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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Mah
uns in höherer Würde. Wahrscheinlich ist sie in
ihrer ersten Jugend, wie die andern schönen Künste,
eine bloße Belustigerin gewesen. Schon in den Far-
ben allein, wenn auch keine Zeichnung dazu kommt,
liegt Annehmlichkeit: noch halb wilde Völker wer-
den davon gerührt, sammeln die schönsten Federn
der Vögel, um ihre Kleider damit zu schmüken, die
lebhaftesten bunten Muscheln, und die glänzendsten
Steine, um Zierrathen davon zu machen. Viel-
leicht hat es lange gewähret, ehe man gewahr wor-
den, daß Farben mit Zeichnung verbunden, ein noch
mannigfaltigeres Ergözen verursachen; denn der
Wachsthum der Kenntnisse und des Geschmaks ist
unbegreiflich langsam. Aber erst nachdem man die-
ses gemerkt hatte, wurd der erste Keim der Mahle-
rey gebildet, die in ihrer ursprünglichen Natur
nichts anders ist, als eine Nachahmung sichtbarer
Gegenstände auf flachem Grund, vermittelst Zeich-
nung und Farbe.

Schweerlich wird diese Nachahmung in den ersten
Zeiten etwas anderes zum Grunde gehabt haben,
als die Belustigung der Sinnen und der Einbildungs-
kraft, die überall bey gemahlten Gegenständen sich
mehr vorstellt, als die Sinnen würklich empfinden.
Aber schon bey dieser eingeschränkten Absicht hatte
die Mahlerey ein edles und weites Feld zur Uebung
vor sich: edel, weil sie die allweise und allwolthätige
Natur nachahmete, die überall Lieblichkeit in Farben
und Formen verbreitet hat; weit, weil die Mannig-
faltigkeit des Angenehmen dieser Art, unermeßlich
ist. Noch izt, da die Kunst durch manches Jahr-
hundert und durch die Anstrengung der größten Ge-
nien in ihren Kräften und Absichten erhöhet worden,
ist sie auch in ihrem eingeschränkteren Wesen allein
betrachtet, eine Kunst, die mit Ehren neben der
Poesie und Musik stehen kann.

Alles was die so mannigfaltigen und zum Theil
so reichen Scenen der leblosen und lebenden Natur,
durch ihre Anmuthigkeit und durch so manchen Reiz,
vortheilhaftes in uns würken, kann auch diese vor-
nehmste Nachahmerin derselben ausrichten. Sie be-
fördert in empfindsamen Seelen die Fähigkeit feine-
res Vergnügen zu fühlen, die der Mensch vor dem
Thier voraus hat, und mildert dadurch seine Ge-
müthsart; sie macht, daß der Saamen des Geschmaks
an Uebereinstimmung, Regelmäßigkeit, Ordnung
und Schönheit, in der Seele aufkeimet, und treibet
thn allmählig bis zur Stärke einer erwachsenen
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Mah
Pflanze; sogar die ersten Keime des sittlichen Ge-
fühls werden durch sie ausgetrieben. (*) Wer wird
nicht gestehen, daß die Kunst alle reizenden Scenen
der sichtbaren Natur uns in wolgerathenen Nach-
ahmungen vorzulegen, eine Kunst von schäzbarem
Werth sey? (*)

Aber die Mahlerey hat noch etwas grösseres in
ihrer Natur, als dieses ist: durch Philosophie ge-
leitet, hat sie einen höheren Flug genommen. Sie
hat gelernt den Menschen nicht blos zu ergözen, son-
dern ihn auch zu unterrichten, sein Herz zum Gu-
ten zu leuken, und jede Art heilsamer Empfindungen
lebhaft in seinem Gemüthe zu erweken; das Feuer
der Tugend in ihm anzuflammen, und die Schrek-
nisse des Lasters ihm zur Warnung empfinden zu
lassen. Aristoteles hat schon angemerkt, (*) daß es
Gemählde gebe, die eben so kräftig sind einem la-
sterhaften Menschen in sich gehen zu machen, als
die moralischen Lehren des Weltweisen, und Grego-
rius von Nazianz
erwähnet in einen seiner Gedichte
eines würklichen Beyspieles hievon. Eine höchst wun-
derbare Würkung der Zeichnung und der Farben, die
freylich das menschliche Genie in seiner höchsten
Kraft nicht würde erfunden haben, wenn nicht die
Natur dies wunderbare Problem zuerst aufgelößt
hätte. Sie ist es, die uns denkende, innerlich und
unsichtbar handelnde, nach Gutem und Bösen stre-
bende, Vergnügen und Schmerzen fühlende Wesen,
sichtbar gemacht hat. Denn der menschliche Kör-
per ist nach seiner äußern Gestalt im Grunde nichts
anders, als seine sichtbare Seele mit allen ihren Ei-
genschaften. (*) Sanft und liebenswürdig ist eine
wolgeschaffene weibliche Seele, stark, unternehmend
und verständig die männliche; beydes zeigen uns
die Formen ihrer Körper. Es liegt keine gute noch
böse Eigenschaft in der Seele, die wir nicht durch
Gestalt und Farbe des Körpers fühlten. Also kann
der Mahler so gut die höhere, unsichtbare, sittliche
Welt, als die gröbere, körperliche mahlen.

Zwar nicht in dem ganzen Umfang und mit allen
kleinen Aeußerungen, wie es die Beredsamkeit und
Dichtkunst thun; denn die Mahlerey läßt uns nur
den Geist, nur das Kräftigste und Fühlbareste davon
sehen; aber mit desto mehr Nachdruk. Der liebens-
würdige Blik eines sanften, der wilde Blik eines zorni-
gen Gemüthes, geben uns weit lebhaftere Empfindun-
gen, als wenn wir den einen oder den andern Zu-
stand der Seele, die durch diese Blike sich zeigen, in

der
(*) S.
Künste,
nicht weit
vom An-
fange des
Artikels
S. 610.
(*) Man
sehe auch
den Art.
Land-
schaft.
(*) Polit.
L. V.
(*) S.
Schönheit.

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Mah
uns in hoͤherer Wuͤrde. Wahrſcheinlich iſt ſie in
ihrer erſten Jugend, wie die andern ſchoͤnen Kuͤnſte,
eine bloße Beluſtigerin geweſen. Schon in den Far-
ben allein, wenn auch keine Zeichnung dazu kommt,
liegt Annehmlichkeit: noch halb wilde Voͤlker wer-
den davon geruͤhrt, ſammeln die ſchoͤnſten Federn
der Voͤgel, um ihre Kleider damit zu ſchmuͤken, die
lebhafteſten bunten Muſcheln, und die glaͤnzendſten
Steine, um Zierrathen davon zu machen. Viel-
leicht hat es lange gewaͤhret, ehe man gewahr wor-
den, daß Farben mit Zeichnung verbunden, ein noch
mannigfaltigeres Ergoͤzen verurſachen; denn der
Wachsthum der Kenntniſſe und des Geſchmaks iſt
unbegreiflich langſam. Aber erſt nachdem man die-
ſes gemerkt hatte, wurd der erſte Keim der Mahle-
rey gebildet, die in ihrer urſpruͤnglichen Natur
nichts anders iſt, als eine Nachahmung ſichtbarer
Gegenſtaͤnde auf flachem Grund, vermittelſt Zeich-
nung und Farbe.

Schweerlich wird dieſe Nachahmung in den erſten
Zeiten etwas anderes zum Grunde gehabt haben,
als die Beluſtigung der Sinnen und der Einbildungs-
kraft, die uͤberall bey gemahlten Gegenſtaͤnden ſich
mehr vorſtellt, als die Sinnen wuͤrklich empfinden.
Aber ſchon bey dieſer eingeſchraͤnkten Abſicht hatte
die Mahlerey ein edles und weites Feld zur Uebung
vor ſich: edel, weil ſie die allweiſe und allwolthaͤtige
Natur nachahmete, die uͤberall Lieblichkeit in Farben
und Formen verbreitet hat; weit, weil die Mannig-
faltigkeit des Angenehmen dieſer Art, unermeßlich
iſt. Noch izt, da die Kunſt durch manches Jahr-
hundert und durch die Anſtrengung der groͤßten Ge-
nien in ihren Kraͤften und Abſichten erhoͤhet worden,
iſt ſie auch in ihrem eingeſchraͤnkteren Weſen allein
betrachtet, eine Kunſt, die mit Ehren neben der
Poeſie und Muſik ſtehen kann.

Alles was die ſo mannigfaltigen und zum Theil
ſo reichen Scenen der lebloſen und lebenden Natur,
durch ihre Anmuthigkeit und durch ſo manchen Reiz,
vortheilhaftes in uns wuͤrken, kann auch dieſe vor-
nehmſte Nachahmerin derſelben ausrichten. Sie be-
foͤrdert in empfindſamen Seelen die Faͤhigkeit feine-
res Vergnuͤgen zu fuͤhlen, die der Menſch vor dem
Thier voraus hat, und mildert dadurch ſeine Ge-
muͤthsart; ſie macht, daß der Saamen des Geſchmaks
an Uebereinſtimmung, Regelmaͤßigkeit, Ordnung
und Schoͤnheit, in der Seele aufkeimet, und treibet
thn allmaͤhlig bis zur Staͤrke einer erwachſenen
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Pflanze; ſogar die erſten Keime des ſittlichen Ge-
fuͤhls werden durch ſie ausgetrieben. (*) Wer wird
nicht geſtehen, daß die Kunſt alle reizenden Scenen
der ſichtbaren Natur uns in wolgerathenen Nach-
ahmungen vorzulegen, eine Kunſt von ſchaͤzbarem
Werth ſey? (*)

Aber die Mahlerey hat noch etwas groͤſſeres in
ihrer Natur, als dieſes iſt: durch Philoſophie ge-
leitet, hat ſie einen hoͤheren Flug genommen. Sie
hat gelernt den Menſchen nicht blos zu ergoͤzen, ſon-
dern ihn auch zu unterrichten, ſein Herz zum Gu-
ten zu leuken, und jede Art heilſamer Empfindungen
lebhaft in ſeinem Gemuͤthe zu erweken; das Feuer
der Tugend in ihm anzuflammen, und die Schrek-
niſſe des Laſters ihm zur Warnung empfinden zu
laſſen. Ariſtoteles hat ſchon angemerkt, (*) daß es
Gemaͤhlde gebe, die eben ſo kraͤftig ſind einem la-
ſterhaften Menſchen in ſich gehen zu machen, als
die moraliſchen Lehren des Weltweiſen, und Grego-
rius von Nazianz
erwaͤhnet in einen ſeiner Gedichte
eines wuͤrklichen Beyſpieles hievon. Eine hoͤchſt wun-
derbare Wuͤrkung der Zeichnung und der Farben, die
freylich das menſchliche Genie in ſeiner hoͤchſten
Kraft nicht wuͤrde erfunden haben, wenn nicht die
Natur dies wunderbare Problem zuerſt aufgeloͤßt
haͤtte. Sie iſt es, die uns denkende, innerlich und
unſichtbar handelnde, nach Gutem und Boͤſen ſtre-
bende, Vergnuͤgen und Schmerzen fuͤhlende Weſen,
ſichtbar gemacht hat. Denn der menſchliche Koͤr-
per iſt nach ſeiner aͤußern Geſtalt im Grunde nichts
anders, als ſeine ſichtbare Seele mit allen ihren Ei-
genſchaften. (*) Sanft und liebenswuͤrdig iſt eine
wolgeſchaffene weibliche Seele, ſtark, unternehmend
und verſtaͤndig die maͤnnliche; beydes zeigen uns
die Formen ihrer Koͤrper. Es liegt keine gute noch
boͤſe Eigenſchaft in der Seele, die wir nicht durch
Geſtalt und Farbe des Koͤrpers fuͤhlten. Alſo kann
der Mahler ſo gut die hoͤhere, unſichtbare, ſittliche
Welt, als die groͤbere, koͤrperliche mahlen.

Zwar nicht in dem ganzen Umfang und mit allen
kleinen Aeußerungen, wie es die Beredſamkeit und
Dichtkunſt thun; denn die Mahlerey laͤßt uns nur
den Geiſt, nur das Kraͤftigſte und Fuͤhlbareſte davon
ſehen; aber mit deſto mehr Nachdruk. Der liebens-
wuͤrdige Blik eines ſanften, der wilde Blik eines zorni-
gen Gemuͤthes, geben uns weit lebhaftere Empfindun-
gen, als wenn wir den einen oder den andern Zu-
ſtand der Seele, die durch dieſe Blike ſich zeigen, in

der
(*) S.
Kuͤnſte,
nicht weit
vom An-
fange des
Artikels
S. 610.
(*) Man
ſehe auch
den Art.
Land-
ſchaft.
(*) Polit.
L. V.
(*) S.
Schoͤnheit.
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[730[712]/0147] Mah Mah uns in hoͤherer Wuͤrde. Wahrſcheinlich iſt ſie in ihrer erſten Jugend, wie die andern ſchoͤnen Kuͤnſte, eine bloße Beluſtigerin geweſen. Schon in den Far- ben allein, wenn auch keine Zeichnung dazu kommt, liegt Annehmlichkeit: noch halb wilde Voͤlker wer- den davon geruͤhrt, ſammeln die ſchoͤnſten Federn der Voͤgel, um ihre Kleider damit zu ſchmuͤken, die lebhafteſten bunten Muſcheln, und die glaͤnzendſten Steine, um Zierrathen davon zu machen. Viel- leicht hat es lange gewaͤhret, ehe man gewahr wor- den, daß Farben mit Zeichnung verbunden, ein noch mannigfaltigeres Ergoͤzen verurſachen; denn der Wachsthum der Kenntniſſe und des Geſchmaks iſt unbegreiflich langſam. Aber erſt nachdem man die- ſes gemerkt hatte, wurd der erſte Keim der Mahle- rey gebildet, die in ihrer urſpruͤnglichen Natur nichts anders iſt, als eine Nachahmung ſichtbarer Gegenſtaͤnde auf flachem Grund, vermittelſt Zeich- nung und Farbe. Schweerlich wird dieſe Nachahmung in den erſten Zeiten etwas anderes zum Grunde gehabt haben, als die Beluſtigung der Sinnen und der Einbildungs- kraft, die uͤberall bey gemahlten Gegenſtaͤnden ſich mehr vorſtellt, als die Sinnen wuͤrklich empfinden. Aber ſchon bey dieſer eingeſchraͤnkten Abſicht hatte die Mahlerey ein edles und weites Feld zur Uebung vor ſich: edel, weil ſie die allweiſe und allwolthaͤtige Natur nachahmete, die uͤberall Lieblichkeit in Farben und Formen verbreitet hat; weit, weil die Mannig- faltigkeit des Angenehmen dieſer Art, unermeßlich iſt. Noch izt, da die Kunſt durch manches Jahr- hundert und durch die Anſtrengung der groͤßten Ge- nien in ihren Kraͤften und Abſichten erhoͤhet worden, iſt ſie auch in ihrem eingeſchraͤnkteren Weſen allein betrachtet, eine Kunſt, die mit Ehren neben der Poeſie und Muſik ſtehen kann. Alles was die ſo mannigfaltigen und zum Theil ſo reichen Scenen der lebloſen und lebenden Natur, durch ihre Anmuthigkeit und durch ſo manchen Reiz, vortheilhaftes in uns wuͤrken, kann auch dieſe vor- nehmſte Nachahmerin derſelben ausrichten. Sie be- foͤrdert in empfindſamen Seelen die Faͤhigkeit feine- res Vergnuͤgen zu fuͤhlen, die der Menſch vor dem Thier voraus hat, und mildert dadurch ſeine Ge- muͤthsart; ſie macht, daß der Saamen des Geſchmaks an Uebereinſtimmung, Regelmaͤßigkeit, Ordnung und Schoͤnheit, in der Seele aufkeimet, und treibet thn allmaͤhlig bis zur Staͤrke einer erwachſenen Pflanze; ſogar die erſten Keime des ſittlichen Ge- fuͤhls werden durch ſie ausgetrieben. (*) Wer wird nicht geſtehen, daß die Kunſt alle reizenden Scenen der ſichtbaren Natur uns in wolgerathenen Nach- ahmungen vorzulegen, eine Kunſt von ſchaͤzbarem Werth ſey? (*) Aber die Mahlerey hat noch etwas groͤſſeres in ihrer Natur, als dieſes iſt: durch Philoſophie ge- leitet, hat ſie einen hoͤheren Flug genommen. Sie hat gelernt den Menſchen nicht blos zu ergoͤzen, ſon- dern ihn auch zu unterrichten, ſein Herz zum Gu- ten zu leuken, und jede Art heilſamer Empfindungen lebhaft in ſeinem Gemuͤthe zu erweken; das Feuer der Tugend in ihm anzuflammen, und die Schrek- niſſe des Laſters ihm zur Warnung empfinden zu laſſen. Ariſtoteles hat ſchon angemerkt, (*) daß es Gemaͤhlde gebe, die eben ſo kraͤftig ſind einem la- ſterhaften Menſchen in ſich gehen zu machen, als die moraliſchen Lehren des Weltweiſen, und Grego- rius von Nazianz erwaͤhnet in einen ſeiner Gedichte eines wuͤrklichen Beyſpieles hievon. Eine hoͤchſt wun- derbare Wuͤrkung der Zeichnung und der Farben, die freylich das menſchliche Genie in ſeiner hoͤchſten Kraft nicht wuͤrde erfunden haben, wenn nicht die Natur dies wunderbare Problem zuerſt aufgeloͤßt haͤtte. Sie iſt es, die uns denkende, innerlich und unſichtbar handelnde, nach Gutem und Boͤſen ſtre- bende, Vergnuͤgen und Schmerzen fuͤhlende Weſen, ſichtbar gemacht hat. Denn der menſchliche Koͤr- per iſt nach ſeiner aͤußern Geſtalt im Grunde nichts anders, als ſeine ſichtbare Seele mit allen ihren Ei- genſchaften. (*) Sanft und liebenswuͤrdig iſt eine wolgeſchaffene weibliche Seele, ſtark, unternehmend und verſtaͤndig die maͤnnliche; beydes zeigen uns die Formen ihrer Koͤrper. Es liegt keine gute noch boͤſe Eigenſchaft in der Seele, die wir nicht durch Geſtalt und Farbe des Koͤrpers fuͤhlten. Alſo kann der Mahler ſo gut die hoͤhere, unſichtbare, ſittliche Welt, als die groͤbere, koͤrperliche mahlen. Zwar nicht in dem ganzen Umfang und mit allen kleinen Aeußerungen, wie es die Beredſamkeit und Dichtkunſt thun; denn die Mahlerey laͤßt uns nur den Geiſt, nur das Kraͤftigſte und Fuͤhlbareſte davon ſehen; aber mit deſto mehr Nachdruk. Der liebens- wuͤrdige Blik eines ſanften, der wilde Blik eines zorni- gen Gemuͤthes, geben uns weit lebhaftere Empfindun- gen, als wenn wir den einen oder den andern Zu- ſtand der Seele, die durch dieſe Blike ſich zeigen, in der (*) S. Kuͤnſte, nicht weit vom An- fange des Artikels S. 610. (*) Man ſehe auch den Art. Land- ſchaft. (*) Polit. L. V. (*) S. Schoͤnheit.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 730[712]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/147>, abgerufen am 28.03.2024.