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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
ist eben die Einleitung der zulezt betrachteten Geschichte
vom Blindgeborenen (Joh. 9, 1--3). Hier nämlich legen
die Jünger, wie sie den Mann, den sie als von Geburt
an Blinden kennen, am Wege stehen sehen, Jesu die Fra-
ge vor, ob seine Blindheit Folge seiner eigenen, oder der
Sünde seiner Eltern sei? Der Fall war für die jüdische
Vergeltungstheorie besonders schwierig. Von Übeln, wel-
che einem Menschen erst im Verlauf seines Lebens zuge-
stossen sind, wird der auf eine gewisse Seite sich einmal
neigende Beobachter leicht irgend welche eigne Verschul-
dungen dieses Menschen als Ursache ausfindig machen oder
doch voraussetzen. Von angeborenen Übeln dagegen gab
zwar die althebräische Ansicht (2 Mos. 20, 5. 5 Mos. 5, 9.
2 Sam. 3, 29.) die Erklärung an die Hand, dass durch die-
selben die Sünden der Vorfahren an den Nachkommen
heimgesucht werden; allein, wie für das menschliche Recht
das mosaische Gesez selbst festsezte, dass Jeder nur für
eigene Vergehungen solle gestraft werden können (5 Mos.
24, 16. 2 Kön. 14, 6.), und auch in Bezug auf die göttli-
che Strafgerechtigkeit die Propheten ein Gleiches ahnten
(Jer. 31, 30. Ezech. 18, 19 f.): so ergab sich für angebo-
rene Übel dem rabbinischen Scharfsinn der Ausweg, sol-
che Menschen mögen wohl schon in Mutterleibe gesündigt
haben 3), und diese Meinung war es ohne Zweifel auch,
welche die Jünger bei ihrer Frage V. 2. voraussetzten
Wenn ihnen nun Jesus zur Antwort giebt, weder um ei-
ner eignen noch um einer Sünde seiner Eltern willen sei
jener Mensch blind zur Welt gekommen, sondern um durch

3) Sanhedr. f. 91, 2. und Bereschith Rabba f. 38, 1. (bei Light-
foot
S. 1050): Antoninus interrogavit Rabbi (Judam): a quo-
nam tempore incipit malus affectus praevalere in homine?
an a tempore formationis ejus (in utero), an a tempore pro-
cessionis ejus (ex utero)? Dicit ei Rabbi: a tempore for-
mationis ejus.

Zweiter Abschnitt.
ist eben die Einleitung der zulezt betrachteten Geschichte
vom Blindgeborenen (Joh. 9, 1—3). Hier nämlich legen
die Jünger, wie sie den Mann, den sie als von Geburt
an Blinden kennen, am Wege stehen sehen, Jesu die Fra-
ge vor, ob seine Blindheit Folge seiner eigenen, oder der
Sünde seiner Eltern sei? Der Fall war für die jüdische
Vergeltungstheorie besonders schwierig. Von Übeln, wel-
che einem Menschen erst im Verlauf seines Lebens zuge-
stossen sind, wird der auf eine gewisse Seite sich einmal
neigende Beobachter leicht irgend welche eigne Verschul-
dungen dieses Menschen als Ursache ausfindig machen oder
doch voraussetzen. Von angeborenen Übeln dagegen gab
zwar die althebräische Ansicht (2 Mos. 20, 5. 5 Mos. 5, 9.
2 Sam. 3, 29.) die Erklärung an die Hand, daſs durch die-
selben die Sünden der Vorfahren an den Nachkommen
heimgesucht werden; allein, wie für das menschliche Recht
das mosaische Gesez selbst festsezte, daſs Jeder nur für
eigene Vergehungen solle gestraft werden können (5 Mos.
24, 16. 2 Kön. 14, 6.), und auch in Bezug auf die göttli-
che Strafgerechtigkeit die Propheten ein Gleiches ahnten
(Jer. 31, 30. Ezech. 18, 19 f.): so ergab sich für angebo-
rene Übel dem rabbinischen Scharfsinn der Ausweg, sol-
che Menschen mögen wohl schon in Mutterleibe gesündigt
haben 3), und diese Meinung war es ohne Zweifel auch,
welche die Jünger bei ihrer Frage V. 2. voraussetzten
Wenn ihnen nun Jesus zur Antwort giebt, weder um ei-
ner eignen noch um einer Sünde seiner Eltern willen sei
jener Mensch blind zur Welt gekommen, sondern um durch

3) Sanhedr. f. 91, 2. und Bereschith Rabba f. 38, 1. (bei Light-
foot
S. 1050): Antoninus interrogavit Rabbi (Judam): a quo-
nam tempore incipit malus affectus praevalere in homine?
an a tempore formationis ejus (in utero), an a tempore pro-
cessionis ejus (ex utero)? Dicit ei Rabbi: a tempore for-
mationis ejus.
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[84/0103] Zweiter Abschnitt. ist eben die Einleitung der zulezt betrachteten Geschichte vom Blindgeborenen (Joh. 9, 1—3). Hier nämlich legen die Jünger, wie sie den Mann, den sie als von Geburt an Blinden kennen, am Wege stehen sehen, Jesu die Fra- ge vor, ob seine Blindheit Folge seiner eigenen, oder der Sünde seiner Eltern sei? Der Fall war für die jüdische Vergeltungstheorie besonders schwierig. Von Übeln, wel- che einem Menschen erst im Verlauf seines Lebens zuge- stossen sind, wird der auf eine gewisse Seite sich einmal neigende Beobachter leicht irgend welche eigne Verschul- dungen dieses Menschen als Ursache ausfindig machen oder doch voraussetzen. Von angeborenen Übeln dagegen gab zwar die althebräische Ansicht (2 Mos. 20, 5. 5 Mos. 5, 9. 2 Sam. 3, 29.) die Erklärung an die Hand, daſs durch die- selben die Sünden der Vorfahren an den Nachkommen heimgesucht werden; allein, wie für das menschliche Recht das mosaische Gesez selbst festsezte, daſs Jeder nur für eigene Vergehungen solle gestraft werden können (5 Mos. 24, 16. 2 Kön. 14, 6.), und auch in Bezug auf die göttli- che Strafgerechtigkeit die Propheten ein Gleiches ahnten (Jer. 31, 30. Ezech. 18, 19 f.): so ergab sich für angebo- rene Übel dem rabbinischen Scharfsinn der Ausweg, sol- che Menschen mögen wohl schon in Mutterleibe gesündigt haben 3), und diese Meinung war es ohne Zweifel auch, welche die Jünger bei ihrer Frage V. 2. voraussetzten Wenn ihnen nun Jesus zur Antwort giebt, weder um ei- ner eignen noch um einer Sünde seiner Eltern willen sei jener Mensch blind zur Welt gekommen, sondern um durch 3) Sanhedr. f. 91, 2. und Bereschith Rabba f. 38, 1. (bei Light- foot S. 1050): Antoninus interrogavit Rabbi (Judam): a quo- nam tempore incipit malus affectus praevalere in homine? an a tempore formationis ejus (in utero), an a tempore pro- cessionis ejus (ex utero)? Dicit ei Rabbi: a tempore for- mationis ejus.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/103>, abgerufen am 28.03.2024.