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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
spectivischen Schauen soll nun auch auf Jesum, nament-
lich in Bezug auf die vorliegenden Reden, ihre Anwen-
dung finden 1). Allein, was Paulus schlagend bemerkt
hat 2), wie derjenige, welcher in einer äusserlich gegebe-
nen Perspective die Distanzen nicht zu unterscheiden weiss,
sich in einer optischen Täuschung befindet, d. h. irrt:
ebenso wird bei einer innerlichen Perspective von Vorstel-
lungen, wenn es so etwas giebt, das Übersehen der Di-
stanzen ein Irrthum genannt werden müssen, und es zeigt
somit diese Theorie nicht, dass jene Männer nicht geirrt
haben, sondern erklärt vielmehr nur, wie sie leicht irren
konnten. Auch Olshausen hält daher diese, von ihm sonst
adoptirte Betrachtungsweise nicht für zureichend, in ge-
genwärtigem Fall allen Schein des Irrthums von Jesu zu ent-
fernen, und sucht desswegen aus der eigenthümlichen Natur
des Faktums, von dessen Voraussage es sich handelt, noch
besondere Rechtfertigungsgründe abzuleiten 3). Für's Erste
soll es zur ethischen Bedeutsamkeit der Lehre von Christi
Wiederkunft gehören, dass diese jeden Augenblick für
möglich, ja wahrscheinlich, gehalten werde. Allein hiedurch
sind bloss Äusserungen, wie Matth. 24, 37 ff. gerechtfer-
tigt, wo Jesus zur Wachsamkeit ermahnt, weil Niemand
wissen könne, wie bald der entscheidende Augenblick kom-
me; keineswegs aber solche, wie 24, 34, wo er versichert,
noch vor Ablauf eines Menschenalters werde alles in Er-
füllung gehen; denn das Mögliche denkt sich, wer eine
richtige Vorstellung hat, eben als möglich, das Wahrschein-
liche als wahrscheinlich, und wenn er bei der Wahrheit
bleiben will, stellt er es eben so dar: wer hingegen das
nur Mögliche oder Wahrscheinliche als Wirkliches sich
vorstellt, der irrt, und wer es, ohne es selbst so vorzu-

1) Hengstenberg, Christologie des A. T., 1, a, S. 305 ff.
2) ex. Handb. 3, a, S. 403.
3) b. Comm. 1, S. 874 ff.

Dritter Abschnitt.
spectivischen Schauen soll nun auch auf Jesum, nament-
lich in Bezug auf die vorliegenden Reden, ihre Anwen-
dung finden 1). Allein, was Paulus schlagend bemerkt
hat 2), wie derjenige, welcher in einer äusserlich gegebe-
nen Perspective die Distanzen nicht zu unterscheiden weiſs,
sich in einer optischen Täuschung befindet, d. h. irrt:
ebenso wird bei einer innerlichen Perspective von Vorstel-
lungen, wenn es so etwas giebt, das Übersehen der Di-
stanzen ein Irrthum genannt werden müssen, und es zeigt
somit diese Theorie nicht, daſs jene Männer nicht geirrt
haben, sondern erklärt vielmehr nur, wie sie leicht irren
konnten. Auch Olshausen hält daher diese, von ihm sonst
adoptirte Betrachtungsweise nicht für zureichend, in ge-
genwärtigem Fall allen Schein des Irrthums von Jesu zu ent-
fernen, und sucht deſswegen aus der eigenthümlichen Natur
des Faktums, von dessen Voraussage es sich handelt, noch
besondere Rechtfertigungsgründe abzuleiten 3). Für's Erste
soll es zur ethischen Bedeutsamkeit der Lehre von Christi
Wiederkunft gehören, daſs diese jeden Augenblick für
möglich, ja wahrscheinlich, gehalten werde. Allein hiedurch
sind bloſs Äusserungen, wie Matth. 24, 37 ff. gerechtfer-
tigt, wo Jesus zur Wachsamkeit ermahnt, weil Niemand
wissen könne, wie bald der entscheidende Augenblick kom-
me; keineswegs aber solche, wie 24, 34, wo er versichert,
noch vor Ablauf eines Menschenalters werde alles in Er-
füllung gehen; denn das Mögliche denkt sich, wer eine
richtige Vorstellung hat, eben als möglich, das Wahrschein-
liche als wahrscheinlich, und wenn er bei der Wahrheit
bleiben will, stellt er es eben so dar: wer hingegen das
nur Mögliche oder Wahrscheinliche als Wirkliches sich
vorstellt, der irrt, und wer es, ohne es selbst so vorzu-

1) Hengstenberg, Christologie des A. T., 1, a, S. 305 ff.
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[356/0375] Dritter Abschnitt. spectivischen Schauen soll nun auch auf Jesum, nament- lich in Bezug auf die vorliegenden Reden, ihre Anwen- dung finden 1). Allein, was Paulus schlagend bemerkt hat 2), wie derjenige, welcher in einer äusserlich gegebe- nen Perspective die Distanzen nicht zu unterscheiden weiſs, sich in einer optischen Täuschung befindet, d. h. irrt: ebenso wird bei einer innerlichen Perspective von Vorstel- lungen, wenn es so etwas giebt, das Übersehen der Di- stanzen ein Irrthum genannt werden müssen, und es zeigt somit diese Theorie nicht, daſs jene Männer nicht geirrt haben, sondern erklärt vielmehr nur, wie sie leicht irren konnten. Auch Olshausen hält daher diese, von ihm sonst adoptirte Betrachtungsweise nicht für zureichend, in ge- genwärtigem Fall allen Schein des Irrthums von Jesu zu ent- fernen, und sucht deſswegen aus der eigenthümlichen Natur des Faktums, von dessen Voraussage es sich handelt, noch besondere Rechtfertigungsgründe abzuleiten 3). Für's Erste soll es zur ethischen Bedeutsamkeit der Lehre von Christi Wiederkunft gehören, daſs diese jeden Augenblick für möglich, ja wahrscheinlich, gehalten werde. Allein hiedurch sind bloſs Äusserungen, wie Matth. 24, 37 ff. gerechtfer- tigt, wo Jesus zur Wachsamkeit ermahnt, weil Niemand wissen könne, wie bald der entscheidende Augenblick kom- me; keineswegs aber solche, wie 24, 34, wo er versichert, noch vor Ablauf eines Menschenalters werde alles in Er- füllung gehen; denn das Mögliche denkt sich, wer eine richtige Vorstellung hat, eben als möglich, das Wahrschein- liche als wahrscheinlich, und wenn er bei der Wahrheit bleiben will, stellt er es eben so dar: wer hingegen das nur Mögliche oder Wahrscheinliche als Wirkliches sich vorstellt, der irrt, und wer es, ohne es selbst so vorzu- 1) Hengstenberg, Christologie des A. T., 1, a, S. 305 ff. 2) ex. Handb. 3, a, S. 403. 3) b. Comm. 1, S. 874 ff.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/375>, abgerufen am 28.03.2024.