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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
Evangelien, vielmehr jene rein und ursprünglich jüdische
Vorstellung als die ihrige voraussetzen.

Die ältere Theologie nun hat bekanntlich, in Betracht
der Auktorität Jesu und der Evangelisten, die Ansicht
von einem wirklichen Besessensein jener Menschen durch
Dämonen zu der ihrigen gemacht. Die neuere Theologie
dagegen, besonders seit Semler 26), in Betracht der auf-
fallenden Ähnlichkeit, welche zwischen dem Zustand der
neutestamentlichen Dämonischen und mancher natürlich
Kranken unsrer Zeit stattfindet, hat angefangen, auch
das Übel von jenen aus natürlichen Ursachen abzuleiten,
und die im N. T. vorausgesezte übernatürliche Ursache
auf Rechnung der Vorstellungen jener Zeit zu schreiben.
Dass, wo in jetziger Zeit Epilepsie, Wahnsinn und selbst
eine, dem Zustand der neutestamentlichen Besessenen ähn-
liche Alteration des Selbstbewusstseins vorkommen, doch
nicht leicht mehr an dämonischen Einfluss gedacht wird,
hat seinen Grund einerseits darin, dass der fortgeschrittenen
Natur- und Seelenkunde jezt mehr Mittel und Anknü-
pfungspunkte zur natürlichen Erklärung jener Zustände
zu Gebote stehen, theils darin, dass man die Widersprü-
che, welche in der Vorstellung des Besessenseins liegen,
wenigstens dunkel zu erkennen angefangen hat. Denn
abgesehen von den oben auseinandergesezten Schwierig-
keiten, welche die Annahme der Existenz von Teufel und
Dämonen überhaupt drücken, so mag man sich das Ver-
hältniss zwischen dem Selbstbewusstsein und den leibli-
chen Organen denken wie man will, immer ist doch das
schlechterdings nicht vorzustellen, wie das Band zwischen
beiden so lose sein sollte, dass ein fremdes Selbstbewusst-

26) s. dessen Commentatio de daemoniacis quorum in N. T. fit
mentio, und umständliche Untersuchung der dämonischen Leu-
te. -- Schon zu Origenes Zeit geben übrigens die Ärzte von
dem Zustand der angeblich Besessenen natürliche Erklärun-
gen, s. Orig. in Matth. 17, 15.

Zweiter Abschnitt.
Evangelien, vielmehr jene rein und ursprünglich jüdische
Vorstellung als die ihrige voraussetzen.

Die ältere Theologie nun hat bekanntlich, in Betracht
der Auktorität Jesu und der Evangelisten, die Ansicht
von einem wirklichen Besessensein jener Menschen durch
Dämonen zu der ihrigen gemacht. Die neuere Theologie
dagegen, besonders seit Semler 26), in Betracht der auf-
fallenden Ähnlichkeit, welche zwischen dem Zustand der
neutestamentlichen Dämonischen und mancher natürlich
Kranken unsrer Zeit stattfindet, hat angefangen, auch
das Übel von jenen aus natürlichen Ursachen abzuleiten,
und die im N. T. vorausgesezte übernatürliche Ursache
auf Rechnung der Vorstellungen jener Zeit zu schreiben.
Daſs, wo in jetziger Zeit Epilepsie, Wahnsinn und selbst
eine, dem Zustand der neutestamentlichen Besessenen ähn-
liche Alteration des Selbstbewusstseins vorkommen, doch
nicht leicht mehr an dämonischen Einfluſs gedacht wird,
hat seinen Grund einerseits darin, daſs der fortgeschrittenen
Natur- und Seelenkunde jezt mehr Mittel und Anknü-
pfungspunkte zur natürlichen Erklärung jener Zustände
zu Gebote stehen, theils darin, daſs man die Widersprü-
che, welche in der Vorstellung des Besessenseins liegen,
wenigstens dunkel zu erkennen angefangen hat. Denn
abgesehen von den oben auseinandergesezten Schwierig-
keiten, welche die Annahme der Existenz von Teufel und
Dämonen überhaupt drücken, so mag man sich das Ver-
hältniſs zwischen dem Selbstbewuſstsein und den leibli-
chen Organen denken wie man will, immer ist doch das
schlechterdings nicht vorzustellen, wie das Band zwischen
beiden so lose sein sollte, daſs ein fremdes Selbstbewuſst-

26) s. dessen Commentatio de daemoniacis quorum in N. T. fit
mentio, und umständliche Untersuchung der dämonischen Leu-
te. — Schon zu Origenes Zeit geben übrigens die Ärzte von
dem Zustand der angeblich Besessenen natürliche Erklärun-
gen, s. Orig. in Matth. 17, 15.
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[14/0033] Zweiter Abschnitt. Evangelien, vielmehr jene rein und ursprünglich jüdische Vorstellung als die ihrige voraussetzen. Die ältere Theologie nun hat bekanntlich, in Betracht der Auktorität Jesu und der Evangelisten, die Ansicht von einem wirklichen Besessensein jener Menschen durch Dämonen zu der ihrigen gemacht. Die neuere Theologie dagegen, besonders seit Semler 26), in Betracht der auf- fallenden Ähnlichkeit, welche zwischen dem Zustand der neutestamentlichen Dämonischen und mancher natürlich Kranken unsrer Zeit stattfindet, hat angefangen, auch das Übel von jenen aus natürlichen Ursachen abzuleiten, und die im N. T. vorausgesezte übernatürliche Ursache auf Rechnung der Vorstellungen jener Zeit zu schreiben. Daſs, wo in jetziger Zeit Epilepsie, Wahnsinn und selbst eine, dem Zustand der neutestamentlichen Besessenen ähn- liche Alteration des Selbstbewusstseins vorkommen, doch nicht leicht mehr an dämonischen Einfluſs gedacht wird, hat seinen Grund einerseits darin, daſs der fortgeschrittenen Natur- und Seelenkunde jezt mehr Mittel und Anknü- pfungspunkte zur natürlichen Erklärung jener Zustände zu Gebote stehen, theils darin, daſs man die Widersprü- che, welche in der Vorstellung des Besessenseins liegen, wenigstens dunkel zu erkennen angefangen hat. Denn abgesehen von den oben auseinandergesezten Schwierig- keiten, welche die Annahme der Existenz von Teufel und Dämonen überhaupt drücken, so mag man sich das Ver- hältniſs zwischen dem Selbstbewuſstsein und den leibli- chen Organen denken wie man will, immer ist doch das schlechterdings nicht vorzustellen, wie das Band zwischen beiden so lose sein sollte, daſs ein fremdes Selbstbewuſst- 26) s. dessen Commentatio de daemoniacis quorum in N. T. fit mentio, und umständliche Untersuchung der dämonischen Leu- te. — Schon zu Origenes Zeit geben übrigens die Ärzte von dem Zustand der angeblich Besessenen natürliche Erklärun- gen, s. Orig. in Matth. 17, 15.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/33>, abgerufen am 19.04.2024.