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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Drittes Kapitel. §. 122.
zweitens statt dessen etwas hat, was mit dem von den Syn-
optikern Erzählten unvereinbar scheint.

Was die erste, negative, Seite betrifft, so ist bei der
gewöhnlichen Voraussetzung über den Verfasser des vier-
ten Evangeliums und die Richtigkeit des synoptischen Be-
richtes zu erklären, wie es kommt, dass Johannes, der
doch den beiden ersten Evangelien zufolge einer der drei
gewesen ist, welche Jesus als die näheren Zeugen seines
Kampfes mit sich nahm, den ganzen Vorgang mit Still-
schweigen übergeht? Auf seine Schläfrigkeit während des-
selben darf man sich nicht berufen, da, wenn diese ein
Hinderniss war, sämmtliche Evangelisten, nicht Johannes
allein, von der Sache schweigen müssten. Daher zieht man
auch hier das Vulgäre heran, er übergehe die Scene, weil
er sie schon bei den Synoptikern sorgfältig genug darge-
stellt gefunden habe 1). Allein zwischen den beiden ersten
Synoptikern und dem dritten findet ja eine so bedeutende
Differenz statt, dass sie den Johannes, wenn er auf ihre
Darstellungen Rücksicht nahm, auf's Dringendste auffordern
musste, in diesem Streit ein vermittelndes Wort zu spre-
chen. Wenn aber auch nicht aus den vor ihm liegenden
Arbeiten seiner Vorgänger, so soll Johannes doch haben
voraussetzen können, dass aus der evangelischen Tradition
jene Geschichte seinen Lesern hinlänglich bekannt sein wer-
de 2). Doch, da aus dieser Tradition die so sehr abwei-
chenden Darstellungen der Synoptiker hervorgegangen sind,
so muss in ihr selbst schon frühzeitig ein Schwanken ge-
wesen, und die Sache bald so bald anders erzählt worden,
folglich auch von hier aus an den Verfasser des vierten
Evangeliums die Aufforderung ergangen sein, diese schwan-
kenden Erzählungen durch seine Auctorität zu berichtigen.
Daher hat man neuestens auf etwas ganz Besonderes ge-

1) Olshausen, 2, S. 429.
2) Tholuck, S. 315. Lücke, 2, S. 591.

Drittes Kapitel. §. 122.
zweitens statt dessen etwas hat, was mit dem von den Syn-
optikern Erzählten unvereinbar scheint.

Was die erste, negative, Seite betrifft, so ist bei der
gewöhnlichen Voraussetzung über den Verfasser des vier-
ten Evangeliums und die Richtigkeit des synoptischen Be-
richtes zu erklären, wie es kommt, daſs Johannes, der
doch den beiden ersten Evangelien zufolge einer der drei
gewesen ist, welche Jesus als die näheren Zeugen seines
Kampfes mit sich nahm, den ganzen Vorgang mit Still-
schweigen übergeht? Auf seine Schläfrigkeit während des-
selben darf man sich nicht berufen, da, wenn diese ein
Hinderniſs war, sämmtliche Evangelisten, nicht Johannes
allein, von der Sache schweigen müſsten. Daher zieht man
auch hier das Vulgäre heran, er übergehe die Scene, weil
er sie schon bei den Synoptikern sorgfältig genug darge-
stellt gefunden habe 1). Allein zwischen den beiden ersten
Synoptikern und dem dritten findet ja eine so bedeutende
Differenz statt, daſs sie den Johannes, wenn er auf ihre
Darstellungen Rücksicht nahm, auf's Dringendste auffordern
muſste, in diesem Streit ein vermittelndes Wort zu spre-
chen. Wenn aber auch nicht aus den vor ihm liegenden
Arbeiten seiner Vorgänger, so soll Johannes doch haben
voraussetzen können, daſs aus der evangelischen Tradition
jene Geschichte seinen Lesern hinlänglich bekannt sein wer-
de 2). Doch, da aus dieser Tradition die so sehr abwei-
chenden Darstellungen der Synoptiker hervorgegangen sind,
so muſs in ihr selbst schon frühzeitig ein Schwanken ge-
wesen, und die Sache bald so bald anders erzählt worden,
folglich auch von hier aus an den Verfasser des vierten
Evangeliums die Aufforderung ergangen sein, diese schwan-
kenden Erzählungen durch seine Auctorität zu berichtigen.
Daher hat man neuestens auf etwas ganz Besonderes ge-

1) Olshausen, 2, S. 429.
2) Tholuck, S. 315. Lücke, 2, S. 591.
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[455/0474] Drittes Kapitel. §. 122. zweitens statt dessen etwas hat, was mit dem von den Syn- optikern Erzählten unvereinbar scheint. Was die erste, negative, Seite betrifft, so ist bei der gewöhnlichen Voraussetzung über den Verfasser des vier- ten Evangeliums und die Richtigkeit des synoptischen Be- richtes zu erklären, wie es kommt, daſs Johannes, der doch den beiden ersten Evangelien zufolge einer der drei gewesen ist, welche Jesus als die näheren Zeugen seines Kampfes mit sich nahm, den ganzen Vorgang mit Still- schweigen übergeht? Auf seine Schläfrigkeit während des- selben darf man sich nicht berufen, da, wenn diese ein Hinderniſs war, sämmtliche Evangelisten, nicht Johannes allein, von der Sache schweigen müſsten. Daher zieht man auch hier das Vulgäre heran, er übergehe die Scene, weil er sie schon bei den Synoptikern sorgfältig genug darge- stellt gefunden habe 1). Allein zwischen den beiden ersten Synoptikern und dem dritten findet ja eine so bedeutende Differenz statt, daſs sie den Johannes, wenn er auf ihre Darstellungen Rücksicht nahm, auf's Dringendste auffordern muſste, in diesem Streit ein vermittelndes Wort zu spre- chen. Wenn aber auch nicht aus den vor ihm liegenden Arbeiten seiner Vorgänger, so soll Johannes doch haben voraussetzen können, daſs aus der evangelischen Tradition jene Geschichte seinen Lesern hinlänglich bekannt sein wer- de 2). Doch, da aus dieser Tradition die so sehr abwei- chenden Darstellungen der Synoptiker hervorgegangen sind, so muſs in ihr selbst schon frühzeitig ein Schwanken ge- wesen, und die Sache bald so bald anders erzählt worden, folglich auch von hier aus an den Verfasser des vierten Evangeliums die Aufforderung ergangen sein, diese schwan- kenden Erzählungen durch seine Auctorität zu berichtigen. Daher hat man neuestens auf etwas ganz Besonderes ge- 1) Olshausen, 2, S. 429. 2) Tholuck, S. 315. Lücke, 2, S. 591.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/474>, abgerufen am 23.04.2024.