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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zehntes Kapitel. §. 101.
nicht erst haben, da der einstimmigen Angabe der Synop-
tiker zufolge schon eine Woche vorher er selbst es voraus-
gesagt hatte (Matth. 16, 21 parall.). Daher vermuthet man,
durch Moses und Elias sei Jesus nur von den näheren
Umständen und Verhältnissen seines Todes genauer unter-
richtet worden 4); allein einerseits ist es der Stellung,
welche die Evangelien Jesu zu den alten Propheten geben,
nicht angemessen, dass er von ihnen Belehrung bedurft
haben soll, andrerseits hatte Jesus schon früher sein Lei-
den mit so genauen Zügen vorhergesagt, dass die speciel-
leren Eröffnungen aus der Geisterwelt nur etwa das pa-
radidosthai tois ethnesin und emptuesthai, wovon er erst
später sagt (Matth. 20, 19. Marc. 10, 34.), betroffen haben
könnten. Oder sollte die an Jesum zu machende Mitthei-
lung nicht sowohl in einer Belehrung, als in einer Stär-
kung für sein bevorstehendes Leiden bestehen: so ist um
diese Zeit noch keine Spur eines Gemüthszustands bei Je-
su vorhanden, welcher einen Beistand dieser Art zu er-
heischen scheinen konnte; für das spätere Leiden aber
hätte diese so frühe Stärkung doch nicht hingereicht, wie
wir daraus sehen, dass in Gethsemane eine weitere nöthig
war. Werden wir so, wiewohl bereits gegen die Anlage
des Textes, zu dem Versuch veranlasst, ob sich der Er-
scheinung nicht vielleicht eine Beziehung auf die Jünger
geben lasse, so reicht der Zweck der Glaubensstärkung
überhaupt zur Begründung einer so besondern Veranstal-
tung theils als zu allgemein nicht aus, theils müsste Jesus
in der Parabel vom reichen. Mann den leitenden Grundsaz
der göttlichen Fügungen in dieser Beziehung falsch gedeu-
tet haben, wenn er ihn dahin aussprach, dass, wer den
Schriften des Mosses und der Propheten -- und wie viel
mehr, wer dem gegenwärtigen Christus -- kein Gehör
schenke, auch durch einen wiederkehrenden Todten nicht

4) Olshausen, a. a. O. S. 537.

Zehntes Kapitel. §. 101.
nicht erst haben, da der einstimmigen Angabe der Synop-
tiker zufolge schon eine Woche vorher er selbst es voraus-
gesagt hatte (Matth. 16, 21 parall.). Daher vermuthet man,
durch Moses und Elias sei Jesus nur von den näheren
Umständen und Verhältnissen seines Todes genauer unter-
richtet worden 4); allein einerseits ist es der Stellung,
welche die Evangelien Jesu zu den alten Propheten geben,
nicht angemessen, daſs er von ihnen Belehrung bedurft
haben soll, andrerseits hatte Jesus schon früher sein Lei-
den mit so genauen Zügen vorhergesagt, daſs die speciel-
leren Eröffnungen aus der Geisterwelt nur etwa das πα-
ραδίδοσϑαι τοῖς ἔϑνεσιν und ἐμπτύεσϑαι, wovon er erst
später sagt (Matth. 20, 19. Marc. 10, 34.), betroffen haben
könnten. Oder sollte die an Jesum zu machende Mitthei-
lung nicht sowohl in einer Belehrung, als in einer Stär-
kung für sein bevorstehendes Leiden bestehen: so ist um
diese Zeit noch keine Spur eines Gemüthszustands bei Je-
su vorhanden, welcher einen Beistand dieser Art zu er-
heischen scheinen konnte; für das spätere Leiden aber
hätte diese so frühe Stärkung doch nicht hingereicht, wie
wir daraus sehen, daſs in Gethsemane eine weitere nöthig
war. Werden wir so, wiewohl bereits gegen die Anlage
des Textes, zu dem Versuch veranlaſst, ob sich der Er-
scheinung nicht vielleicht eine Beziehung auf die Jünger
geben lasse, so reicht der Zweck der Glaubensstärkung
überhaupt zur Begründung einer so besondern Veranstal-
tung theils als zu allgemein nicht aus, theils müſste Jesus
in der Parabel vom reichen. Mann den leitenden Grundsaz
der göttlichen Fügungen in dieser Beziehung falsch gedeu-
tet haben, wenn er ihn dahin aussprach, daſs, wer den
Schriften des Mosses und der Propheten — und wie viel
mehr, wer dem gegenwärtigen Christus — kein Gehör
schenke, auch durch einen wiederkehrenden Todten nicht

4) Olshausen, a. a. O. S. 537.
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[255/0274] Zehntes Kapitel. §. 101. nicht erst haben, da der einstimmigen Angabe der Synop- tiker zufolge schon eine Woche vorher er selbst es voraus- gesagt hatte (Matth. 16, 21 parall.). Daher vermuthet man, durch Moses und Elias sei Jesus nur von den näheren Umständen und Verhältnissen seines Todes genauer unter- richtet worden 4); allein einerseits ist es der Stellung, welche die Evangelien Jesu zu den alten Propheten geben, nicht angemessen, daſs er von ihnen Belehrung bedurft haben soll, andrerseits hatte Jesus schon früher sein Lei- den mit so genauen Zügen vorhergesagt, daſs die speciel- leren Eröffnungen aus der Geisterwelt nur etwa das πα- ραδίδοσϑαι τοῖς ἔϑνεσιν und ἐμπτύεσϑαι, wovon er erst später sagt (Matth. 20, 19. Marc. 10, 34.), betroffen haben könnten. Oder sollte die an Jesum zu machende Mitthei- lung nicht sowohl in einer Belehrung, als in einer Stär- kung für sein bevorstehendes Leiden bestehen: so ist um diese Zeit noch keine Spur eines Gemüthszustands bei Je- su vorhanden, welcher einen Beistand dieser Art zu er- heischen scheinen konnte; für das spätere Leiden aber hätte diese so frühe Stärkung doch nicht hingereicht, wie wir daraus sehen, daſs in Gethsemane eine weitere nöthig war. Werden wir so, wiewohl bereits gegen die Anlage des Textes, zu dem Versuch veranlaſst, ob sich der Er- scheinung nicht vielleicht eine Beziehung auf die Jünger geben lasse, so reicht der Zweck der Glaubensstärkung überhaupt zur Begründung einer so besondern Veranstal- tung theils als zu allgemein nicht aus, theils müſste Jesus in der Parabel vom reichen. Mann den leitenden Grundsaz der göttlichen Fügungen in dieser Beziehung falsch gedeu- tet haben, wenn er ihn dahin aussprach, daſs, wer den Schriften des Mosses und der Propheten — und wie viel mehr, wer dem gegenwärtigen Christus — kein Gehör schenke, auch durch einen wiederkehrenden Todten nicht 4) Olshausen, a. a. O. S. 537.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/274>, abgerufen am 29.03.2024.