Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
Jesus diese Absicht auf Einmal aus den Augen verlieren
konnte, begreift man nicht. Noch greller als bei Mat-
thäus tritt das Unzusammenhängende dieses Ausspruchs
bei Markus und Lukas darin hervor, dass sie nach der
Aufstellung des Kindes unmittelbar das os ean dexetai k. t. l.
folgen lassen, so dass also Jesus schon während des Auf-
stellens vergessen haben müsste, wesswegen er das Kind
aufstellte, nämlich, um es als nachahmungswürdig, nicht
aber um es als aufnahmsbedürftig darzustellen. Von sei-
nen Schülern, den mikrois toutois, pflegte Jesus zu sagen,
wer sie aufnehme, nehme ihn selbst, und in ihm denjeni-
gen auf, der ihn gesandt habe (Matth. 10, 40 ff. Luc. 10, 16.
Joh. 13, 20): von den Kindern sagte er sonst nur, wer
das Himmelreich nicht als ein Kind aufnehme, der werde
nicht hineinkommen (Marc. 10, 15. Luc. 18, 17). Dieser
Ausspruch würde auch hieher trefflich sich eignen, und
man möchte fast die Vermuthung wagen, dass hier das
ursprünglich hiehergehörige os ean me dexetai ten basileian
ton ouranon os paidion mit dem ähnlich lautenden os ean
dexetai paidion toiouton epi to onomati mou verwechselt wor-
den sein möge.

Wie in unmittelbarster Beziehung auf das zulezt an-
geführte Wort Jesu fügen hierauf Markus (V. 38 f.) und
Lukas (V. 49 f.) durch ein apokritheis die Nachricht ein,
welche Johannes Jesu gegeben haben soll, dass sie einem
Menschen, der in Jesu Namen Dämonen austrieb, ohne
sich doch an sie anzuschliessen, diess niedergelegt haben.
Schleiermacher fasst den Zusammenhang so: weil Jesus
eben die Aufnahme der Kinder epi to otomati mou (t. I.) em-
pfohlen hatte, so habe ihm Johannes das Geständniss ge-
than, sie hätten bisher das, dass einer etwas gerade epi
to onomati sou (t. I.) thue, so wenig für die Hauptsache
gehalten, dass sie einem, der sich nicht an sie angeschlos-
sen, das Handeln auf seinen Namen gewehrt haben 1).

1) Über den Lukas S. 153 f.

Zweiter Abschnitt.
Jesus diese Absicht auf Einmal aus den Augen verlieren
konnte, begreift man nicht. Noch greller als bei Mat-
thäus tritt das Unzusammenhängende dieses Ausspruchs
bei Markus und Lukas darin hervor, daſs sie nach der
Aufstellung des Kindes unmittelbar das ὃς ἐὰν δέξηται κ. τ. λ.
folgen lassen, so daſs also Jesus schon während des Auf-
stellens vergessen haben müſste, weſswegen er das Kind
aufstellte, nämlich, um es als nachahmungswürdig, nicht
aber um es als aufnahmsbedürftig darzustellen. Von sei-
nen Schülern, den μικροῖς τούτοις, pflegte Jesus zu sagen,
wer sie aufnehme, nehme ihn selbst, und in ihm denjeni-
gen auf, der ihn gesandt habe (Matth. 10, 40 ff. Luc. 10, 16.
Joh. 13, 20): von den Kindern sagte er sonst nur, wer
das Himmelreich nicht als ein Kind aufnehme, der werde
nicht hineinkommen (Marc. 10, 15. Luc. 18, 17). Dieser
Ausspruch würde auch hieher trefflich sich eignen, und
man möchte fast die Vermuthung wagen, daſs hier das
ursprünglich hiehergehörige ὃς ἐὰν μὴ δέξηται τὴν βασιλείαν
τῶν οὐρανων ὡς παιδίον mit dem ähnlich lautenden ὃς ἐὰν
δέξηται παιδίον τοιοῦτον ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου verwechselt wor-
den sein möge.

Wie in unmittelbarster Beziehung auf das zulezt an-
geführte Wort Jesu fügen hierauf Markus (V. 38 f.) und
Lukas (V. 49 f.) durch ein ἀποκριϑεὶς die Nachricht ein,
welche Johannes Jesu gegeben haben soll, daſs sie einem
Menschen, der in Jesu Namen Dämonen austrieb, ohne
sich doch an sie anzuschlieſsen, dieſs niedergelegt haben.
Schleiermacher faſst den Zusammenhang so: weil Jesus
eben die Aufnahme der Kinder ἐπὶ τῷ ὀτόματί μου (τ. Ἰ.) em-
pfohlen hatte, so habe ihm Johannes das Geständniſs ge-
than, sie hätten bisher das, daſs einer etwas gerade ἐπὶ
τῷ ὀνόματί σου (τ. Ἰ.) thue, so wenig für die Hauptsache
gehalten, daſs sie einem, der sich nicht an sie angeschlos-
sen, das Handeln auf seinen Namen gewehrt haben 1).

1) Über den Lukas S. 153 f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0638" n="614"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
Jesus diese Absicht auf Einmal aus den Augen verlieren<lb/>
konnte, begreift man nicht. Noch greller als bei Mat-<lb/>
thäus tritt das Unzusammenhängende dieses Ausspruchs<lb/>
bei Markus und Lukas darin hervor, da&#x017F;s sie nach der<lb/>
Aufstellung des Kindes unmittelbar das <foreign xml:lang="ell">&#x1F43;&#x03C2; &#x1F10;&#x1F70;&#x03BD; &#x03B4;&#x03AD;&#x03BE;&#x03B7;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x03BA;. &#x03C4;. &#x03BB;.</foreign><lb/>
folgen lassen, so da&#x017F;s also Jesus schon während des Auf-<lb/>
stellens vergessen haben mü&#x017F;ste, we&#x017F;swegen er das Kind<lb/>
aufstellte, nämlich, um es als nachahmungswürdig, nicht<lb/>
aber um es als aufnahmsbedürftig darzustellen. Von sei-<lb/>
nen Schülern, den <foreign xml:lang="ell">&#x03BC;&#x03B9;&#x03BA;&#x03C1;&#x03BF;&#x1FD6;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x03CD;&#x03C4;&#x03BF;&#x03B9;&#x03C2;</foreign>, pflegte Jesus zu sagen,<lb/>
wer sie aufnehme, nehme ihn selbst, und in ihm denjeni-<lb/>
gen auf, der ihn gesandt habe (Matth. 10, 40 ff. Luc. 10, 16.<lb/>
Joh. 13, 20): von den Kindern sagte er sonst nur, wer<lb/>
das Himmelreich nicht als ein Kind aufnehme, der werde<lb/>
nicht hineinkommen (Marc. 10, 15. Luc. 18, 17). Dieser<lb/>
Ausspruch würde auch hieher trefflich sich eignen, und<lb/>
man möchte fast die Vermuthung wagen, da&#x017F;s hier das<lb/>
ursprünglich hiehergehörige <foreign xml:lang="ell">&#x1F43;&#x03C2; &#x1F10;&#x1F70;&#x03BD; &#x03BC;&#x1F74; &#x03B4;&#x03AD;&#x03BE;&#x03B7;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x03C4;&#x1F74;&#x03BD; &#x03B2;&#x03B1;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BB;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1;&#x03BD;<lb/>
&#x03C4;&#x1FF6;&#x03BD; &#x03BF;&#x1F50;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BD;&#x03C9;&#x03BD; &#x1F61;&#x03C2; &#x03C0;&#x03B1;&#x03B9;&#x03B4;&#x03AF;&#x03BF;&#x03BD;</foreign> mit dem ähnlich lautenden <foreign xml:lang="ell">&#x1F43;&#x03C2; &#x1F10;&#x1F70;&#x03BD;<lb/>
&#x03B4;&#x03AD;&#x03BE;&#x03B7;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x03C0;&#x03B1;&#x03B9;&#x03B4;&#x03AF;&#x03BF;&#x03BD; &#x03C4;&#x03BF;&#x03B9;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BD; &#x1F10;&#x03C0;&#x1F76; &#x03C4;&#x1FF7; &#x1F40;&#x03BD;&#x03CC;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03AF; &#x03BC;&#x03BF;&#x03C5;</foreign> verwechselt wor-<lb/>
den sein möge.</p><lb/>
            <p>Wie in unmittelbarster Beziehung auf das zulezt an-<lb/>
geführte Wort Jesu fügen hierauf Markus (V. 38 f.) und<lb/>
Lukas (V. 49 f.) durch ein <foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03C0;&#x03BF;&#x03BA;&#x03C1;&#x03B9;&#x03D1;&#x03B5;&#x1F76;&#x03C2;</foreign> die Nachricht ein,<lb/>
welche Johannes Jesu gegeben haben soll, da&#x017F;s sie einem<lb/>
Menschen, der in Jesu Namen Dämonen austrieb, ohne<lb/>
sich doch an sie anzuschlie&#x017F;sen, die&#x017F;s niedergelegt haben.<lb/><hi rendition="#k">Schleiermacher</hi> fa&#x017F;st den Zusammenhang so: weil Jesus<lb/>
eben die Aufnahme der Kinder <foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03C0;&#x1F76; &#x03C4;&#x1FF7; &#x1F40;&#x03C4;&#x03CC;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03AF; &#x03BC;&#x03BF;&#x03C5; (&#x03C4;. &#x1F38;.)</foreign> em-<lb/>
pfohlen hatte, so habe ihm Johannes das Geständni&#x017F;s ge-<lb/>
than, sie hätten bisher das, da&#x017F;s einer etwas gerade <foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03C0;&#x1F76;<lb/>
&#x03C4;&#x1FF7; &#x1F40;&#x03BD;&#x03CC;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03AF; &#x03C3;&#x03BF;&#x03C5; (&#x03C4;. &#x1F38;.)</foreign> thue, so wenig für die Hauptsache<lb/>
gehalten, da&#x017F;s sie einem, der sich nicht an sie angeschlos-<lb/>
sen, das Handeln auf seinen Namen gewehrt haben <note place="foot" n="1)">Über den Lukas S. 153 f.</note>.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[614/0638] Zweiter Abschnitt. Jesus diese Absicht auf Einmal aus den Augen verlieren konnte, begreift man nicht. Noch greller als bei Mat- thäus tritt das Unzusammenhängende dieses Ausspruchs bei Markus und Lukas darin hervor, daſs sie nach der Aufstellung des Kindes unmittelbar das ὃς ἐὰν δέξηται κ. τ. λ. folgen lassen, so daſs also Jesus schon während des Auf- stellens vergessen haben müſste, weſswegen er das Kind aufstellte, nämlich, um es als nachahmungswürdig, nicht aber um es als aufnahmsbedürftig darzustellen. Von sei- nen Schülern, den μικροῖς τούτοις, pflegte Jesus zu sagen, wer sie aufnehme, nehme ihn selbst, und in ihm denjeni- gen auf, der ihn gesandt habe (Matth. 10, 40 ff. Luc. 10, 16. Joh. 13, 20): von den Kindern sagte er sonst nur, wer das Himmelreich nicht als ein Kind aufnehme, der werde nicht hineinkommen (Marc. 10, 15. Luc. 18, 17). Dieser Ausspruch würde auch hieher trefflich sich eignen, und man möchte fast die Vermuthung wagen, daſs hier das ursprünglich hiehergehörige ὃς ἐὰν μὴ δέξηται τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανων ὡς παιδίον mit dem ähnlich lautenden ὃς ἐὰν δέξηται παιδίον τοιοῦτον ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου verwechselt wor- den sein möge. Wie in unmittelbarster Beziehung auf das zulezt an- geführte Wort Jesu fügen hierauf Markus (V. 38 f.) und Lukas (V. 49 f.) durch ein ἀποκριϑεὶς die Nachricht ein, welche Johannes Jesu gegeben haben soll, daſs sie einem Menschen, der in Jesu Namen Dämonen austrieb, ohne sich doch an sie anzuschlieſsen, dieſs niedergelegt haben. Schleiermacher faſst den Zusammenhang so: weil Jesus eben die Aufnahme der Kinder ἐπὶ τῷ ὀτόματί μου (τ. Ἰ.) em- pfohlen hatte, so habe ihm Johannes das Geständniſs ge- than, sie hätten bisher das, daſs einer etwas gerade ἐπὶ τῷ ὀνόματί σου (τ. Ἰ.) thue, so wenig für die Hauptsache gehalten, daſs sie einem, der sich nicht an sie angeschlos- sen, das Handeln auf seinen Namen gewehrt haben 1). 1) Über den Lukas S. 153 f.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/638
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 614. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/638>, abgerufen am 18.04.2024.