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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
mahl noch mitgenossen habe? Weder mit der Idee des
Abendmahls, als des Mahls der innigsten Liebe und Ver-
einigung, schien sich die Theilnahme eines so fremdarti-
gen Glieds an demselben zu vertragen, noch auch mit der
Liebe und Barmherzigkeit des Herrn das, dass er sollte
einen Unwürdigen zur Erhöhung seiner Schuld das Abend-
mahl haben mitgeniessen lassen 1). Diesem gefürchteten
Umstand glaubte man dadurch zu entgehen, dass man,
der Anordnung des Matthäus und Markus folgend, die Be-
zeichnung des Verräthers der Stiftung des Abendmahls
vorangehen liess, und da man nun aus Johannes wusste,
dass, nachdem er sich entdeckt und bezeichnet sah, Judas
aus der Gesellschaft gegangen sei: so glaubte man anneh-
men zu dürfen, dass erst nach dieser Entfernung des Ver-
räthers Jesus die Einsetzung des Abendmahls vorgenommen
habe. Allein diese Abhülfe kommt nur durch unerlaubte
Vermischung des Johannes mit den Synoptikern zu Stande.
Denn von einer Entfernung des Judas aus der Gesellschaft
weiss eben nur der vierte Evangelist, und er allein hat
auch diese Annahme nöthig, weil nach ihm Judas erst jezt
seine Unterhandlungen mit den Feinden Jesu anknüpft,
also, um mit ihnen einig zu werden, und Bedeckung von
ihnen zu erhalten, eine etwas längere Zeit brauchte: bei
den Synoptikern dagegen ist keine Spur, dass der Verrä-
ther die Gesellschaft verlassen hätte, es ist Alles so erzählt,
wie wenn er erst bei dem allgemeinen Aufbruch, statt di-
rekt in den Garten, zu den Hohenpriestern gegangen wäre,
von welchen er dann, da die Unterhandlungen schon vor-
her angeknüpft waren, unverzüglich die nöthige Mannschaft
zur Verhaftung Jesu erhalten konnte. Mag also in Anord-
nung der Scene Lukas oder Matthäus recht haben: nach
sämmtlichen Synoptikern hat Judas, der ihnen zufolge sich
2)

1) Olshausen, 2, S. 380.
2) So Lücke, Paulus, Olshausen.

Dritter Abschnitt.
mahl noch mitgenossen habe? Weder mit der Idee des
Abendmahls, als des Mahls der innigsten Liebe und Ver-
einigung, schien sich die Theilnahme eines so fremdarti-
gen Glieds an demselben zu vertragen, noch auch mit der
Liebe und Barmherzigkeit des Herrn das, daſs er sollte
einen Unwürdigen zur Erhöhung seiner Schuld das Abend-
mahl haben mitgenieſsen lassen 1). Diesem gefürchteten
Umstand glaubte man dadurch zu entgehen, daſs man,
der Anordnung des Matthäus und Markus folgend, die Be-
zeichnung des Verräthers der Stiftung des Abendmahls
vorangehen lieſs, und da man nun aus Johannes wuſste,
daſs, nachdem er sich entdeckt und bezeichnet sah, Judas
aus der Gesellschaft gegangen sei: so glaubte man anneh-
men zu dürfen, daſs erst nach dieser Entfernung des Ver-
räthers Jesus die Einsetzung des Abendmahls vorgenommen
habe. Allein diese Abhülfe kommt nur durch unerlaubte
Vermischung des Johannes mit den Synoptikern zu Stande.
Denn von einer Entfernung des Judas aus der Gesellschaft
weiſs eben nur der vierte Evangelist, und er allein hat
auch diese Annahme nöthig, weil nach ihm Judas erst jezt
seine Unterhandlungen mit den Feinden Jesu anknüpft,
also, um mit ihnen einig zu werden, und Bedeckung von
ihnen zu erhalten, eine etwas längere Zeit brauchte: bei
den Synoptikern dagegen ist keine Spur, daſs der Verrä-
ther die Gesellschaft verlassen hätte, es ist Alles so erzählt,
wie wenn er erst bei dem allgemeinen Aufbruch, statt di-
rekt in den Garten, zu den Hohenpriestern gegangen wäre,
von welchen er dann, da die Unterhandlungen schon vor-
her angeknüpft waren, unverzüglich die nöthige Mannschaft
zur Verhaftung Jesu erhalten konnte. Mag also in Anord-
nung der Scene Lukas oder Matthäus recht haben: nach
sämmtlichen Synoptikern hat Judas, der ihnen zufolge sich
2)

1) Olshausen, 2, S. 380.
2) So Lücke, Paulus, Olshausen.
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[426/0445] Dritter Abschnitt. mahl noch mitgenossen habe? Weder mit der Idee des Abendmahls, als des Mahls der innigsten Liebe und Ver- einigung, schien sich die Theilnahme eines so fremdarti- gen Glieds an demselben zu vertragen, noch auch mit der Liebe und Barmherzigkeit des Herrn das, daſs er sollte einen Unwürdigen zur Erhöhung seiner Schuld das Abend- mahl haben mitgenieſsen lassen 1). Diesem gefürchteten Umstand glaubte man dadurch zu entgehen, daſs man, der Anordnung des Matthäus und Markus folgend, die Be- zeichnung des Verräthers der Stiftung des Abendmahls vorangehen lieſs, und da man nun aus Johannes wuſste, daſs, nachdem er sich entdeckt und bezeichnet sah, Judas aus der Gesellschaft gegangen sei: so glaubte man anneh- men zu dürfen, daſs erst nach dieser Entfernung des Ver- räthers Jesus die Einsetzung des Abendmahls vorgenommen habe. Allein diese Abhülfe kommt nur durch unerlaubte Vermischung des Johannes mit den Synoptikern zu Stande. Denn von einer Entfernung des Judas aus der Gesellschaft weiſs eben nur der vierte Evangelist, und er allein hat auch diese Annahme nöthig, weil nach ihm Judas erst jezt seine Unterhandlungen mit den Feinden Jesu anknüpft, also, um mit ihnen einig zu werden, und Bedeckung von ihnen zu erhalten, eine etwas längere Zeit brauchte: bei den Synoptikern dagegen ist keine Spur, daſs der Verrä- ther die Gesellschaft verlassen hätte, es ist Alles so erzählt, wie wenn er erst bei dem allgemeinen Aufbruch, statt di- rekt in den Garten, zu den Hohenpriestern gegangen wäre, von welchen er dann, da die Unterhandlungen schon vor- her angeknüpft waren, unverzüglich die nöthige Mannschaft zur Verhaftung Jesu erhalten konnte. Mag also in Anord- nung der Scene Lukas oder Matthäus recht haben: nach sämmtlichen Synoptikern hat Judas, der ihnen zufolge sich 2) 1) Olshausen, 2, S. 380. 2) So Lücke, Paulus, Olshausen.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/445>, abgerufen am 29.03.2024.