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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Viertes Kapitel. §. 132.

Mit Recht macht Paulus darauf aufmerksam, wie
Matthäus selbst durch seine Notiz: kai diephemisthe o lo-
gos outos para Ioudaiois mekhri tes semeron, auf ein verläum-
derisches jüdisches Gerücht als die Quelle seiner Erzäh-
lung hinweise. Wenn nun aber Paulus der Meinung ist,
die Juden selbst haben ausgesprengt, sie hätten eine Wa-
che an Jesu Grab gestellt, diese aber seinen Leichnam steh-
len lassen: so ist diess ebenso verkehrt, wie wenn Hase
vermuthet, das bezeichnete Gerücht sei zuerst von den
Freunden Jesu ausgegangen, und hernach von seinen Fein-
den modificirt worden. Denn was die erstere Annahme
betrifft, so hat schon Kuinöl richtig darauf hingewiesen,
dass Matthäus bloss die Aussage vom Leichendiebstahl, nicht
die ganze Erzählung von Aufstellung einer Wache, als jü-
disches Gerücht bezeichne; auch lässt sich kein Grund den-
ken, warum die Juden sollten ausgesprengt haben, es sei
am Grabe Jesu eine Wache aufgestellt gewesen. Wenn
Paulus sagt, man habe dadurch die Behauptung, der Leib
Jesu sei von seinen Jüngern gestohlen worden, den Leicht-
gläubigen um so glaublicher machen wollen: so müssten
das allerdings sehr Leichtgläubige gewesen sein, die nicht
bemerkt hätten, dass eben durch die aufgestellte Wache
die Entfernung des Leichnams Jesu mittelst eines Diebstahls
unwahrscheinlich werde. Paulus scheint sich die Sache etwa
so vorzustellen: die Juden haben für die Behauptung eines
Diebstahls gleichsam Zeugen stellen gewollt, und hiezu die
aufgestellten Wächter fingirt. Aber dass die Wächter mit
offenen Augen ruhig zugesehen hätten, wie die Anhänger
Jesu dessen Leichnam wegnahmen, konnte doch den Ju-
den Niemand glauben; sahen sie aber nichts davon, weil
sie schliefen, so gaben sie auch keine Zeugen ab, indem
sie dann nur durch einen Schluss zu dem Resultat kom-
men konnten, der Leichnam möge gestohlen worden sein:
das aber konnte man ohne sie ebensogut. Keineswegs also
kann die Wache schon zum jüdischen Grundstock der vor-

Viertes Kapitel. §. 132.

Mit Recht macht Paulus darauf aufmerksam, wie
Matthäus selbst durch seine Notiz: καὶ διεφημίσϑη ὁ λό-
γος οὖτος παρὰ Ἰουδαίοις μέχρι τῆς σήμερον, auf ein verläum-
derisches jüdisches Gerücht als die Quelle seiner Erzäh-
lung hinweise. Wenn nun aber Paulus der Meinung ist,
die Juden selbst haben ausgesprengt, sie hätten eine Wa-
che an Jesu Grab gestellt, diese aber seinen Leichnam steh-
len lassen: so ist dieſs ebenso verkehrt, wie wenn Hase
vermuthet, das bezeichnete Gerücht sei zuerst von den
Freunden Jesu ausgegangen, und hernach von seinen Fein-
den modificirt worden. Denn was die erstere Annahme
betrifft, so hat schon Kuinöl richtig darauf hingewiesen,
daſs Matthäus bloſs die Aussage vom Leichendiebstahl, nicht
die ganze Erzählung von Aufstellung einer Wache, als jü-
disches Gerücht bezeichne; auch läſst sich kein Grund den-
ken, warum die Juden sollten ausgesprengt haben, es sei
am Grabe Jesu eine Wache aufgestellt gewesen. Wenn
Paulus sagt, man habe dadurch die Behauptung, der Leib
Jesu sei von seinen Jüngern gestohlen worden, den Leicht-
gläubigen um so glaublicher machen wollen: so müſsten
das allerdings sehr Leichtgläubige gewesen sein, die nicht
bemerkt hätten, daſs eben durch die aufgestellte Wache
die Entfernung des Leichnams Jesu mittelst eines Diebstahls
unwahrscheinlich werde. Paulus scheint sich die Sache etwa
so vorzustellen: die Juden haben für die Behauptung eines
Diebstahls gleichsam Zeugen stellen gewollt, und hiezu die
aufgestellten Wächter fingirt. Aber daſs die Wächter mit
offenen Augen ruhig zugesehen hätten, wie die Anhänger
Jesu dessen Leichnam wegnahmen, konnte doch den Ju-
den Niemand glauben; sahen sie aber nichts davon, weil
sie schliefen, so gaben sie auch keine Zeugen ab, indem
sie dann nur durch einen Schluſs zu dem Resultat kom-
men konnten, der Leichnam möge gestohlen worden sein:
das aber konnte man ohne sie ebensogut. Keineswegs also
kann die Wache schon zum jüdischen Grundstock der vor-

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[589/0608] Viertes Kapitel. §. 132. Mit Recht macht Paulus darauf aufmerksam, wie Matthäus selbst durch seine Notiz: καὶ διεφημίσϑη ὁ λό- γος οὖτος παρὰ Ἰουδαίοις μέχρι τῆς σήμερον, auf ein verläum- derisches jüdisches Gerücht als die Quelle seiner Erzäh- lung hinweise. Wenn nun aber Paulus der Meinung ist, die Juden selbst haben ausgesprengt, sie hätten eine Wa- che an Jesu Grab gestellt, diese aber seinen Leichnam steh- len lassen: so ist dieſs ebenso verkehrt, wie wenn Hase vermuthet, das bezeichnete Gerücht sei zuerst von den Freunden Jesu ausgegangen, und hernach von seinen Fein- den modificirt worden. Denn was die erstere Annahme betrifft, so hat schon Kuinöl richtig darauf hingewiesen, daſs Matthäus bloſs die Aussage vom Leichendiebstahl, nicht die ganze Erzählung von Aufstellung einer Wache, als jü- disches Gerücht bezeichne; auch läſst sich kein Grund den- ken, warum die Juden sollten ausgesprengt haben, es sei am Grabe Jesu eine Wache aufgestellt gewesen. Wenn Paulus sagt, man habe dadurch die Behauptung, der Leib Jesu sei von seinen Jüngern gestohlen worden, den Leicht- gläubigen um so glaublicher machen wollen: so müſsten das allerdings sehr Leichtgläubige gewesen sein, die nicht bemerkt hätten, daſs eben durch die aufgestellte Wache die Entfernung des Leichnams Jesu mittelst eines Diebstahls unwahrscheinlich werde. Paulus scheint sich die Sache etwa so vorzustellen: die Juden haben für die Behauptung eines Diebstahls gleichsam Zeugen stellen gewollt, und hiezu die aufgestellten Wächter fingirt. Aber daſs die Wächter mit offenen Augen ruhig zugesehen hätten, wie die Anhänger Jesu dessen Leichnam wegnahmen, konnte doch den Ju- den Niemand glauben; sahen sie aber nichts davon, weil sie schliefen, so gaben sie auch keine Zeugen ab, indem sie dann nur durch einen Schluſs zu dem Resultat kom- men konnten, der Leichnam möge gestohlen worden sein: das aber konnte man ohne sie ebensogut. Keineswegs also kann die Wache schon zum jüdischen Grundstock der vor-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/608>, abgerufen am 25.04.2024.