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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 143.
ses prophetische Amt Christi ist bei Socinianern und Ra-
tionalisten der Mittelpunkt seiner Thätigkeit, auf welchen
sie alles Andere, namentlich was die Kirchenlehre unter
dem hohenpriesterlichen Amte begreift, immer wieder zu-
rückführen. Der sogenannte thuende Gehorsam hat hier
ohnehin nur als Beispiel Werth; aber auch der Tod Je-
su sollte die Sündenvergebung nur durch Vermittlung der
Besserung bewirken, entweder so, dass er als Besiegelung
seiner Lehre, und Vorbild aufopfernder Pflichterfüllung,
den Tugendeifer belebe, oder so, dass er als Beweis der
Liebe Gottes zu den Menschen, seiner Geneigtheit, dem
Gebesserten zu vergeben, den sittlichen Muth erhebe 2).

Wenn Christus nicht mehr gewesen ist und gethan
hat, als diese rationalistische Lehre ihn sein und thun lässt:
so sieht man nicht, wie die Frömmigkeit dazu kommt, ihn
zu ihrem besondern Gegenstand zu machen, und die Dog-
matik, eigene Sätze über ihn aufzustellen. Wirklich haben
daher consequente Rationalisten erklärt, was die orthodoxe
Dogmatik Christologie nenne, trete im rationalistischen Sy-
stem gar nicht als ein integrirender Theil desselben auf, da
dieses System zwar aus einer Religion bestehe, die Christus
gelehrt habe, nicht aber aus einer, deren Objekt er selbst
wäre. Heisse Christologie Messiaslehre: so sei diese nur
eine Hülfslehre für die Juden gewesen; aber auch im ed-
leren Sinn, als Lehre von dem Leben, den Thaten und
Schicksalen Jesu als göttlichen Gesandten, gehöre sie nicht
zum Glaubenssystem, da allgemeine religiöse Wahrheiten
mit den Vorstellungen über die Person dessen, der sie zu-
erst ausgesprochen, ebensowenig zusammenhängen, als man
in dem System der Leibniz-Wolfischen, oder Kantischen,
oder Fichte'schen und Schelling'schen Philosophie als phi-
losophische Sätze dasjenige aufstelle, was man von der

2) s. die verschiedenen Ansichten bei Bretschneider, Dogm. 2,
S. 353, systematische Entwicklung, §. 107.

Schluſsabhandlung. §. 143.
ses prophetische Amt Christi ist bei Socinianern und Ra-
tionalisten der Mittelpunkt seiner Thätigkeit, auf welchen
sie alles Andere, namentlich was die Kirchenlehre unter
dem hohenpriesterlichen Amte begreift, immer wieder zu-
rückführen. Der sogenannte thuende Gehorsam hat hier
ohnehin nur als Beispiel Werth; aber auch der Tod Je-
su sollte die Sündenvergebung nur durch Vermittlung der
Besserung bewirken, entweder so, daſs er als Besiegelung
seiner Lehre, und Vorbild aufopfernder Pflichterfüllung,
den Tugendeifer belebe, oder so, daſs er als Beweis der
Liebe Gottes zu den Menschen, seiner Geneigtheit, dem
Gebesserten zu vergeben, den sittlichen Muth erhebe 2).

Wenn Christus nicht mehr gewesen ist und gethan
hat, als diese rationalistische Lehre ihn sein und thun läſst:
so sieht man nicht, wie die Frömmigkeit dazu kommt, ihn
zu ihrem besondern Gegenstand zu machen, und die Dog-
matik, eigene Sätze über ihn aufzustellen. Wirklich haben
daher consequente Rationalisten erklärt, was die orthodoxe
Dogmatik Christologie nenne, trete im rationalistischen Sy-
stem gar nicht als ein integrirender Theil desselben auf, da
dieses System zwar aus einer Religion bestehe, die Christus
gelehrt habe, nicht aber aus einer, deren Objekt er selbst
wäre. Heiſse Christologie Messiaslehre: so sei diese nur
eine Hülfslehre für die Juden gewesen; aber auch im ed-
leren Sinn, als Lehre von dem Leben, den Thaten und
Schicksalen Jesu als göttlichen Gesandten, gehöre sie nicht
zum Glaubenssystem, da allgemeine religiöse Wahrheiten
mit den Vorstellungen über die Person dessen, der sie zu-
erst ausgesprochen, ebensowenig zusammenhängen, als man
in dem System der Leibniz-Wolfischen, oder Kantischen,
oder Fichte'schen und Schelling'schen Philosophie als phi-
losophische Sätze dasjenige aufstelle, was man von der

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[709/0728] Schluſsabhandlung. §. 143. ses prophetische Amt Christi ist bei Socinianern und Ra- tionalisten der Mittelpunkt seiner Thätigkeit, auf welchen sie alles Andere, namentlich was die Kirchenlehre unter dem hohenpriesterlichen Amte begreift, immer wieder zu- rückführen. Der sogenannte thuende Gehorsam hat hier ohnehin nur als Beispiel Werth; aber auch der Tod Je- su sollte die Sündenvergebung nur durch Vermittlung der Besserung bewirken, entweder so, daſs er als Besiegelung seiner Lehre, und Vorbild aufopfernder Pflichterfüllung, den Tugendeifer belebe, oder so, daſs er als Beweis der Liebe Gottes zu den Menschen, seiner Geneigtheit, dem Gebesserten zu vergeben, den sittlichen Muth erhebe 2). Wenn Christus nicht mehr gewesen ist und gethan hat, als diese rationalistische Lehre ihn sein und thun läſst: so sieht man nicht, wie die Frömmigkeit dazu kommt, ihn zu ihrem besondern Gegenstand zu machen, und die Dog- matik, eigene Sätze über ihn aufzustellen. Wirklich haben daher consequente Rationalisten erklärt, was die orthodoxe Dogmatik Christologie nenne, trete im rationalistischen Sy- stem gar nicht als ein integrirender Theil desselben auf, da dieses System zwar aus einer Religion bestehe, die Christus gelehrt habe, nicht aber aus einer, deren Objekt er selbst wäre. Heiſse Christologie Messiaslehre: so sei diese nur eine Hülfslehre für die Juden gewesen; aber auch im ed- leren Sinn, als Lehre von dem Leben, den Thaten und Schicksalen Jesu als göttlichen Gesandten, gehöre sie nicht zum Glaubenssystem, da allgemeine religiöse Wahrheiten mit den Vorstellungen über die Person dessen, der sie zu- erst ausgesprochen, ebensowenig zusammenhängen, als man in dem System der Leibniz-Wolfischen, oder Kantischen, oder Fichte'schen und Schelling'schen Philosophie als phi- losophische Sätze dasjenige aufstelle, was man von der 2) s. die verschiedenen Ansichten bei Bretschneider, Dogm. 2, S. 353, systematische Entwicklung, §. 107.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/728>, abgerufen am 18.04.2024.