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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 142.
folglich hätten ebensoviele Stellvertreter als Sünder den
ewigen Tod erleiden müssen: wogegen nun der einzige
Christus bloss den zeitlichen Tod, überdiess als Eingang
zur höchsten Herrlichkeit, erduldet habe, und zwar nicht
mit seiner göttlichen Natur, dass man sagen könnte, die-
ses Leiden habe unendlichen Werth, sondern mit seiner
menschlichen. Wenn hiegegen schon früher dem Thomas
gegenüber Duns Scotus 11), und nun wieder zwischen den
Orthodoxen und den Socinianern Grotius und die Arminianer
den Ausweg ergriffen, an sich zwar sei Christi Verdienst
endlich gewesen, wie das Subjekt desselben, seine mensch-
liche Natur, und daher zur Genugthuung für die Sünden
der Welt unzureichend, aber Gott habe es aus freier
Gnade für zureichend acceptirt: so folgte aus der Einräu-
mung, dass Gott mit unzulänglicher Genugthuung sich be-
gnügen, also einen Theil der Schuld ohne Genugthuung
vergeben könne, nothwendig, dass er auch die ganze so
zu vergeben im Stande sein müsse. Doch auch abgesehen
von allen diesen näheren Bestimmungen wurde die Grund-
vorstellung selbst, dass Jemand für Andere Sündenstra-
fen auf sich nehmen könne, als eine rohe Übertragung
niedrigerer Verhältnisse auf höhere angegriffen. Sittliche
Verschuldungen seien keine transmissible Verbindlichkei-
ten, es verhalte sich mit ihnen nicht, wie mit Geldschul-
den, wo es dem Gläubiger gleichgültig ist, wer sie be-
zahlt, wenn sie nur überhaupt bezahlt werden; der Sün-
denstrafe sei es vielmehr wesentlich, eben nur über den
verhängt zu werden, der sich ihrer schuldig gemacht hat.
Kann hienach der sogenannte leidende Gehorsam Christi
kein stellvertretender gewesen sein: so noch weniger der
12)

11) Comm. in Sentt. L. 3. Dist. 19.
12) s. ausser Socin besonders Kant, Relig. innerhalb der Gren-
zen der blossen Vernunft, 2tes Stück, 1ter Abschn., c).

Schluſsabhandlung. §. 142.
folglich hätten ebensoviele Stellvertreter als Sünder den
ewigen Tod erleiden müssen: wogegen nun der einzige
Christus bloſs den zeitlichen Tod, überdieſs als Eingang
zur höchsten Herrlichkeit, erduldet habe, und zwar nicht
mit seiner göttlichen Natur, daſs man sagen könnte, die-
ses Leiden habe unendlichen Werth, sondern mit seiner
menschlichen. Wenn hiegegen schon früher dem Thomas
gegenüber Duns Scotus 11), und nun wieder zwischen den
Orthodoxen und den Socinianern Grotius und die Arminianer
den Ausweg ergriffen, an sich zwar sei Christi Verdienst
endlich gewesen, wie das Subjekt desselben, seine mensch-
liche Natur, und daher zur Genugthuung für die Sünden
der Welt unzureichend, aber Gott habe es aus freier
Gnade für zureichend acceptirt: so folgte aus der Einräu-
mung, daſs Gott mit unzulänglicher Genugthuung sich be-
gnügen, also einen Theil der Schuld ohne Genugthuung
vergeben könne, nothwendig, daſs er auch die ganze so
zu vergeben im Stande sein müsse. Doch auch abgesehen
von allen diesen näheren Bestimmungen wurde die Grund-
vorstellung selbst, daſs Jemand für Andere Sündenstra-
fen auf sich nehmen könne, als eine rohe Übertragung
niedrigerer Verhältnisse auf höhere angegriffen. Sittliche
Verschuldungen seien keine transmissible Verbindlichkei-
ten, es verhalte sich mit ihnen nicht, wie mit Geldschul-
den, wo es dem Gläubiger gleichgültig ist, wer sie be-
zahlt, wenn sie nur überhaupt bezahlt werden; der Sün-
denstrafe sei es vielmehr wesentlich, eben nur über den
verhängt zu werden, der sich ihrer schuldig gemacht hat.
Kann hienach der sogenannte leidende Gehorsam Christi
kein stellvertretender gewesen sein: so noch weniger der
12)

11) Comm. in Sentt. L. 3. Dist. 19.
12) s. ausser Socin besonders Kant, Relig. innerhalb der Gren-
zen der blossen Vernunft, 2tes Stück, 1ter Abschn., c).
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[706/0725] Schluſsabhandlung. §. 142. folglich hätten ebensoviele Stellvertreter als Sünder den ewigen Tod erleiden müssen: wogegen nun der einzige Christus bloſs den zeitlichen Tod, überdieſs als Eingang zur höchsten Herrlichkeit, erduldet habe, und zwar nicht mit seiner göttlichen Natur, daſs man sagen könnte, die- ses Leiden habe unendlichen Werth, sondern mit seiner menschlichen. Wenn hiegegen schon früher dem Thomas gegenüber Duns Scotus 11), und nun wieder zwischen den Orthodoxen und den Socinianern Grotius und die Arminianer den Ausweg ergriffen, an sich zwar sei Christi Verdienst endlich gewesen, wie das Subjekt desselben, seine mensch- liche Natur, und daher zur Genugthuung für die Sünden der Welt unzureichend, aber Gott habe es aus freier Gnade für zureichend acceptirt: so folgte aus der Einräu- mung, daſs Gott mit unzulänglicher Genugthuung sich be- gnügen, also einen Theil der Schuld ohne Genugthuung vergeben könne, nothwendig, daſs er auch die ganze so zu vergeben im Stande sein müsse. Doch auch abgesehen von allen diesen näheren Bestimmungen wurde die Grund- vorstellung selbst, daſs Jemand für Andere Sündenstra- fen auf sich nehmen könne, als eine rohe Übertragung niedrigerer Verhältnisse auf höhere angegriffen. Sittliche Verschuldungen seien keine transmissible Verbindlichkei- ten, es verhalte sich mit ihnen nicht, wie mit Geldschul- den, wo es dem Gläubiger gleichgültig ist, wer sie be- zahlt, wenn sie nur überhaupt bezahlt werden; der Sün- denstrafe sei es vielmehr wesentlich, eben nur über den verhängt zu werden, der sich ihrer schuldig gemacht hat. Kann hienach der sogenannte leidende Gehorsam Christi kein stellvertretender gewesen sein: so noch weniger der 12) 11) Comm. in Sentt. L. 3. Dist. 19. 12) s. ausser Socin besonders Kant, Relig. innerhalb der Gren- zen der blossen Vernunft, 2tes Stück, 1ter Abschn., c).

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 706. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/725>, abgerufen am 25.04.2024.