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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Viertes Kapitel. §. 136.
nur das Moment der Betastbarkeit, ohne dass ebenso ein
entgegengeseztes hervorgehoben wäre; bei Markus umge-
kehrt spricht sein en etera morphe (V. 12.) für etwas Über-
natürliches, ohne dass andrerseits auch wieder das Gegen-
theil bestimmt vorausgesezt würde: dagegen spricht bei
Lukas das Sichbetastenlassen und Essen ebenso bestimmt
für organische Materialität, als das plözliche Erscheinen
und Verschwinden gegen eine solche; ganz besonders hart
aber stossen die Glieder dieses Widerspruchs im vierten
Evangelium zusammen, wo Jesus, unmittelbar nachdem er
in das verschlossene Gemach unberührt durch Wände und
Thüren eingedrungen ist 21), sich von dem zweifelnden
Thomas berühren lässt.

§. 136.
Die Debatte über die Realität des Todes und der Aufer-
stehung Jesu.

Der Saz: ein Todter ist wiederbelebt worden, ist
aus zwei so widersprechenden Bestandtheilen zusammen-
gesezt, dass immer, wenn man den einen festhalten will,
der andere zu verschwinden droht. Ist er wirklich wie-
der zum Leben gekommen, so liegt es nahe, zu denken,
er werde nicht ganz todt gewesen sein; war er aber wirk-
lich todt, so hält es schwer, zu glauben, dass er wieder
lebendig geworden sei.

Bei einer richtigen Ansicht über das Verhältniss von
Seele und Leib, welche diese beiden nicht abstrakt ausein-

21) Mit der Fähigkeit Jesu, durch verschlossene Thüren zu drin-
gen, fanden manche Kirchenväter und orthodoxe Theologen
das nicht recht vereinbar, dass zum Behuf der Auferstehung
Jesu vorher der Stein vom Grabe gewälzt worden sein solle,
und behaupteten daher: resurrexit Christus clauso sepulcro,
sive nondum ab ostio sepulcri revoluto per angelum lapide.
Quenstedt, theol. didact. polem. 3, p. 542.

Viertes Kapitel. §. 136.
nur das Moment der Betastbarkeit, ohne daſs ebenso ein
entgegengeseztes hervorgehoben wäre; bei Markus umge-
kehrt spricht sein ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ (V. 12.) für etwas Über-
natürliches, ohne daſs andrerseits auch wieder das Gegen-
theil bestimmt vorausgesezt würde: dagegen spricht bei
Lukas das Sichbetastenlassen und Essen ebenso bestimmt
für organische Materialität, als das plözliche Erscheinen
und Verschwinden gegen eine solche; ganz besonders hart
aber stoſsen die Glieder dieses Widerspruchs im vierten
Evangelium zusammen, wo Jesus, unmittelbar nachdem er
in das verschlossene Gemach unberührt durch Wände und
Thüren eingedrungen ist 21), sich von dem zweifelnden
Thomas berühren läſst.

§. 136.
Die Debatte über die Realität des Todes und der Aufer-
stehung Jesu.

Der Saz: ein Todter ist wiederbelebt worden, ist
aus zwei so widersprechenden Bestandtheilen zusammen-
gesezt, daſs immer, wenn man den einen festhalten will,
der andere zu verschwinden droht. Ist er wirklich wie-
der zum Leben gekommen, so liegt es nahe, zu denken,
er werde nicht ganz todt gewesen sein; war er aber wirk-
lich todt, so hält es schwer, zu glauben, daſs er wieder
lebendig geworden sei.

Bei einer richtigen Ansicht über das Verhältniſs von
Seele und Leib, welche diese beiden nicht abstrakt ausein-

21) Mit der Fähigkeit Jesu, durch verschlossene Thüren zu drin-
gen, fanden manche Kirchenväter und orthodoxe Theologen
das nicht recht vereinbar, dass zum Behuf der Auferstehung
Jesu vorher der Stein vom Grabe gewälzt worden sein solle,
und behaupteten daher: resurrexit Christus clauso sepulcro,
sive nondum ab ostio sepulcri revoluto per angelum lapide.
Quenstedt, theol. didact. polem. 3, p. 542.
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[645/0664] Viertes Kapitel. §. 136. nur das Moment der Betastbarkeit, ohne daſs ebenso ein entgegengeseztes hervorgehoben wäre; bei Markus umge- kehrt spricht sein ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ (V. 12.) für etwas Über- natürliches, ohne daſs andrerseits auch wieder das Gegen- theil bestimmt vorausgesezt würde: dagegen spricht bei Lukas das Sichbetastenlassen und Essen ebenso bestimmt für organische Materialität, als das plözliche Erscheinen und Verschwinden gegen eine solche; ganz besonders hart aber stoſsen die Glieder dieses Widerspruchs im vierten Evangelium zusammen, wo Jesus, unmittelbar nachdem er in das verschlossene Gemach unberührt durch Wände und Thüren eingedrungen ist 21), sich von dem zweifelnden Thomas berühren läſst. §. 136. Die Debatte über die Realität des Todes und der Aufer- stehung Jesu. Der Saz: ein Todter ist wiederbelebt worden, ist aus zwei so widersprechenden Bestandtheilen zusammen- gesezt, daſs immer, wenn man den einen festhalten will, der andere zu verschwinden droht. Ist er wirklich wie- der zum Leben gekommen, so liegt es nahe, zu denken, er werde nicht ganz todt gewesen sein; war er aber wirk- lich todt, so hält es schwer, zu glauben, daſs er wieder lebendig geworden sei. Bei einer richtigen Ansicht über das Verhältniſs von Seele und Leib, welche diese beiden nicht abstrakt ausein- 21) Mit der Fähigkeit Jesu, durch verschlossene Thüren zu drin- gen, fanden manche Kirchenväter und orthodoxe Theologen das nicht recht vereinbar, dass zum Behuf der Auferstehung Jesu vorher der Stein vom Grabe gewälzt worden sein solle, und behaupteten daher: resurrexit Christus clauso sepulcro, sive nondum ab ostio sepulcri revoluto per angelum lapide. Quenstedt, theol. didact. polem. 3, p. 542.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/664>, abgerufen am 28.03.2024.