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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Fünftes Kapitel. §. 37.
stock der Begebenheit ein durchaus natürlicher ist, hier
den vermittelnden Weg vorziehen, und nach Hinweg-
schaffung des Mythischen noch einen Rest von Geschichte
zu retten suchen. Wir könnten also etwa annehmen, Jesu
Eltern haben wirklich ihren Sohn in früher Jugend ein-
mal nach Jerusalem zum Fest genommen, und da er ihnen
hier, doch noch vor ihrer Abreise, aus den Augen gekom-
men, haben sie ihn im Tempel wieder gefunden, wo er
lernbegierig zu den Füssen der Rabbinen gesessen habe.
Zur Rede gestellt, habe er erklärt, dass im Hause Gottes
sein liebster Aufenthalt sei 1), welche Rede die Eltern er-
freut und bei den Umstehenden Beifall gefunden habe.
Das Weitere hätte, nachdem Jesus als Messias erkannt
gewesen, die vergrössernde Sage hinzugethan. -- Hier
würde also alles Anstössige in unsrer Erzählung, das Weg-
reisen der Eltern ohne den Sohn, dessen Sitzen inmitten
der Lehrer, und seine Rede von Gott als seinem Vater in
besondrem Sinne, weggeworfen; aber die Reise des 12jäh-
rigen Jesus, seine bewiesene Lernbegierde und Vorliebe
zum Tempel stehen gelassen. Diesen Zügen ist nun frei-
lich auf negativem Wege nichts anzuhaben, indem sie nichts
Unwahrscheinliches in sich schliessen; ihre historische
Wahrheit wird aber auch in dem Falle zweifelhaft, wenn
sich positiv ein starkes Interesse der Sage zeigt, aus wel-
chem die ganze Erzählung und namentlich auch diese für
sich nicht unwahrscheinlichen Züge derselben hervorgegan-
gen sein könnten.

Dass nun von grossen Männern, welche sich im reifen
Alter durch geistige Überlegenheit ausgezeichnet haben,
gerne auch schon die ersten, vorbedeutenden Regungen ih-
res Geistes aufgefasst, und wenn sie nicht historisch zu er-
mitteln sind, nach der Wahrscheinlichkeit erdichtet wer-
den, ist bekannt. Namentlich aber auch in der hebräischen

1) s. Gabler, im neuesten theol. Journal 3, 1, S. 39.
Das Leben Jesu I. Band. 19

Fünftes Kapitel. §. 37.
stock der Begebenheit ein durchaus natürlicher ist, hier
den vermittelnden Weg vorziehen, und nach Hinweg-
schaffung des Mythischen noch einen Rest von Geschichte
zu retten suchen. Wir könnten also etwa annehmen, Jesu
Eltern haben wirklich ihren Sohn in früher Jugend ein-
mal nach Jerusalem zum Fest genommen, und da er ihnen
hier, doch noch vor ihrer Abreise, aus den Augen gekom-
men, haben sie ihn im Tempel wieder gefunden, wo er
lernbegierig zu den Füſsen der Rabbinen gesessen habe.
Zur Rede gestellt, habe er erklärt, daſs im Hause Gottes
sein liebster Aufenthalt sei 1), welche Rede die Eltern er-
freut und bei den Umstehenden Beifall gefunden habe.
Das Weitere hätte, nachdem Jesus als Messias erkannt
gewesen, die vergröſsernde Sage hinzugethan. — Hier
würde also alles Anstöſsige in unsrer Erzählung, das Weg-
reisen der Eltern ohne den Sohn, dessen Sitzen inmitten
der Lehrer, und seine Rede von Gott als seinem Vater in
besondrem Sinne, weggeworfen; aber die Reise des 12jäh-
rigen Jesus, seine bewiesene Lernbegierde und Vorliebe
zum Tempel stehen gelassen. Diesen Zügen ist nun frei-
lich auf negativem Wege nichts anzuhaben, indem sie nichts
Unwahrscheinliches in sich schlieſsen; ihre historische
Wahrheit wird aber auch in dem Falle zweifelhaft, wenn
sich positiv ein starkes Interesse der Sage zeigt, aus wel-
chem die ganze Erzählung und namentlich auch diese für
sich nicht unwahrscheinlichen Züge derselben hervorgegan-
gen sein könnten.

Daſs nun von groſsen Männern, welche sich im reifen
Alter durch geistige Überlegenheit ausgezeichnet haben,
gerne auch schon die ersten, vorbedeutenden Regungen ih-
res Geistes aufgefaſst, und wenn sie nicht historisch zu er-
mitteln sind, nach der Wahrscheinlichkeit erdichtet wer-
den, ist bekannt. Namentlich aber auch in der hebräischen

1) s. Gabler, im neuesten theol. Journal 3, 1, S. 39.
Das Leben Jesu I. Band. 19
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[289/0313] Fünftes Kapitel. §. 37. stock der Begebenheit ein durchaus natürlicher ist, hier den vermittelnden Weg vorziehen, und nach Hinweg- schaffung des Mythischen noch einen Rest von Geschichte zu retten suchen. Wir könnten also etwa annehmen, Jesu Eltern haben wirklich ihren Sohn in früher Jugend ein- mal nach Jerusalem zum Fest genommen, und da er ihnen hier, doch noch vor ihrer Abreise, aus den Augen gekom- men, haben sie ihn im Tempel wieder gefunden, wo er lernbegierig zu den Füſsen der Rabbinen gesessen habe. Zur Rede gestellt, habe er erklärt, daſs im Hause Gottes sein liebster Aufenthalt sei 1), welche Rede die Eltern er- freut und bei den Umstehenden Beifall gefunden habe. Das Weitere hätte, nachdem Jesus als Messias erkannt gewesen, die vergröſsernde Sage hinzugethan. — Hier würde also alles Anstöſsige in unsrer Erzählung, das Weg- reisen der Eltern ohne den Sohn, dessen Sitzen inmitten der Lehrer, und seine Rede von Gott als seinem Vater in besondrem Sinne, weggeworfen; aber die Reise des 12jäh- rigen Jesus, seine bewiesene Lernbegierde und Vorliebe zum Tempel stehen gelassen. Diesen Zügen ist nun frei- lich auf negativem Wege nichts anzuhaben, indem sie nichts Unwahrscheinliches in sich schlieſsen; ihre historische Wahrheit wird aber auch in dem Falle zweifelhaft, wenn sich positiv ein starkes Interesse der Sage zeigt, aus wel- chem die ganze Erzählung und namentlich auch diese für sich nicht unwahrscheinlichen Züge derselben hervorgegan- gen sein könnten. Daſs nun von groſsen Männern, welche sich im reifen Alter durch geistige Überlegenheit ausgezeichnet haben, gerne auch schon die ersten, vorbedeutenden Regungen ih- res Geistes aufgefaſst, und wenn sie nicht historisch zu er- mitteln sind, nach der Wahrscheinlichkeit erdichtet wer- den, ist bekannt. Namentlich aber auch in der hebräischen 1) s. Gabler, im neuesten theol. Journal 3, 1, S. 39. Das Leben Jesu I. Band. 19

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/313>, abgerufen am 19.04.2024.