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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju-
den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt,
nur darin, dass die Jünger den Leichnam gestohlen haben
sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider-
legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei-
ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten
sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre-
ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da
ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver-
siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter-
suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih-
re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt,
zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil-
den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne-
ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan-
des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen,
indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif-
tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom-
menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von
dem ist also wahr, was Hase sagt, die Sage sei wohl un-
ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein-
den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst
Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde
vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten.

§. 133.
Erste Kunde der Auferstehung.

Dass die erste Kunde von dem eröffneten und leeren
Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniss
durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim-
men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren
Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab,
welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den
reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und
Apologeten vollauf zu thun gegeben hat, ohne dass bis jezt

Dritter Abschnitt.
liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju-
den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt,
nur darin, daſs die Jünger den Leichnam gestohlen haben
sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider-
legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei-
ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten
sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre-
ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da
ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver-
siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter-
suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih-
re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt,
zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil-
den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne-
ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan-
des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen,
indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif-
tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom-
menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von
dem ist also wahr, was Hase sagt, die Sage sei wohl un-
ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein-
den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst
Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde
vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten.

§. 133.
Erste Kunde der Auferstehung.

Daſs die erste Kunde von dem eröffneten und leeren
Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniſs
durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim-
men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren
Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab,
welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den
reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und
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[590/0609] Dritter Abschnitt. liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju- den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt, nur darin, daſs die Jünger den Leichnam gestohlen haben sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider- legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei- ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre- ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver- siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter- suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih- re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt, zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil- den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne- ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan- des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen, indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif- tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom- menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von dem ist also wahr, was Hase sagt, die Sage sei wohl un- ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein- den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten. §. 133. Erste Kunde der Auferstehung. Daſs die erste Kunde von dem eröffneten und leeren Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniſs durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim- men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab, welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und Apologeten vollauf zu thun gegeben hat, ohne daſs bis jezt

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/609>, abgerufen am 28.03.2024.