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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
machten Unterscheidung bleibt uns Olshausen, wie sich
von selbst versteht, schuldig. Wo hätten auch die dama-
ligen Juden die Kenntniss der verborgenen natürlichen
Ursachen solcher Zustände hergenommen, wo die Krite-
rien, einen durch Missbildung des Gehirns entstandenen
Wahnsinn oder Blödsinn von psychologisch verursachtem
zu unterscheiden? Waren sie nicht ganz und gar auf
die äussere Erscheinung und zwar in ihren gröberen Um-
rissen, angewiesen? Diese aber ist bei einem Epileptischen
mit seinem plözlichen unvorhergesehenen Niederstürzen und
seinen Convulsionen, bei einem Wahnsinnigen mit seinem
Irrereden, namentlich wenn er, durch Rückwirkung der
Volksvorstellungen auf seinen Zustand, in der Person ei-
nes Dritten spricht, von der Art, dass sie auf eine fremde
den Menschen beherrschende Macht hinweist, und dass folg-
lich sobald einmal der Glaube an dämonische Besitzungen
im Volke gegeben ist, alle dergleichen Zustände auf solche
zurückgeführt werden werden, wie wir diess im N. T. fin-
den; wogegen bei Stummheit und gichtischer Verkrümmung
oder Lähmung die Herrschaft einer fremden Macht schon
weniger entschieden indicirt ist, und diese Leiden also
bald gleichfalls einem besitzenden Dämon zugeschrieben
werden können, bald auch nicht, wie wir jenes bei den
schon erwähnten Stummen Matth. 9, 32. 12, 22. und bei
der verkrümmten Frau, Luc. 13, 11, dieses bei dem kophos
mogilalos Marc. 7, 32 ff. und bei den mancherlei Paralyti-
schen, deren in den Evangelien gedacht wird, finden; wo-
bei übrigens die Entscheidung für die eine oder andre An-
sicht gewiss nicht von Erforschung der Entstehungsweise,
sondern lediglich von der äussern Erscheinung ausgegan-
gen ist. Haben demnach die Juden, und mit ihnen die
Evangelisten, die beiden Hauptarten der hiehergehörigen
Zustände auf dämonischen Einfluss zurückgeführt, so bleibt
für den, der sich durch ihre Ansicht gebunden glaubt, oh-
ne sich doch der Bildung unsrer Zeit entziehen zu wollen,

Zweiter Abschnitt.
machten Unterscheidung bleibt uns Olshausen, wie sich
von selbst versteht, schuldig. Wo hätten auch die dama-
ligen Juden die Kenntniſs der verborgenen natürlichen
Ursachen solcher Zustände hergenommen, wo die Krite-
rien, einen durch Miſsbildung des Gehirns entstandenen
Wahnsinn oder Blödsinn von psychologisch verursachtem
zu unterscheiden? Waren sie nicht ganz und gar auf
die äussere Erscheinung und zwar in ihren gröberen Um-
rissen, angewiesen? Diese aber ist bei einem Epileptischen
mit seinem plözlichen unvorhergesehenen Niederstürzen und
seinen Convulsionen, bei einem Wahnsinnigen mit seinem
Irrereden, namentlich wenn er, durch Rückwirkung der
Volksvorstellungen auf seinen Zustand, in der Person ei-
nes Dritten spricht, von der Art, daſs sie auf eine fremde
den Menschen beherrschende Macht hinweist, und daſs folg-
lich sobald einmal der Glaube an dämonische Besitzungen
im Volke gegeben ist, alle dergleichen Zustände auf solche
zurückgeführt werden werden, wie wir dieſs im N. T. fin-
den; wogegen bei Stummheit und gichtischer Verkrümmung
oder Lähmung die Herrschaft einer fremden Macht schon
weniger entschieden indicirt ist, und diese Leiden also
bald gleichfalls einem besitzenden Dämon zugeschrieben
werden können, bald auch nicht, wie wir jenes bei den
schon erwähnten Stummen Matth. 9, 32. 12, 22. und bei
der verkrümmten Frau, Luc. 13, 11, dieses bei dem κωφὸς
μογιλάλος Marc. 7, 32 ff. und bei den mancherlei Paralyti-
schen, deren in den Evangelien gedacht wird, finden; wo-
bei übrigens die Entscheidung für die eine oder andre An-
sicht gewiſs nicht von Erforschung der Entstehungsweise,
sondern lediglich von der äussern Erscheinung ausgegan-
gen ist. Haben demnach die Juden, und mit ihnen die
Evangelisten, die beiden Hauptarten der hiehergehörigen
Zustände auf dämonischen Einfluſs zurückgeführt, so bleibt
für den, der sich durch ihre Ansicht gebunden glaubt, oh-
ne sich doch der Bildung unsrer Zeit entziehen zu wollen,

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[16/0035] Zweiter Abschnitt. machten Unterscheidung bleibt uns Olshausen, wie sich von selbst versteht, schuldig. Wo hätten auch die dama- ligen Juden die Kenntniſs der verborgenen natürlichen Ursachen solcher Zustände hergenommen, wo die Krite- rien, einen durch Miſsbildung des Gehirns entstandenen Wahnsinn oder Blödsinn von psychologisch verursachtem zu unterscheiden? Waren sie nicht ganz und gar auf die äussere Erscheinung und zwar in ihren gröberen Um- rissen, angewiesen? Diese aber ist bei einem Epileptischen mit seinem plözlichen unvorhergesehenen Niederstürzen und seinen Convulsionen, bei einem Wahnsinnigen mit seinem Irrereden, namentlich wenn er, durch Rückwirkung der Volksvorstellungen auf seinen Zustand, in der Person ei- nes Dritten spricht, von der Art, daſs sie auf eine fremde den Menschen beherrschende Macht hinweist, und daſs folg- lich sobald einmal der Glaube an dämonische Besitzungen im Volke gegeben ist, alle dergleichen Zustände auf solche zurückgeführt werden werden, wie wir dieſs im N. T. fin- den; wogegen bei Stummheit und gichtischer Verkrümmung oder Lähmung die Herrschaft einer fremden Macht schon weniger entschieden indicirt ist, und diese Leiden also bald gleichfalls einem besitzenden Dämon zugeschrieben werden können, bald auch nicht, wie wir jenes bei den schon erwähnten Stummen Matth. 9, 32. 12, 22. und bei der verkrümmten Frau, Luc. 13, 11, dieses bei dem κωφὸς μογιλάλος Marc. 7, 32 ff. und bei den mancherlei Paralyti- schen, deren in den Evangelien gedacht wird, finden; wo- bei übrigens die Entscheidung für die eine oder andre An- sicht gewiſs nicht von Erforschung der Entstehungsweise, sondern lediglich von der äussern Erscheinung ausgegan- gen ist. Haben demnach die Juden, und mit ihnen die Evangelisten, die beiden Hauptarten der hiehergehörigen Zustände auf dämonischen Einfluſs zurückgeführt, so bleibt für den, der sich durch ihre Ansicht gebunden glaubt, oh- ne sich doch der Bildung unsrer Zeit entziehen zu wollen,

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/35>, abgerufen am 28.03.2024.