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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Pol
Vermuthlich wird diese neue Erscheinung, die bey
allen ihren Fehlern viel fürtrefliches hat, da sie von
einem unbekannten Verfasser kommt, gegen den wol
noch Niemand eingenommen ist, eine nähere Be-
leuchtung der ganzen Art veranlassen. Hier ist der
vorher erwähnte Aufsaz.

"Die Griechen haben ihr Theater für das Werk-
zeug gebraucht, das Volk in den Empfindungen
von dem Wehrte popularer Grundsäze und Rechte
zu unterhalten. Jn Staaten, wo die Gemeinen
so großen Antheil an der Regierung nahmen, war
nichts bequämer zu diesem Ende. Da die Rechte
des Staats die Rechte des Volks waren, so erfor-
derte die gesunde Politik, daß es dieselben sich in dem
lebhaftesten Lichte vorstellete, und sein ganzes Herz
damit erwärmete.

Auf dem Theater der Staaten, in welchen die
Wolfarth und das ganze Schiksal der Nation Einem
oder Wenigen überlassen ist, wo die Mittel das Volk
glüklich zu machen, Staatsgeheimnisse sind, die in
dem Cabinette verschlossen bleiben, schien es nicht
allein überflüßig, sondern gefährlich, und dem un-
bedungenen Gehorsam zuwieder, daß den Gemeinen
Neigung zu Regierungsgeschäften eingepflanzt, oder
ihnen hohe Gedanken von popularen Vorzügen ein-
gepräget wurden. Darum haben die Genien, die
für solche Schaubühnen schrieben, die Nationalab-
sichten und Gesichtspunkten verlassen, und sich mit
persönlichen Angelegenheiten abgegeben.

Wo sollen wir in unsern Zeiten unter den freyesten
Staaten, denjenigen suchen, der das republikanische
Naturell der griechischen habe; der seine Landesrechte
mit dem Ernst und dem Eifer zu Herzen nehme,
welche wir bey den Alten bemerken? Jn größern
Republiken findet man ein Schauspiel von National-
absichten, von Staatsbedürfnissen, und öffentlichen
Geschäften, wo nicht mit Gefahr für die Regierung
begleitet, doch schweerfällig und nicht unterhaltend;
in kleinern und bedürftigen hat man billig Bedenken,
Schaubühnen zu eröffnen, die mit der Sparsam-
keit, mit der Einfalt der Sitten, und der Arbeit-
samkeit, die hier nothwendige Tugenden sind, sehr
schlecht zusammenstimmen.

Man hat gesagt, einige Staaten von popularer
Regierungsart, haben die Schaubühne der Franzo-
sen verworfen, weil sie die Liebe zur Monarchie ein-
pflanze. Jch sehe von dieser Seite keine Gefahr.
Die französischen Stüke fallen gemeiniglich auf per-
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Pol
sönliche Leidenschaften der Protagonisten, und nicht
auf allgemeine des Monarchen oder der Monarchie.
Sie heften die Aufmerksamkeit nicht auf den Staat;
sondern auf jeden besondern Gegenstand. Sie zer-
streuen das Gemüth, und nehmen den Privatmann,
nicht nur aus den Nationalen, sondern selbst aus
den bürgerlichen und wirthschaftlichen Empfindungen
und Geschäften heraus. Und dieses ist schon genug,
die Republiken davon abzuschreken, wiewol eben
deswegen der Monarch sie empfehlen mag.

Aber Schauspiele, die in dem Haupttone der
griechischen für freye Staaten verfasset sind, in wel-
chen die großen Angelegenheiten der Staaten behan-
delt werden, die Erhaltung oder der Untergang des
Staates, der populare Geist, das Aufnehmen oder
das Verderben der Sitten, die Landgeseze -- solche
Schauspiehle werden immer in den heutigen Repu-
bliken die Dienste thun, die sie in den Alten gethan
haben. Es wäre unglüklich wann man es sich daran
mangeln ließe, weil die theatralische Vorstellung
allzukostbare Zurüstungen erfordert, und zu viel
Zerstreuungen verursacht. Lasset uns die lebhafte
Vorstellung, die vom Schauen entstehet, beyseite
sezen; immer wird das Drama noch ganz brauch-
bar bleiben, Patriotisme, Naturrechte, Staats be-
griffe, populare Empfindungen, einzuprägen, wenn
man sich gleich einschränket, für den stillen Leser zu
schreiben, der in einer Erholungsstunde an dem
Pulte sizet; wenn man gleich die Leser selbst entbäh-
ret, welche für den Ernst der öffentlichen Geschäfte,
der Staatssorgen, zu bequem oder zu flüchtig sind.

Wenn bey der lebendigen Vorstellung auf der
Schaubühne die Würkung der Schauspiele nicht sehr
geschwächt werden muß, so braucht es eine außer-
ordentliche Kunst zu verhüten, daß die Täuschung
nicht unterbrochen werde. Wie leicht wird sie durch
die ungeschikte Decorationen verdorben, besonders
in unsern Theatern, die gegen die griechischen und
die römischen nicht viel besser als Quaksalberbühnen
sind! wie viel Arbeit hat nicht die Phantasie, wenn
der Betrug nicht durch das ungriechische und unrö-
mische Gewand, durch die Miene der Schauspiehler,
die man allzuvertraut kennt, durch die gemahlten
Scenen, die Leuchter, den Vorhang, die Beyhel-
fer, die Oeillades der Schönen, die lauten Einfälle
der Laune, oder der Cabale, aufgelößt werden soll!
Da die Einbildung im Cabinet nicht so von allen Sei-
ten überfallen wird, so kann sie sich mit ganzer

Kraft

[Spaltenumbruch]

Pol
Vermuthlich wird dieſe neue Erſcheinung, die bey
allen ihren Fehlern viel fuͤrtrefliches hat, da ſie von
einem unbekannten Verfaſſer kommt, gegen den wol
noch Niemand eingenommen iſt, eine naͤhere Be-
leuchtung der ganzen Art veranlaſſen. Hier iſt der
vorher erwaͤhnte Aufſaz.

„Die Griechen haben ihr Theater fuͤr das Werk-
zeug gebraucht, das Volk in den Empfindungen
von dem Wehrte popularer Grundſaͤze und Rechte
zu unterhalten. Jn Staaten, wo die Gemeinen
ſo großen Antheil an der Regierung nahmen, war
nichts bequaͤmer zu dieſem Ende. Da die Rechte
des Staats die Rechte des Volks waren, ſo erfor-
derte die geſunde Politik, daß es dieſelben ſich in dem
lebhafteſten Lichte vorſtellete, und ſein ganzes Herz
damit erwaͤrmete.

Auf dem Theater der Staaten, in welchen die
Wolfarth und das ganze Schikſal der Nation Einem
oder Wenigen uͤberlaſſen iſt, wo die Mittel das Volk
gluͤklich zu machen, Staatsgeheimniſſe ſind, die in
dem Cabinette verſchloſſen bleiben, ſchien es nicht
allein uͤberfluͤßig, ſondern gefaͤhrlich, und dem un-
bedungenen Gehorſam zuwieder, daß den Gemeinen
Neigung zu Regierungsgeſchaͤften eingepflanzt, oder
ihnen hohe Gedanken von popularen Vorzuͤgen ein-
gepraͤget wurden. Darum haben die Genien, die
fuͤr ſolche Schaubuͤhnen ſchrieben, die Nationalab-
ſichten und Geſichtspunkten verlaſſen, und ſich mit
perſoͤnlichen Angelegenheiten abgegeben.

Wo ſollen wir in unſern Zeiten unter den freyeſten
Staaten, denjenigen ſuchen, der das republikaniſche
Naturell der griechiſchen habe; der ſeine Landesrechte
mit dem Ernſt und dem Eifer zu Herzen nehme,
welche wir bey den Alten bemerken? Jn groͤßern
Republiken findet man ein Schauſpiel von National-
abſichten, von Staatsbeduͤrfniſſen, und oͤffentlichen
Geſchaͤften, wo nicht mit Gefahr fuͤr die Regierung
begleitet, doch ſchweerfaͤllig und nicht unterhaltend;
in kleinern und beduͤrftigen hat man billig Bedenken,
Schaubuͤhnen zu eroͤffnen, die mit der Sparſam-
keit, mit der Einfalt der Sitten, und der Arbeit-
ſamkeit, die hier nothwendige Tugenden ſind, ſehr
ſchlecht zuſammenſtimmen.

Man hat geſagt, einige Staaten von popularer
Regierungsart, haben die Schaubuͤhne der Franzo-
ſen verworfen, weil ſie die Liebe zur Monarchie ein-
pflanze. Jch ſehe von dieſer Seite keine Gefahr.
Die franzoͤſiſchen Stuͤke fallen gemeiniglich auf per-
[Spaltenumbruch]

Pol
ſoͤnliche Leidenſchaften der Protagoniſten, und nicht
auf allgemeine des Monarchen oder der Monarchie.
Sie heften die Aufmerkſamkeit nicht auf den Staat;
ſondern auf jeden beſondern Gegenſtand. Sie zer-
ſtreuen das Gemuͤth, und nehmen den Privatmann,
nicht nur aus den Nationalen, ſondern ſelbſt aus
den buͤrgerlichen und wirthſchaftlichen Empfindungen
und Geſchaͤften heraus. Und dieſes iſt ſchon genug,
die Republiken davon abzuſchreken, wiewol eben
deswegen der Monarch ſie empfehlen mag.

Aber Schauſpiele, die in dem Haupttone der
griechiſchen fuͤr freye Staaten verfaſſet ſind, in wel-
chen die großen Angelegenheiten der Staaten behan-
delt werden, die Erhaltung oder der Untergang des
Staates, der populare Geiſt, das Aufnehmen oder
das Verderben der Sitten, die Landgeſeze — ſolche
Schauſpiehle werden immer in den heutigen Repu-
bliken die Dienſte thun, die ſie in den Alten gethan
haben. Es waͤre ungluͤklich wann man es ſich daran
mangeln ließe, weil die theatraliſche Vorſtellung
allzukoſtbare Zuruͤſtungen erfordert, und zu viel
Zerſtreuungen verurſacht. Laſſet uns die lebhafte
Vorſtellung, die vom Schauen entſtehet, beyſeite
ſezen; immer wird das Drama noch ganz brauch-
bar bleiben, Patriotisme, Naturrechte, Staats be-
griffe, populare Empfindungen, einzupraͤgen, wenn
man ſich gleich einſchraͤnket, fuͤr den ſtillen Leſer zu
ſchreiben, der in einer Erholungsſtunde an dem
Pulte ſizet; wenn man gleich die Leſer ſelbſt entbaͤh-
ret, welche fuͤr den Ernſt der oͤffentlichen Geſchaͤfte,
der Staatsſorgen, zu bequem oder zu fluͤchtig ſind.

Wenn bey der lebendigen Vorſtellung auf der
Schaubuͤhne die Wuͤrkung der Schauſpiele nicht ſehr
geſchwaͤcht werden muß, ſo braucht es eine außer-
ordentliche Kunſt zu verhuͤten, daß die Taͤuſchung
nicht unterbrochen werde. Wie leicht wird ſie durch
die ungeſchikte Decorationen verdorben, beſonders
in unſern Theatern, die gegen die griechiſchen und
die roͤmiſchen nicht viel beſſer als Quakſalberbuͤhnen
ſind! wie viel Arbeit hat nicht die Phantaſie, wenn
der Betrug nicht durch das ungriechiſche und unroͤ-
miſche Gewand, durch die Miene der Schauſpiehler,
die man allzuvertraut kennt, durch die gemahlten
Scenen, die Leuchter, den Vorhang, die Beyhel-
fer, die Oeillades der Schoͤnen, die lauten Einfaͤlle
der Laune, oder der Cabale, aufgeloͤßt werden ſoll!
Da die Einbildung im Cabinet nicht ſo von allen Sei-
ten uͤberfallen wird, ſo kann ſie ſich mit ganzer

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[914[896]/0332] Pol Pol Vermuthlich wird dieſe neue Erſcheinung, die bey allen ihren Fehlern viel fuͤrtrefliches hat, da ſie von einem unbekannten Verfaſſer kommt, gegen den wol noch Niemand eingenommen iſt, eine naͤhere Be- leuchtung der ganzen Art veranlaſſen. Hier iſt der vorher erwaͤhnte Aufſaz. „Die Griechen haben ihr Theater fuͤr das Werk- zeug gebraucht, das Volk in den Empfindungen von dem Wehrte popularer Grundſaͤze und Rechte zu unterhalten. Jn Staaten, wo die Gemeinen ſo großen Antheil an der Regierung nahmen, war nichts bequaͤmer zu dieſem Ende. Da die Rechte des Staats die Rechte des Volks waren, ſo erfor- derte die geſunde Politik, daß es dieſelben ſich in dem lebhafteſten Lichte vorſtellete, und ſein ganzes Herz damit erwaͤrmete. Auf dem Theater der Staaten, in welchen die Wolfarth und das ganze Schikſal der Nation Einem oder Wenigen uͤberlaſſen iſt, wo die Mittel das Volk gluͤklich zu machen, Staatsgeheimniſſe ſind, die in dem Cabinette verſchloſſen bleiben, ſchien es nicht allein uͤberfluͤßig, ſondern gefaͤhrlich, und dem un- bedungenen Gehorſam zuwieder, daß den Gemeinen Neigung zu Regierungsgeſchaͤften eingepflanzt, oder ihnen hohe Gedanken von popularen Vorzuͤgen ein- gepraͤget wurden. Darum haben die Genien, die fuͤr ſolche Schaubuͤhnen ſchrieben, die Nationalab- ſichten und Geſichtspunkten verlaſſen, und ſich mit perſoͤnlichen Angelegenheiten abgegeben. Wo ſollen wir in unſern Zeiten unter den freyeſten Staaten, denjenigen ſuchen, der das republikaniſche Naturell der griechiſchen habe; der ſeine Landesrechte mit dem Ernſt und dem Eifer zu Herzen nehme, welche wir bey den Alten bemerken? Jn groͤßern Republiken findet man ein Schauſpiel von National- abſichten, von Staatsbeduͤrfniſſen, und oͤffentlichen Geſchaͤften, wo nicht mit Gefahr fuͤr die Regierung begleitet, doch ſchweerfaͤllig und nicht unterhaltend; in kleinern und beduͤrftigen hat man billig Bedenken, Schaubuͤhnen zu eroͤffnen, die mit der Sparſam- keit, mit der Einfalt der Sitten, und der Arbeit- ſamkeit, die hier nothwendige Tugenden ſind, ſehr ſchlecht zuſammenſtimmen. Man hat geſagt, einige Staaten von popularer Regierungsart, haben die Schaubuͤhne der Franzo- ſen verworfen, weil ſie die Liebe zur Monarchie ein- pflanze. Jch ſehe von dieſer Seite keine Gefahr. Die franzoͤſiſchen Stuͤke fallen gemeiniglich auf per- ſoͤnliche Leidenſchaften der Protagoniſten, und nicht auf allgemeine des Monarchen oder der Monarchie. Sie heften die Aufmerkſamkeit nicht auf den Staat; ſondern auf jeden beſondern Gegenſtand. Sie zer- ſtreuen das Gemuͤth, und nehmen den Privatmann, nicht nur aus den Nationalen, ſondern ſelbſt aus den buͤrgerlichen und wirthſchaftlichen Empfindungen und Geſchaͤften heraus. Und dieſes iſt ſchon genug, die Republiken davon abzuſchreken, wiewol eben deswegen der Monarch ſie empfehlen mag. Aber Schauſpiele, die in dem Haupttone der griechiſchen fuͤr freye Staaten verfaſſet ſind, in wel- chen die großen Angelegenheiten der Staaten behan- delt werden, die Erhaltung oder der Untergang des Staates, der populare Geiſt, das Aufnehmen oder das Verderben der Sitten, die Landgeſeze — ſolche Schauſpiehle werden immer in den heutigen Repu- bliken die Dienſte thun, die ſie in den Alten gethan haben. Es waͤre ungluͤklich wann man es ſich daran mangeln ließe, weil die theatraliſche Vorſtellung allzukoſtbare Zuruͤſtungen erfordert, und zu viel Zerſtreuungen verurſacht. Laſſet uns die lebhafte Vorſtellung, die vom Schauen entſtehet, beyſeite ſezen; immer wird das Drama noch ganz brauch- bar bleiben, Patriotisme, Naturrechte, Staats be- griffe, populare Empfindungen, einzupraͤgen, wenn man ſich gleich einſchraͤnket, fuͤr den ſtillen Leſer zu ſchreiben, der in einer Erholungsſtunde an dem Pulte ſizet; wenn man gleich die Leſer ſelbſt entbaͤh- ret, welche fuͤr den Ernſt der oͤffentlichen Geſchaͤfte, der Staatsſorgen, zu bequem oder zu fluͤchtig ſind. Wenn bey der lebendigen Vorſtellung auf der Schaubuͤhne die Wuͤrkung der Schauſpiele nicht ſehr geſchwaͤcht werden muß, ſo braucht es eine außer- ordentliche Kunſt zu verhuͤten, daß die Taͤuſchung nicht unterbrochen werde. Wie leicht wird ſie durch die ungeſchikte Decorationen verdorben, beſonders in unſern Theatern, die gegen die griechiſchen und die roͤmiſchen nicht viel beſſer als Quakſalberbuͤhnen ſind! wie viel Arbeit hat nicht die Phantaſie, wenn der Betrug nicht durch das ungriechiſche und unroͤ- miſche Gewand, durch die Miene der Schauſpiehler, die man allzuvertraut kennt, durch die gemahlten Scenen, die Leuchter, den Vorhang, die Beyhel- fer, die Oeillades der Schoͤnen, die lauten Einfaͤlle der Laune, oder der Cabale, aufgeloͤßt werden ſoll! Da die Einbildung im Cabinet nicht ſo von allen Sei- ten uͤberfallen wird, ſo kann ſie ſich mit ganzer Kraft

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 914[896]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/332>, abgerufen am 28.03.2024.