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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
der vierte Evangelist eine merkwürdige Zwischenscene ein.
Nach ihm baten nämlich die Juden, um zu verhüten, dass
nicht durch das Hängenbleiben der Gekreuzigten der be-
vorstehende besonders heilige Sabbat entweiht würde, den
Procurator, es möchte durch Zerschlagung der Beine ihr
Tod beschleunigt, und sie sofort abgenommen werden.
Die hiezu beauftragten Soldaten vollzogen diess an den bei-
den neben Jesu gekreuzigten Verbrechern: wie sie aber
an Jesu die Zeichen des bereits eingetretenen Todes bemerk-
ten, hielten sie bei ihm ein solches Vornehmen für über-
flüssig, und begnügten sich, in seine Seite einen Speerstich
zu machen, worauf Blut und Wasser herausfloss (19, 31
--37.).

Diese Thatsache wird gewöhnlich als Hauptbeleg für
die Wirklichkeit des Todes Jesu angesehen, und im Ver-
hältniss zu ihr der aus den Synoptikern zu führende Be-
weis für unzulänglich gehalten. Nach derjenigen Rech-
nung nämlich, welche den längsten Zeitraum giebt, der des
Markus, hieng Jesus von der dritten bis neunten, also 6
Stunden, am Kreuze, ehe er starb; wenn, wie Manchen
wahrscheinlich gewesen ist, bei den beiden andern Synop-
tikern die mit der sechsten Stunde eingetretene Finsterniss
zugleich den Anfang der Kreuzigung bezeichnet, so hieng
nach ihnen Jesus nur drei Stunden lebend am Kreuze,
und wenn wir bei Johanne die jüdische Stundenzählung
voraussetzen, und ihm die gleiche Ansicht vom Zeitpunkt
des Todes Jesu zuschreiben: so müsste, da er um die
sechste Stunde den Pilatus erst das Urtheil sprechen lässt,
Jesus nach nicht viel über zwei Stunden Kreuzigung be-
reits gestorben sein. So schnell aber tödtet die Kreuzigung
sonst nicht: was theils aus der Natur dieser Strafe, wel-
che nicht durch starke Verwundung ein schnelles Verblu-
ten, sondern mehr nur durch Ausspannung der Glieder
ein allmähliges Erstarren hervorbringt, sich ergiebt; theils
aus den eigenen Angaben der Evangelisten erhellt, nach

Dritter Abschnitt.
der vierte Evangelist eine merkwürdige Zwischenscene ein.
Nach ihm baten nämlich die Juden, um zu verhüten, daſs
nicht durch das Hängenbleiben der Gekreuzigten der be-
vorstehende besonders heilige Sabbat entweiht würde, den
Procurator, es möchte durch Zerschlagung der Beine ihr
Tod beschleunigt, und sie sofort abgenommen werden.
Die hiezu beauftragten Soldaten vollzogen dieſs an den bei-
den neben Jesu gekreuzigten Verbrechern: wie sie aber
an Jesu die Zeichen des bereits eingetretenen Todes bemerk-
ten, hielten sie bei ihm ein solches Vornehmen für über-
flüssig, und begnügten sich, in seine Seite einen Speerstich
zu machen, worauf Blut und Wasser herausfloſs (19, 31
—37.).

Diese Thatsache wird gewöhnlich als Hauptbeleg für
die Wirklichkeit des Todes Jesu angesehen, und im Ver-
hältniſs zu ihr der aus den Synoptikern zu führende Be-
weis für unzulänglich gehalten. Nach derjenigen Rech-
nung nämlich, welche den längsten Zeitraum giebt, der des
Markus, hieng Jesus von der dritten bis neunten, also 6
Stunden, am Kreuze, ehe er starb; wenn, wie Manchen
wahrscheinlich gewesen ist, bei den beiden andern Synop-
tikern die mit der sechsten Stunde eingetretene Finsterniſs
zugleich den Anfang der Kreuzigung bezeichnet, so hieng
nach ihnen Jesus nur drei Stunden lebend am Kreuze,
und wenn wir bei Johanne die jüdische Stundenzählung
voraussetzen, und ihm die gleiche Ansicht vom Zeitpunkt
des Todes Jesu zuschreiben: so müſste, da er um die
sechste Stunde den Pilatus erst das Urtheil sprechen läſst,
Jesus nach nicht viel über zwei Stunden Kreuzigung be-
reits gestorben sein. So schnell aber tödtet die Kreuzigung
sonst nicht: was theils aus der Natur dieser Strafe, wel-
che nicht durch starke Verwundung ein schnelles Verblu-
ten, sondern mehr nur durch Ausspannung der Glieder
ein allmähliges Erstarren hervorbringt, sich ergiebt; theils
aus den eigenen Angaben der Evangelisten erhellt, nach

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[[566]/0585] Dritter Abschnitt. der vierte Evangelist eine merkwürdige Zwischenscene ein. Nach ihm baten nämlich die Juden, um zu verhüten, daſs nicht durch das Hängenbleiben der Gekreuzigten der be- vorstehende besonders heilige Sabbat entweiht würde, den Procurator, es möchte durch Zerschlagung der Beine ihr Tod beschleunigt, und sie sofort abgenommen werden. Die hiezu beauftragten Soldaten vollzogen dieſs an den bei- den neben Jesu gekreuzigten Verbrechern: wie sie aber an Jesu die Zeichen des bereits eingetretenen Todes bemerk- ten, hielten sie bei ihm ein solches Vornehmen für über- flüssig, und begnügten sich, in seine Seite einen Speerstich zu machen, worauf Blut und Wasser herausfloſs (19, 31 —37.). Diese Thatsache wird gewöhnlich als Hauptbeleg für die Wirklichkeit des Todes Jesu angesehen, und im Ver- hältniſs zu ihr der aus den Synoptikern zu führende Be- weis für unzulänglich gehalten. Nach derjenigen Rech- nung nämlich, welche den längsten Zeitraum giebt, der des Markus, hieng Jesus von der dritten bis neunten, also 6 Stunden, am Kreuze, ehe er starb; wenn, wie Manchen wahrscheinlich gewesen ist, bei den beiden andern Synop- tikern die mit der sechsten Stunde eingetretene Finsterniſs zugleich den Anfang der Kreuzigung bezeichnet, so hieng nach ihnen Jesus nur drei Stunden lebend am Kreuze, und wenn wir bei Johanne die jüdische Stundenzählung voraussetzen, und ihm die gleiche Ansicht vom Zeitpunkt des Todes Jesu zuschreiben: so müſste, da er um die sechste Stunde den Pilatus erst das Urtheil sprechen läſst, Jesus nach nicht viel über zwei Stunden Kreuzigung be- reits gestorben sein. So schnell aber tödtet die Kreuzigung sonst nicht: was theils aus der Natur dieser Strafe, wel- che nicht durch starke Verwundung ein schnelles Verblu- ten, sondern mehr nur durch Ausspannung der Glieder ein allmähliges Erstarren hervorbringt, sich ergiebt; theils aus den eigenen Angaben der Evangelisten erhellt, nach

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. [566]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/585>, abgerufen am 25.04.2024.