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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
serer drei Erzählungen sich entschieden hat, so hat sie
zugleich den Berichten des Markus und Lukas, ihrer grös-
seren Anschaulichkeit wegen, den Vorzug gegeben 2). Al-
lein, gleich von vorne, wenn doch von Markus Jeder zu-
geben wird, dass sein Zusaz: alla mallon eis to khei-
ron elthousa, als Ausmalung des ouk iskhusen up oudenos the-
rapeuthenai bei Lukas, auf seine eigene Rechnung kommt:
so scheint dieser Zug bei Lukas gleichfalls nur eine selbst-
erschlossene Ergänzung des aimoRRoousa dodeka ete zu sein,
welches Matthäus ohne Zusaz wiedergiebt. War die Frau
so lange krank, dachte man, so wird sie in dieser Zeit
viel mit Ärzten zu thun gehabt haben, und weil zugleich
im Contrast gegen die Ärzte, welche nichts ausgerichtet
hatten, die Wundermacht Jesu, welche augenblicklich
Hülfe schaffte, in um so glänzenderem Lichte erschien: so
bildeten sich in der Sage oder bei den Referenten jene
Zusätze. Wie nun, wenn es mit den übrigen Differenzen
sich ebenso verhielte? Dass die Frau auch nach Matthäus
Jesum nur von hinten berührte, drückte das Bestreben und
die Hoffnung aus, verborgen zu bleiben; dass Jesus sich
sogleich nach ihr umsah, darin lag, dass er ihre Berüh-
rung gefühlt haben musste. Jene Hoffnung der Frau wurde
erklärlicher und dieses Gefühl Jesu um so wundervoller,
je mehr Menschen Jesum umgaben und drängten: daher
wurde aus dem Geleite der mathetai bei Matthäus von den
beiden andern ein sunthlibesthai durch die okhloi gemacht.
Da zugleich in dem auch von Matthäus erwähnten Um-
schauen Jesu nach der Berührung die Voraussetzung lag,
dass er diese auf eigenthümliche Weise empfunden habe,
so bildete sich weiterhin die Scene aus, wie Jesus, ob-
gleich von allen Seiten gedrängt, doch jene einzelne Be-
rührung an der Kraft, die sie ihm entlockte, herausfühlt,
und so wurde das einfache episrapheis kai idon auten des

2) Schulz, a. a. O. S. 317; Olshausen, 1, S. 322.

Zweiter Abschnitt.
serer drei Erzählungen sich entschieden hat, so hat sie
zugleich den Berichten des Markus und Lukas, ihrer grös-
seren Anschaulichkeit wegen, den Vorzug gegeben 2). Al-
lein, gleich von vorne, wenn doch von Markus Jeder zu-
geben wird, daſs sein Zusaz: ἀλλὰ μᾶλλον εἰς τὸ χεῖ-
ρον ἐλϑοῦσα, als Ausmalung des οὐκ ἴσχυσεν ὑπ̕ οὐδενὸς ϑε-
ραπευϑῆναι bei Lukas, auf seine eigene Rechnung kommt:
so scheint dieser Zug bei Lukas gleichfalls nur eine selbst-
erschlossene Ergänzung des αἱμοῤῥοοῦσα δώδεκα ἔτη zu sein,
welches Matthäus ohne Zusaz wiedergiebt. War die Frau
so lange krank, dachte man, so wird sie in dieser Zeit
viel mit Ärzten zu thun gehabt haben, und weil zugleich
im Contrast gegen die Ärzte, welche nichts ausgerichtet
hatten, die Wundermacht Jesu, welche augenblicklich
Hülfe schaffte, in um so glänzenderem Lichte erschien: so
bildeten sich in der Sage oder bei den Referenten jene
Zusätze. Wie nun, wenn es mit den übrigen Differenzen
sich ebenso verhielte? Daſs die Frau auch nach Matthäus
Jesum nur von hinten berührte, drückte das Bestreben und
die Hoffnung aus, verborgen zu bleiben; daſs Jesus sich
sogleich nach ihr umsah, darin lag, daſs er ihre Berüh-
rung gefühlt haben muſste. Jene Hoffnung der Frau wurde
erklärlicher und dieses Gefühl Jesu um so wundervoller,
je mehr Menschen Jesum umgaben und drängten: daher
wurde aus dem Geleite der μαϑηταὶ bei Matthäus von den
beiden andern ein συνϑλίβεσϑαι durch die ὄχλοι gemacht.
Da zugleich in dem auch von Matthäus erwähnten Um-
schauen Jesu nach der Berührung die Voraussetzung lag,
daſs er diese auf eigenthümliche Weise empfunden habe,
so bildete sich weiterhin die Scene aus, wie Jesus, ob-
gleich von allen Seiten gedrängt, doch jene einzelne Be-
rührung an der Kraft, die sie ihm entlockte, herausfühlt,
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[96/0115] Zweiter Abschnitt. serer drei Erzählungen sich entschieden hat, so hat sie zugleich den Berichten des Markus und Lukas, ihrer grös- seren Anschaulichkeit wegen, den Vorzug gegeben 2). Al- lein, gleich von vorne, wenn doch von Markus Jeder zu- geben wird, daſs sein Zusaz: ἀλλὰ μᾶλλον εἰς τὸ χεῖ- ρον ἐλϑοῦσα, als Ausmalung des οὐκ ἴσχυσεν ὑπ̕ οὐδενὸς ϑε- ραπευϑῆναι bei Lukas, auf seine eigene Rechnung kommt: so scheint dieser Zug bei Lukas gleichfalls nur eine selbst- erschlossene Ergänzung des αἱμοῤῥοοῦσα δώδεκα ἔτη zu sein, welches Matthäus ohne Zusaz wiedergiebt. War die Frau so lange krank, dachte man, so wird sie in dieser Zeit viel mit Ärzten zu thun gehabt haben, und weil zugleich im Contrast gegen die Ärzte, welche nichts ausgerichtet hatten, die Wundermacht Jesu, welche augenblicklich Hülfe schaffte, in um so glänzenderem Lichte erschien: so bildeten sich in der Sage oder bei den Referenten jene Zusätze. Wie nun, wenn es mit den übrigen Differenzen sich ebenso verhielte? Daſs die Frau auch nach Matthäus Jesum nur von hinten berührte, drückte das Bestreben und die Hoffnung aus, verborgen zu bleiben; daſs Jesus sich sogleich nach ihr umsah, darin lag, daſs er ihre Berüh- rung gefühlt haben muſste. Jene Hoffnung der Frau wurde erklärlicher und dieses Gefühl Jesu um so wundervoller, je mehr Menschen Jesum umgaben und drängten: daher wurde aus dem Geleite der μαϑηταὶ bei Matthäus von den beiden andern ein συνϑλίβεσϑαι durch die ὄχλοι gemacht. Da zugleich in dem auch von Matthäus erwähnten Um- schauen Jesu nach der Berührung die Voraussetzung lag, daſs er diese auf eigenthümliche Weise empfunden habe, so bildete sich weiterhin die Scene aus, wie Jesus, ob- gleich von allen Seiten gedrängt, doch jene einzelne Be- rührung an der Kraft, die sie ihm entlockte, herausfühlt, und so wurde das einfache ἐπιςραφεὶς καὶ ἰδὼν αὐτὴν des 2) Schulz, a. a. O. S. 317; Olshausen, 1, S. 322.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/115>, abgerufen am 29.03.2024.