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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
brauch somit auch dem Ärmsten zum Vorwurf gemacht
werden konnte 33); eine Sitte, welche theils für jene Zeit
unerwiesen ist 34), theils nicht blos stillschweigend vor-
ausgesezt werden durfte, weil ohne diesen Zug der Un-
wille des Königs unbegründet erscheint. Doch nicht allein
dem Bild, sondern auch der Idee dieser Parabel ist der
fragliche Zusaz entgegen. Denn bis dahin bewegte sich
dieselbe in dem nationalen Gegensaz der widerspenstigen
Juden und der heilsbegierigen Heiden: nun müsste sie auf
Einmal zu dem moralischen von Würdigen und Unwür-
digen überhaupt übergehen. Dass, nachdem die Juden die
Ladung zum Gottesreiche verschmäht hatten, die Heiden
in dasselbe berufen werden sollten, ist eine Idee für sich,
mit welcher sich daher die Parabel bei Lukas, wie billig,
schliesst; dass, wer sich der Berufung nicht durch ent-
sprechende Gesinnung würdig zeige, aus dem Reiche wie-
der ausgeschlossen werde, ist eine andere Idee, welche
eine abgesonderte Behandlung in einer andern Parabel ver-
langte. Alles leitet uns daher auch hier wieder auf die
schon sonst ausgesprochene 35) Vermuthung hin, dass der
Schluss dieser Gleichnissrede bei Matthäus Fragment ei-
ner andern Parabel sei, welche, weil beide von einem
Gastmahl handelten, leicht in der Sage oder in der Erin-
nerung eines Einzelnen mit dem Gleichniss, welches in
seiner Reinheit durch Lukas aufbewahrt worden ist, zu-
sammenfliessen konnte. Diese andre Parabel müsste ein-
fach dahin gelautet haben, dass ein König verschiedene
Gäste zu einem Hochzeitmahle geladen habe unter der

33) Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 210; Olshausen, b. Comm., 1,
S. 811.
34) s. Fritzsche, a. a. O.
35) Aus dem Zusazblatt zu Schneckenburger's Beiträgen ersehe
ich, dass auch ein Recensent im theol. Literaturblatt, 1831,
No. 88. hier eine Verschmelzung zweier ursprünglich ver-
schiedenen Parabeln vermuthet hat.

Zweiter Abschnitt.
brauch somit auch dem Ärmsten zum Vorwurf gemacht
werden konnte 33); eine Sitte, welche theils für jene Zeit
unerwiesen ist 34), theils nicht blos stillschweigend vor-
ausgesezt werden durfte, weil ohne diesen Zug der Un-
wille des Königs unbegründet erscheint. Doch nicht allein
dem Bild, sondern auch der Idee dieser Parabel ist der
fragliche Zusaz entgegen. Denn bis dahin bewegte sich
dieselbe in dem nationalen Gegensaz der widerspenstigen
Juden und der heilsbegierigen Heiden: nun müſste sie auf
Einmal zu dem moralischen von Würdigen und Unwür-
digen überhaupt übergehen. Daſs, nachdem die Juden die
Ladung zum Gottesreiche verschmäht hatten, die Heiden
in dasselbe berufen werden sollten, ist eine Idee für sich,
mit welcher sich daher die Parabel bei Lukas, wie billig,
schlieſst; daſs, wer sich der Berufung nicht durch ent-
sprechende Gesinnung würdig zeige, aus dem Reiche wie-
der ausgeschlossen werde, ist eine andere Idee, welche
eine abgesonderte Behandlung in einer andern Parabel ver-
langte. Alles leitet uns daher auch hier wieder auf die
schon sonst ausgesprochene 35) Vermuthung hin, daſs der
Schluſs dieser Gleichniſsrede bei Matthäus Fragment ei-
ner andern Parabel sei, welche, weil beide von einem
Gastmahl handelten, leicht in der Sage oder in der Erin-
nerung eines Einzelnen mit dem Gleichniſs, welches in
seiner Reinheit durch Lukas aufbewahrt worden ist, zu-
sammenflieſsen konnte. Diese andre Parabel müſste ein-
fach dahin gelautet haben, daſs ein König verschiedene
Gäste zu einem Hochzeitmahle geladen habe unter der

33) Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 210; Olshausen, b. Comm., 1,
S. 811.
34) s. Fritzsche, a. a. O.
35) Aus dem Zusazblatt zu Schneckenburger's Beiträgen ersehe
ich, dass auch ein Recensent im theol. Literaturblatt, 1831,
No. 88. hier eine Verschmelzung zweier ursprünglich ver-
schiedenen Parabeln vermuthet hat.
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[612/0636] Zweiter Abschnitt. brauch somit auch dem Ärmsten zum Vorwurf gemacht werden konnte 33); eine Sitte, welche theils für jene Zeit unerwiesen ist 34), theils nicht blos stillschweigend vor- ausgesezt werden durfte, weil ohne diesen Zug der Un- wille des Königs unbegründet erscheint. Doch nicht allein dem Bild, sondern auch der Idee dieser Parabel ist der fragliche Zusaz entgegen. Denn bis dahin bewegte sich dieselbe in dem nationalen Gegensaz der widerspenstigen Juden und der heilsbegierigen Heiden: nun müſste sie auf Einmal zu dem moralischen von Würdigen und Unwür- digen überhaupt übergehen. Daſs, nachdem die Juden die Ladung zum Gottesreiche verschmäht hatten, die Heiden in dasselbe berufen werden sollten, ist eine Idee für sich, mit welcher sich daher die Parabel bei Lukas, wie billig, schlieſst; daſs, wer sich der Berufung nicht durch ent- sprechende Gesinnung würdig zeige, aus dem Reiche wie- der ausgeschlossen werde, ist eine andere Idee, welche eine abgesonderte Behandlung in einer andern Parabel ver- langte. Alles leitet uns daher auch hier wieder auf die schon sonst ausgesprochene 35) Vermuthung hin, daſs der Schluſs dieser Gleichniſsrede bei Matthäus Fragment ei- ner andern Parabel sei, welche, weil beide von einem Gastmahl handelten, leicht in der Sage oder in der Erin- nerung eines Einzelnen mit dem Gleichniſs, welches in seiner Reinheit durch Lukas aufbewahrt worden ist, zu- sammenflieſsen konnte. Diese andre Parabel müſste ein- fach dahin gelautet haben, daſs ein König verschiedene Gäste zu einem Hochzeitmahle geladen habe unter der 33) Paulus, ex. Handb. 3, a, S. 210; Olshausen, b. Comm., 1, S. 811. 34) s. Fritzsche, a. a. O. 35) Aus dem Zusazblatt zu Schneckenburger's Beiträgen ersehe ich, dass auch ein Recensent im theol. Literaturblatt, 1831, No. 88. hier eine Verschmelzung zweier ursprünglich ver- schiedenen Parabeln vermuthet hat.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/636>, abgerufen am 18.04.2024.