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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweites Kapitel. §. 114.
beschlossen worden war, die Festzeit erst vorübergehen zu
lassen, weil eine in diesen Tagen an Jesu verübte Gewalt-
that unter der Masse ihm günstiger Festbesucher leicht ei-
nen Aufstand erregen konnte (Matth. 26, 5. Marc. 14, 2.):
so wurde diese Rücksicht doch durch die Leichtigkeit über-
wogen, mit welcher einer seiner Jünger ihn in ihre Hän-
de zu liefern sich anheischig machte. Judas nämlich, oh-
ne Zweifel von seiner Abstammung aus der judäische Stadt
Kerioth (Jos. 15, 25.) Iskariotes genannt, gieng den Syn-
optikern zufolge wenige Tage vor dem Paschafest zu den
Vorstehern der Priesterschaft, und erbot sich, Jesum ih-
nen in der Stille zu überliefern, wofür sie ihm Geld, nach
Matthäus dreissig Silbersekel (arguria), versprachen (Matth.
26, 14 ff. parall.). Von einer solchen vorläufigen Verhand-
lung des Judas mit den Feinden Jesu meldet das vierte
Evangelium nicht nur nichts, sondern scheint auch sonst
die Sache so darzustellen, als hätte Judas erst bei der lez-
ten Mahlzeit den Entschluss gefasst und sogleich ausge-
führt, Jesum an die Priesterschaft zu verrathen. Dassel-
be eiselthein des Satan in Judas nämlich, welches Lukas
(22, 3.) vor seinen ersten Gang zu den Hohenpriestern, und
ehe noch zum Paschafest Anstalt gemacht ist, sezt, lässt
der Verfasser des vierten Evangeliums bei diesem Mahle
eintreten, ehe Judas die Gesellschaft verliess (13, 27.):
zum Beweis, wie es scheint, dass nach der Ansicht dieses
Evangelisten Judas erst jezt den verrätherischen Gang ge-
macht hat. Zwar schon vor dem Mahle, bemerkt derselbe
(13, 2.), habe der Teufel dem Judas in's Herz gegeben
gehabt, Jesum zu verrathen, und dieses tou diabolou beble-
kotos eis ten kardian wird gemeiniglich dem eiselthe sata-
nas bei Lukas gleichgesezt, und von dem Entschlusse zum
Verrath verstanden, in dessen Folge Judas zu den Hohen-
priestern gegangen sei: allein, war er schon damals mit
denselben einig geworden, so war der Verrath bereits voll-
zogen, und man weiss dann kaum, was das eiselthen eis

Zweites Kapitel. §. 114.
beschlossen worden war, die Festzeit erst vorübergehen zu
lassen, weil eine in diesen Tagen an Jesu verübte Gewalt-
that unter der Masse ihm günstiger Festbesucher leicht ei-
nen Aufstand erregen konnte (Matth. 26, 5. Marc. 14, 2.):
so wurde diese Rücksicht doch durch die Leichtigkeit über-
wogen, mit welcher einer seiner Jünger ihn in ihre Hän-
de zu liefern sich anheischig machte. Judas nämlich, oh-
ne Zweifel von seiner Abstammung aus der judäische Stadt
Kerioth (Jos. 15, 25.) Ἰσκαριώτης genannt, gieng den Syn-
optikern zufolge wenige Tage vor dem Paschafest zu den
Vorstehern der Priesterschaft, und erbot sich, Jesum ih-
nen in der Stille zu überliefern, wofür sie ihm Geld, nach
Matthäus dreissig Silbersekel (ἀργύρια), versprachen (Matth.
26, 14 ff. parall.). Von einer solchen vorläufigen Verhand-
lung des Judas mit den Feinden Jesu meldet das vierte
Evangelium nicht nur nichts, sondern scheint auch sonst
die Sache so darzustellen, als hätte Judas erst bei der lez-
ten Mahlzeit den Entschluſs gefaſst und sogleich ausge-
führt, Jesum an die Priesterschaft zu verrathen. Dassel-
be εἰσελϑεῖν des Satan in Judas nämlich, welches Lukas
(22, 3.) vor seinen ersten Gang zu den Hohenpriestern, und
ehe noch zum Paschafest Anstalt gemacht ist, sezt, läſst
der Verfasser des vierten Evangeliums bei diesem Mahle
eintreten, ehe Judas die Gesellschaft verlieſs (13, 27.):
zum Beweis, wie es scheint, daſs nach der Ansicht dieses
Evangelisten Judas erst jezt den verrätherischen Gang ge-
macht hat. Zwar schon vor dem Mahle, bemerkt derselbe
(13, 2.), habe der Teufel dem Judas in's Herz gegeben
gehabt, Jesum zu verrathen, und dieses τοῦ διαβόλου βεβλη-
κότος εἰς τὴν καρδίαν wird gemeiniglich dem εἰσῆλϑε σατα-
νᾶς bei Lukas gleichgesezt, und von dem Entschlusse zum
Verrath verstanden, in dessen Folge Judas zu den Hohen-
priestern gegangen sei: allein, war er schon damals mit
denselben einig geworden, so war der Verrath bereits voll-
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[381/0400] Zweites Kapitel. §. 114. beschlossen worden war, die Festzeit erst vorübergehen zu lassen, weil eine in diesen Tagen an Jesu verübte Gewalt- that unter der Masse ihm günstiger Festbesucher leicht ei- nen Aufstand erregen konnte (Matth. 26, 5. Marc. 14, 2.): so wurde diese Rücksicht doch durch die Leichtigkeit über- wogen, mit welcher einer seiner Jünger ihn in ihre Hän- de zu liefern sich anheischig machte. Judas nämlich, oh- ne Zweifel von seiner Abstammung aus der judäische Stadt Kerioth (Jos. 15, 25.) Ἰσκαριώτης genannt, gieng den Syn- optikern zufolge wenige Tage vor dem Paschafest zu den Vorstehern der Priesterschaft, und erbot sich, Jesum ih- nen in der Stille zu überliefern, wofür sie ihm Geld, nach Matthäus dreissig Silbersekel (ἀργύρια), versprachen (Matth. 26, 14 ff. parall.). Von einer solchen vorläufigen Verhand- lung des Judas mit den Feinden Jesu meldet das vierte Evangelium nicht nur nichts, sondern scheint auch sonst die Sache so darzustellen, als hätte Judas erst bei der lez- ten Mahlzeit den Entschluſs gefaſst und sogleich ausge- führt, Jesum an die Priesterschaft zu verrathen. Dassel- be εἰσελϑεῖν des Satan in Judas nämlich, welches Lukas (22, 3.) vor seinen ersten Gang zu den Hohenpriestern, und ehe noch zum Paschafest Anstalt gemacht ist, sezt, läſst der Verfasser des vierten Evangeliums bei diesem Mahle eintreten, ehe Judas die Gesellschaft verlieſs (13, 27.): zum Beweis, wie es scheint, daſs nach der Ansicht dieses Evangelisten Judas erst jezt den verrätherischen Gang ge- macht hat. Zwar schon vor dem Mahle, bemerkt derselbe (13, 2.), habe der Teufel dem Judas in's Herz gegeben gehabt, Jesum zu verrathen, und dieses τοῦ διαβόλου βεβλη- κότος εἰς τὴν καρδίαν wird gemeiniglich dem εἰσῆλϑε σατα- νᾶς bei Lukas gleichgesezt, und von dem Entschlusse zum Verrath verstanden, in dessen Folge Judas zu den Hohen- priestern gegangen sei: allein, war er schon damals mit denselben einig geworden, so war der Verrath bereits voll- zogen, und man weiſs dann kaum, was das εἰσῆλϑεν εἰς

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/400>, abgerufen am 18.04.2024.