen 5), und wie leicht auf dem supranatu- ralistischen Boden jener Zeit und in dem abgeschlossenen Kreise der jüdischen Nation eine für sich abenteuerliche Vorstellung, wenn sie nur Nationalvorstellung war und sonst wahre und groſsartige Seiten bot, auch einen beson- nenen Mann in sich hineinziehen konnte. Was sofort nach dem Gericht die Frommen erwartet, die ζωὴ αἰωνιος in der βασιλεία τοῦ πατρὸς, diese vergleicht Jesus zwar in Einstimmung mit jüdischen Vorstellungen 6) gerne mit einem Gastmahl (Matth. 8, 11. 22, 2 ff. u. s.), in welchem er selbst noch zu trinken (Matth. 26, 29.) und das Pascha zu feiern hofft (Luc. 22, 16.): doch scheint seine anderweitige bestimmte Erklärung, daſs in dem αἰὼν μέλ- λων die organischen Verhältnisse der Geschlechter aufhö- ren und die Menschen ἰσάγγελοι sein werden (Luc. 20, 35 f.), jene Reden mehr oder weniger zur Geltung von Bildern herabzusetzen. §. 63. Verhältniss Jesu zum mosaischen Gesetz. Weil in der von Jesu gestifteten Kirche die mosaische Religionsverfassung faktisch ihren Untergang gefunden hat, so liegt es nahe, zu vermuthen, daſs auch in der Absicht 4) de Wette, bibl. Dogm. §. 216. 5) Bertholdt, Christol. Judacor. §§. 30 ff. 6) Bertholdt, §. 39.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/518>, abgerufen am 28.03.2024.