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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 89.
an wirkliche Teufelsbesitzungen nicht glau' te, so hatte er
als Verfasser des vierten Evangeliums, der gewöhnlichen
Ansicht von seinem Verhältniss zu den Synoptikern zufol-
ge, die bestimmteste Veranlassung, sie zu berichtigen, und
der Verbreitung einer nach seiner Ansicht falschen Mei-
nung durch eine Darstellung dieser Heilungen vom richti-
gen Gesichtspunkt aus vorzubeugen. Doch wie konnte der
Apostel Johannes zur Verwerfung der Ansicht, dass jene
Krankheiten ihren Grund in dämonischen Besitzungen ha-
ben, kommen? Sie war nach Josephus jüdische Volksan-
sicht in jener Zeit, von der ein palästinischer Jude, der,
wie Johannes, erst in späteren Jahren in das Ausland
wanderte, nicht mehr im Stande war, sich loszumachen;
sie war, der Natur der Sache und den synoptischen Be-
richten zufolge, Ansicht Jesu selbst, seines angebeteten Mei-
sters, von welcher der Lieblingsjünger gewiss keinen Fin-
ger breit abzuweichen geneigt war. Theilte aber Johan-
nes mit seinen Volksgenossen und Jesu selbst die Annah-
me wirklicher Dämonenbesitzungen, und bildete die Hei-
lung solcher Personen einen Haupttheil, ja vielleicht die
eigentliche Grundlage der angeblichen Wunderthätigkeit
Jesu: wie kommt es, dass er dessenungeachtet in seinem
Evangelium ihrer keine Erwähnung thut? Dass er sie
übergangen habe, weil die übrigen Evangelisten genug der-
gleichen Geschichten aufgenommen hatten, sollte man doch
endlich aufhören zu sagen, da er ja mehr als Eine von ih-
nen schon berichtete Wundergeschichte wiederholt hat,
und sagt man, diese habe er wiederholt, weil sie der Be-
richtigung bedurften: so haben wir bei Erwägung der syn-
optischen Relationen von den Heilungen der Dämonischen
gesehen, dass bei manchen derselben eine Zurückführung
auf die einfache geschichtliche Grundlage gar sehr am Orte

scheider, Einl. in das Evang. Joh. S. 313.; de Wette, bibl.
Dogm. §. 269.
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Neuntes Kapitel. §. 89.
an wirkliche Teufelsbesitzungen nicht glau' te, so hatte er
als Verfasser des vierten Evangeliums, der gewöhnlichen
Ansicht von seinem Verhältniſs zu den Synoptikern zufol-
ge, die bestimmteste Veranlassung, sie zu berichtigen, und
der Verbreitung einer nach seiner Ansicht falschen Mei-
nung durch eine Darstellung dieser Heilungen vom richti-
gen Gesichtspunkt aus vorzubeugen. Doch wie konnte der
Apostel Johannes zur Verwerfung der Ansicht, daſs jene
Krankheiten ihren Grund in dämonischen Besitzungen ha-
ben, kommen? Sie war nach Josephus jüdische Volksan-
sicht in jener Zeit, von der ein palästinischer Jude, der,
wie Johannes, erst in späteren Jahren in das Ausland
wanderte, nicht mehr im Stande war, sich loszumachen;
sie war, der Natur der Sache und den synoptischen Be-
richten zufolge, Ansicht Jesu selbst, seines angebeteten Mei-
sters, von welcher der Lieblingsjünger gewiſs keinen Fin-
ger breit abzuweichen geneigt war. Theilte aber Johan-
nes mit seinen Volksgenossen und Jesu selbst die Annah-
me wirklicher Dämonenbesitzungen, und bildete die Hei-
lung solcher Personen einen Haupttheil, ja vielleicht die
eigentliche Grundlage der angeblichen Wunderthätigkeit
Jesu: wie kommt es, daſs er dessenungeachtet in seinem
Evangelium ihrer keine Erwähnung thut? Daſs er sie
übergangen habe, weil die übrigen Evangelisten genug der-
gleichen Geschichten aufgenommen hatten, sollte man doch
endlich aufhören zu sagen, da er ja mehr als Eine von ih-
nen schon berichtete Wundergeschichte wiederholt hat,
und sagt man, diese habe er wiederholt, weil sie der Be-
richtigung bedurften: so haben wir bei Erwägung der syn-
optischen Relationen von den Heilungen der Dämonischen
gesehen, daſs bei manchen derselben eine Zurückführung
auf die einfache geschichtliche Grundlage gar sehr am Orte

scheider, Einl. in das Evang. Joh. S. 313.; de Wette, bibl.
Dogm. §. 269.
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[51/0070] Neuntes Kapitel. §. 89. an wirkliche Teufelsbesitzungen nicht glau' te, so hatte er als Verfasser des vierten Evangeliums, der gewöhnlichen Ansicht von seinem Verhältniſs zu den Synoptikern zufol- ge, die bestimmteste Veranlassung, sie zu berichtigen, und der Verbreitung einer nach seiner Ansicht falschen Mei- nung durch eine Darstellung dieser Heilungen vom richti- gen Gesichtspunkt aus vorzubeugen. Doch wie konnte der Apostel Johannes zur Verwerfung der Ansicht, daſs jene Krankheiten ihren Grund in dämonischen Besitzungen ha- ben, kommen? Sie war nach Josephus jüdische Volksan- sicht in jener Zeit, von der ein palästinischer Jude, der, wie Johannes, erst in späteren Jahren in das Ausland wanderte, nicht mehr im Stande war, sich loszumachen; sie war, der Natur der Sache und den synoptischen Be- richten zufolge, Ansicht Jesu selbst, seines angebeteten Mei- sters, von welcher der Lieblingsjünger gewiſs keinen Fin- ger breit abzuweichen geneigt war. Theilte aber Johan- nes mit seinen Volksgenossen und Jesu selbst die Annah- me wirklicher Dämonenbesitzungen, und bildete die Hei- lung solcher Personen einen Haupttheil, ja vielleicht die eigentliche Grundlage der angeblichen Wunderthätigkeit Jesu: wie kommt es, daſs er dessenungeachtet in seinem Evangelium ihrer keine Erwähnung thut? Daſs er sie übergangen habe, weil die übrigen Evangelisten genug der- gleichen Geschichten aufgenommen hatten, sollte man doch endlich aufhören zu sagen, da er ja mehr als Eine von ih- nen schon berichtete Wundergeschichte wiederholt hat, und sagt man, diese habe er wiederholt, weil sie der Be- richtigung bedurften: so haben wir bei Erwägung der syn- optischen Relationen von den Heilungen der Dämonischen gesehen, daſs bei manchen derselben eine Zurückführung auf die einfache geschichtliche Grundlage gar sehr am Orte 53) 53) scheider, Einl. in das Evang. Joh. S. 313.; de Wette, bibl. Dogm. §. 269. 4 *

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/70>, abgerufen am 25.04.2024.