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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Viertes Kapitel. §. 130.
gebracht werden mochte: wie hingegen aus dem Verschei-
den mit lautem Geschrei auf die Würde eines Gottessohns
geschlossen werden konnte, will auf keine Weise einleuch-
ten. Die passendste Beziehung aber giebt dem Ausruf
des Centurio Matthäus, welcher denselben durch das Erd-
beben und die übrigen Vorfälle bei'm Tode Jesu veran-
lasst sein lässt: wenn nur nicht die historische Realität dieser
Rede des Hauptmanns mit der ihrer angeblichen Veran-
lassungen stände und fiele. In der Angabe der Worte
des Centurio hingegen hat hinwiederum Lukas die histo-
rische Wahrscheinlichkeit besser, als seine beiden Vor-
männer, beobachtet. Denn Jesum als uios theou erklärt im
jüdischen Sinne hat der römische Krieger schwerlich: er
konnte es nur im Sinne der heidnischen Götterzeugungen;
in diesem Sinne aber melden die Evangelisten wenig-
stens seinen Ausspruch nicht, sondern sie wollen hier
selbst einen Heiden für die Messianität Jesu zeugen las-
sen: wogegen, dass er, wie Lukas berichtet, Jesum als
anthropos dikaios bezeichnet hätte, an sich wohl möglich
wäre, wenn nicht mit der ganzen Darstellung der Kreu-
zigungs- und Todesscene auch dieser Schlussstein dersel-
ben verdächtig würde -- zumal bei Lukas, der zu dem
Eindruck auf den Hauptmann noch den auf die übrige
Volksmenge fügt, und diese mit Zeichen der Reue und
Trauer in die Stadt zurückkehren lässt, ein Zug, welcher
nicht sowohl anzugeben scheint, was die Juden wirklich
empfunden und gethan, als was sie nach christlicher An-
sicht hätten thun und empfinden sollen.

§. 130.
Der Lanzenstich in die Seite Jesu.

Während die Synoptiker Jesum von der ora ennate,
d. h. Nachmittags 3 Uhr, wo er verschied, bis zu der opsia,
d. h. wohl bis gegen 6 Uhr Abends, am Kreuze hängen
lassen, ohne dass weiter etwas mit ihm vorgienge: schiebt

Viertes Kapitel. §. 130.
gebracht werden mochte: wie hingegen aus dem Verschei-
den mit lautem Geschrei auf die Würde eines Gottessohns
geschlossen werden konnte, will auf keine Weise einleuch-
ten. Die passendste Beziehung aber giebt dem Ausruf
des Centurio Matthäus, welcher denselben durch das Erd-
beben und die übrigen Vorfälle bei'm Tode Jesu veran-
laſst sein läſst: wenn nur nicht die historische Realität dieser
Rede des Hauptmanns mit der ihrer angeblichen Veran-
lassungen stände und fiele. In der Angabe der Worte
des Centurio hingegen hat hinwiederum Lukas die histo-
rische Wahrscheinlichkeit besser, als seine beiden Vor-
männer, beobachtet. Denn Jesum als υἱὸς ϑεοῦ erklärt im
jüdischen Sinne hat der römische Krieger schwerlich: er
konnte es nur im Sinne der heidnischen Götterzeugungen;
in diesem Sinne aber melden die Evangelisten wenig-
stens seinen Ausspruch nicht, sondern sie wollen hier
selbst einen Heiden für die Messianität Jesu zeugen las-
sen: wogegen, daſs er, wie Lukas berichtet, Jesum als
ἄνϑρωπος δίκαιος bezeichnet hätte, an sich wohl möglich
wäre, wenn nicht mit der ganzen Darstellung der Kreu-
zigungs- und Todesscene auch dieser Schluſsstein dersel-
ben verdächtig würde — zumal bei Lukas, der zu dem
Eindruck auf den Hauptmann noch den auf die übrige
Volksmenge fügt, und diese mit Zeichen der Reue und
Trauer in die Stadt zurückkehren läſst, ein Zug, welcher
nicht sowohl anzugeben scheint, was die Juden wirklich
empfunden und gethan, als was sie nach christlicher An-
sicht hätten thun und empfinden sollen.

§. 130.
Der Lanzenstich in die Seite Jesu.

Während die Synoptiker Jesum von der ὥρα ἐννάτη,
d. h. Nachmittags 3 Uhr, wo er verschied, bis zu der ὀψία,
d. h. wohl bis gegen 6 Uhr Abends, am Kreuze hängen
lassen, ohne daſs weiter etwas mit ihm vorgienge: schiebt

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[565/0584] Viertes Kapitel. §. 130. gebracht werden mochte: wie hingegen aus dem Verschei- den mit lautem Geschrei auf die Würde eines Gottessohns geschlossen werden konnte, will auf keine Weise einleuch- ten. Die passendste Beziehung aber giebt dem Ausruf des Centurio Matthäus, welcher denselben durch das Erd- beben und die übrigen Vorfälle bei'm Tode Jesu veran- laſst sein läſst: wenn nur nicht die historische Realität dieser Rede des Hauptmanns mit der ihrer angeblichen Veran- lassungen stände und fiele. In der Angabe der Worte des Centurio hingegen hat hinwiederum Lukas die histo- rische Wahrscheinlichkeit besser, als seine beiden Vor- männer, beobachtet. Denn Jesum als υἱὸς ϑεοῦ erklärt im jüdischen Sinne hat der römische Krieger schwerlich: er konnte es nur im Sinne der heidnischen Götterzeugungen; in diesem Sinne aber melden die Evangelisten wenig- stens seinen Ausspruch nicht, sondern sie wollen hier selbst einen Heiden für die Messianität Jesu zeugen las- sen: wogegen, daſs er, wie Lukas berichtet, Jesum als ἄνϑρωπος δίκαιος bezeichnet hätte, an sich wohl möglich wäre, wenn nicht mit der ganzen Darstellung der Kreu- zigungs- und Todesscene auch dieser Schluſsstein dersel- ben verdächtig würde — zumal bei Lukas, der zu dem Eindruck auf den Hauptmann noch den auf die übrige Volksmenge fügt, und diese mit Zeichen der Reue und Trauer in die Stadt zurückkehren läſst, ein Zug, welcher nicht sowohl anzugeben scheint, was die Juden wirklich empfunden und gethan, als was sie nach christlicher An- sicht hätten thun und empfinden sollen. §. 130. Der Lanzenstich in die Seite Jesu. Während die Synoptiker Jesum von der ὥρα ἐννάτη, d. h. Nachmittags 3 Uhr, wo er verschied, bis zu der ὀψία, d. h. wohl bis gegen 6 Uhr Abends, am Kreuze hängen lassen, ohne daſs weiter etwas mit ihm vorgienge: schiebt

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/584>, abgerufen am 29.03.2024.