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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
worden war, angekommen 20). Denn der erste Evangelist
lässt diess nicht etwa nur unbestimmt, sondern er spricht
ausdrücklich von einem Paschamahl, und so konnte sich
ein wirklicher Theilnehmer desselben, wenn er auch noch
so lange Zeit nach jenem Abend schrieb, unmöglich täu-
schen. Die Augenzeugenschaft des ersten Evangelisten al-
so wird man bei dieser Ansicht aufgeben, und ihn sammt
den beiden mittleren aus der Tradition schöpfen lassen
müssen 21). Der Anstoss daran, dass sämmtliche Synopti-
ker, also alle diejenigen, welche uns die vulgäre Evange-
lientradition der ersten Zeit aufbehalten haben, in einem
solchen Irrthum übereinstimmen sollen 22), lässt sich viel-
leicht durch die Bemerkung aus dem Wege räumen, dass,
so allgemein in den judenchristlichen Gemeinden, in wel-
chen doch die evangelische Überlieferung sich ursprünglich
gebildet hat, das jüdische Pascha noch mitgefeiert wurde,
so allgemein sich auch der Versuch darbieten musste, dem-
selben durch die Beziehung auf den Tod und das lezte
Mahl Jesu eine christliche Bedeutung zu geben.

Ebensowohl aber liesse sich, die Richtigkeit der syn-
optischen Zeitbestimmung vorausgesezt, denken, wie Jo-
hannes irrig dazukommen konnte, den Tod Jesu auf den
Nachmittag des 14ten Nisan, und seine lezte Mahlzeit auf
den Abend vorher zu verlegen. Wenn nämlich dieser
Evangelist in dem Umstand, dass dem gekreuzigten Chri-
stus die Beine nicht zerschlagen wurden, eine Erfüllung
des osoun ou suntribesetai auto (2 Mos. 12, 46.) findet:
so konnte ihn diese Beziehung des Todes Jesu auf das
Osterlamm zu der Vorstellung veranlassen, dass um die-
selbe Zeit, in welcher die Paschalämmer geschlachtet wur-

20) a. a. O. S. 167 ff.
21) Sieffert, a. a. O. S. 144 ff. Lücke, S. 628 ff.
22) Fritzsche, in Matth. p. 763. Kern, über den Ursprung des
Evang. Matth. in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 98.

Dritter Abschnitt.
worden war, angekommen 20). Denn der erste Evangelist
läſst dieſs nicht etwa nur unbestimmt, sondern er spricht
ausdrücklich von einem Paschamahl, und so konnte sich
ein wirklicher Theilnehmer desselben, wenn er auch noch
so lange Zeit nach jenem Abend schrieb, unmöglich täu-
schen. Die Augenzeugenschaft des ersten Evangelisten al-
so wird man bei dieser Ansicht aufgeben, und ihn sammt
den beiden mittleren aus der Tradition schöpfen lassen
müssen 21). Der Anstoſs daran, daſs sämmtliche Synopti-
ker, also alle diejenigen, welche uns die vulgäre Evange-
lientradition der ersten Zeit aufbehalten haben, in einem
solchen Irrthum übereinstimmen sollen 22), läſst sich viel-
leicht durch die Bemerkung aus dem Wege räumen, daſs,
so allgemein in den judenchristlichen Gemeinden, in wel-
chen doch die evangelische Überlieferung sich ursprünglich
gebildet hat, das jüdische Pascha noch mitgefeiert wurde,
so allgemein sich auch der Versuch darbieten muſste, dem-
selben durch die Beziehung auf den Tod und das lezte
Mahl Jesu eine christliche Bedeutung zu geben.

Ebensowohl aber lieſse sich, die Richtigkeit der syn-
optischen Zeitbestimmung vorausgesezt, denken, wie Jo-
hannes irrig dazukommen konnte, den Tod Jesu auf den
Nachmittag des 14ten Nisan, und seine lezte Mahlzeit auf
den Abend vorher zu verlegen. Wenn nämlich dieser
Evangelist in dem Umstand, daſs dem gekreuzigten Chri-
stus die Beine nicht zerschlagen wurden, eine Erfüllung
des ὀςοῦν ου συντριβήσεται αὐτῷ (2 Mos. 12, 46.) findet:
so konnte ihn diese Beziehung des Todes Jesu auf das
Osterlamm zu der Vorstellung veranlassen, daſs um die-
selbe Zeit, in welcher die Paschalämmer geschlachtet wur-

20) a. a. O. S. 167 ff.
21) Sieffert, a. a. O. S. 144 ff. Lücke, S. 628 ff.
22) Fritzsche, in Matth. p. 763. Kern, über den Ursprung des
Evang. Matth. in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 98.
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[414/0433] Dritter Abschnitt. worden war, angekommen 20). Denn der erste Evangelist läſst dieſs nicht etwa nur unbestimmt, sondern er spricht ausdrücklich von einem Paschamahl, und so konnte sich ein wirklicher Theilnehmer desselben, wenn er auch noch so lange Zeit nach jenem Abend schrieb, unmöglich täu- schen. Die Augenzeugenschaft des ersten Evangelisten al- so wird man bei dieser Ansicht aufgeben, und ihn sammt den beiden mittleren aus der Tradition schöpfen lassen müssen 21). Der Anstoſs daran, daſs sämmtliche Synopti- ker, also alle diejenigen, welche uns die vulgäre Evange- lientradition der ersten Zeit aufbehalten haben, in einem solchen Irrthum übereinstimmen sollen 22), läſst sich viel- leicht durch die Bemerkung aus dem Wege räumen, daſs, so allgemein in den judenchristlichen Gemeinden, in wel- chen doch die evangelische Überlieferung sich ursprünglich gebildet hat, das jüdische Pascha noch mitgefeiert wurde, so allgemein sich auch der Versuch darbieten muſste, dem- selben durch die Beziehung auf den Tod und das lezte Mahl Jesu eine christliche Bedeutung zu geben. Ebensowohl aber lieſse sich, die Richtigkeit der syn- optischen Zeitbestimmung vorausgesezt, denken, wie Jo- hannes irrig dazukommen konnte, den Tod Jesu auf den Nachmittag des 14ten Nisan, und seine lezte Mahlzeit auf den Abend vorher zu verlegen. Wenn nämlich dieser Evangelist in dem Umstand, daſs dem gekreuzigten Chri- stus die Beine nicht zerschlagen wurden, eine Erfüllung des ὀςοῦν ου συντριβήσεται αὐτῷ (2 Mos. 12, 46.) findet: so konnte ihn diese Beziehung des Todes Jesu auf das Osterlamm zu der Vorstellung veranlassen, daſs um die- selbe Zeit, in welcher die Paschalämmer geschlachtet wur- 20) a. a. O. S. 167 ff. 21) Sieffert, a. a. O. S. 144 ff. Lücke, S. 628 ff. 22) Fritzsche, in Matth. p. 763. Kern, über den Ursprung des Evang. Matth. in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 98.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/433>, abgerufen am 23.04.2024.