Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Kapitel. §. 112.
der Zerstörung Jerusalems verflossen sind: so muss es uns
leicht werden, uns zu denken, wie der Urheber dieser
Reden, welcher diese Erfahrung noch nicht hinter sich
hatte, die Vorstellung hegen konnte, dass bald nach dem
Fall des jüdischen Heiligthums, nach jüdischer Vorstellung
des Mittelpunkts der jetzigen Welt, es auch mit dieser
selbst ein Ende nehmen, und der Messias zum Gericht er-
scheinen werde.

§. 112.
Ursprung der Reden über die Parusie.

In dem zulezt gezogenen Resultat über die unsrer Be-
trachtung vorliegenden Reden ist nun aber etwas enthal-
ten, welches zu vermeiden alle bisher beurtheilten falschen
Erklärungsversuche gemacht worden sind. Hat nämlich
Jesus sich vorgestellt und ausgesprochen, dass bald
nach dem Falle des jüdischen Heiligthums seine sichtbare
Wiederkunft und das Ende der Welt erfolgen werde, wäh-
rend nun seit jener ersten Katastrophe fast 1800 Jahre
hingegangen sind, ohne dass die andere eingetreten wäre:
so hat er in diesem Stücke geirrt, und wer nun auch der
exegetischen Evidenz so viel nachgiebt, um in jenem Re-
sultate über den Sinn der vorliegenden Reden mit uns über-
einzustimmen, der sucht doch aus dogmatischen Rücksich-
ten dieser Consequenz desselben auszuweichen. Bekannt-
lich hat Hengstenberg in Bezug auf die Gesichte der he-
bräischen Propheten die Ansicht aufgebracht, welche auch
bei Andern, z. B. bei Olshausen, Beifall gefunden, es ha-
ben sich dem geistigen Schauen dieser Männer die zukünf-
tigen Dinge nicht in dem Medium der Zeit, sondern des
Raums, gleichsam als grosse Tableaus, dargeboten, wo-
bei, wie diess bei Gemälden oder Fernsichten der Fall ist,
das Entfernteste oft unmittelbar hinter dem Nächsten zu
stehen geschienen, Vorder- und Hintergrund sich miteinan-
der vermengt haben, und diese Theorie von einem per-

23 *

Erstes Kapitel. §. 112.
der Zerstörung Jerusalems verflossen sind: so muſs es uns
leicht werden, uns zu denken, wie der Urheber dieser
Reden, welcher diese Erfahrung noch nicht hinter sich
hatte, die Vorstellung hegen konnte, daſs bald nach dem
Fall des jüdischen Heiligthums, nach jüdischer Vorstellung
des Mittelpunkts der jetzigen Welt, es auch mit dieser
selbst ein Ende nehmen, und der Messias zum Gericht er-
scheinen werde.

§. 112.
Ursprung der Reden über die Parusie.

In dem zulezt gezogenen Resultat über die unsrer Be-
trachtung vorliegenden Reden ist nun aber etwas enthal-
ten, welches zu vermeiden alle bisher beurtheilten falschen
Erklärungsversuche gemacht worden sind. Hat nämlich
Jesus sich vorgestellt und ausgesprochen, daſs bald
nach dem Falle des jüdischen Heiligthums seine sichtbare
Wiederkunft und das Ende der Welt erfolgen werde, wäh-
rend nun seit jener ersten Katastrophe fast 1800 Jahre
hingegangen sind, ohne daſs die andere eingetreten wäre:
so hat er in diesem Stücke geirrt, und wer nun auch der
exegetischen Evidenz so viel nachgiebt, um in jenem Re-
sultate über den Sinn der vorliegenden Reden mit uns über-
einzustimmen, der sucht doch aus dogmatischen Rücksich-
ten dieser Consequenz desselben auszuweichen. Bekannt-
lich hat Hengstenberg in Bezug auf die Gesichte der he-
bräischen Propheten die Ansicht aufgebracht, welche auch
bei Andern, z. B. bei Olshausen, Beifall gefunden, es ha-
ben sich dem geistigen Schauen dieser Männer die zukünf-
tigen Dinge nicht in dem Medium der Zeit, sondern des
Raums, gleichsam als groſse Tableaus, dargeboten, wo-
bei, wie dieſs bei Gemälden oder Fernsichten der Fall ist,
das Entfernteste oft unmittelbar hinter dem Nächsten zu
stehen geschienen, Vorder- und Hintergrund sich miteinan-
der vermengt haben, und diese Theorie von einem per-

23 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0374" n="355"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erstes Kapitel</hi>. §. 112.</fw><lb/>
der Zerstörung Jerusalems verflossen sind: so mu&#x017F;s es uns<lb/>
leicht werden, uns zu denken, wie der Urheber dieser<lb/>
Reden, welcher diese Erfahrung noch nicht hinter sich<lb/>
hatte, die Vorstellung hegen konnte, da&#x017F;s bald nach dem<lb/>
Fall des jüdischen Heiligthums, nach jüdischer Vorstellung<lb/>
des Mittelpunkts der jetzigen Welt, es auch mit dieser<lb/>
selbst ein Ende nehmen, und der Messias zum Gericht er-<lb/>
scheinen werde.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 112.<lb/>
Ursprung der Reden über die Parusie.</head><lb/>
          <p>In dem zulezt gezogenen Resultat über die unsrer Be-<lb/>
trachtung vorliegenden Reden ist nun aber etwas enthal-<lb/>
ten, welches zu vermeiden alle bisher beurtheilten falschen<lb/>
Erklärungsversuche gemacht worden sind. Hat nämlich<lb/>
Jesus sich vorgestellt und ausgesprochen, da&#x017F;s bald<lb/>
nach dem Falle des jüdischen Heiligthums seine sichtbare<lb/>
Wiederkunft und das Ende der Welt erfolgen werde, wäh-<lb/>
rend nun seit jener ersten Katastrophe fast 1800 Jahre<lb/>
hingegangen sind, ohne da&#x017F;s die andere eingetreten wäre:<lb/>
so hat er in diesem Stücke geirrt, und wer nun auch der<lb/>
exegetischen Evidenz so viel nachgiebt, um in jenem Re-<lb/>
sultate über den Sinn der vorliegenden Reden mit uns über-<lb/>
einzustimmen, der sucht doch aus dogmatischen Rücksich-<lb/>
ten dieser Consequenz desselben auszuweichen. Bekannt-<lb/>
lich hat <hi rendition="#k">Hengstenberg</hi> in Bezug auf die Gesichte der he-<lb/>
bräischen Propheten die Ansicht aufgebracht, welche auch<lb/>
bei Andern, z. B. bei <hi rendition="#k">Olshausen</hi>, Beifall gefunden, es ha-<lb/>
ben sich dem geistigen Schauen dieser Männer die zukünf-<lb/>
tigen Dinge nicht in dem Medium der Zeit, sondern des<lb/>
Raums, gleichsam als gro&#x017F;se Tableaus, dargeboten, wo-<lb/>
bei, wie die&#x017F;s bei Gemälden oder Fernsichten der Fall ist,<lb/>
das Entfernteste oft unmittelbar hinter dem Nächsten zu<lb/>
stehen geschienen, Vorder- und Hintergrund sich miteinan-<lb/>
der vermengt haben, und diese Theorie von einem per-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">23 *</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[355/0374] Erstes Kapitel. §. 112. der Zerstörung Jerusalems verflossen sind: so muſs es uns leicht werden, uns zu denken, wie der Urheber dieser Reden, welcher diese Erfahrung noch nicht hinter sich hatte, die Vorstellung hegen konnte, daſs bald nach dem Fall des jüdischen Heiligthums, nach jüdischer Vorstellung des Mittelpunkts der jetzigen Welt, es auch mit dieser selbst ein Ende nehmen, und der Messias zum Gericht er- scheinen werde. §. 112. Ursprung der Reden über die Parusie. In dem zulezt gezogenen Resultat über die unsrer Be- trachtung vorliegenden Reden ist nun aber etwas enthal- ten, welches zu vermeiden alle bisher beurtheilten falschen Erklärungsversuche gemacht worden sind. Hat nämlich Jesus sich vorgestellt und ausgesprochen, daſs bald nach dem Falle des jüdischen Heiligthums seine sichtbare Wiederkunft und das Ende der Welt erfolgen werde, wäh- rend nun seit jener ersten Katastrophe fast 1800 Jahre hingegangen sind, ohne daſs die andere eingetreten wäre: so hat er in diesem Stücke geirrt, und wer nun auch der exegetischen Evidenz so viel nachgiebt, um in jenem Re- sultate über den Sinn der vorliegenden Reden mit uns über- einzustimmen, der sucht doch aus dogmatischen Rücksich- ten dieser Consequenz desselben auszuweichen. Bekannt- lich hat Hengstenberg in Bezug auf die Gesichte der he- bräischen Propheten die Ansicht aufgebracht, welche auch bei Andern, z. B. bei Olshausen, Beifall gefunden, es ha- ben sich dem geistigen Schauen dieser Männer die zukünf- tigen Dinge nicht in dem Medium der Zeit, sondern des Raums, gleichsam als groſse Tableaus, dargeboten, wo- bei, wie dieſs bei Gemälden oder Fernsichten der Fall ist, das Entfernteste oft unmittelbar hinter dem Nächsten zu stehen geschienen, Vorder- und Hintergrund sich miteinan- der vermengt haben, und diese Theorie von einem per- 23 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/374
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/374>, abgerufen am 29.03.2024.