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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]

Rei
Poesie der Regern angetroffen wird. Gravina
merkt sehr gründlich an, daß in Jtalien, nachdem
man den feinen und gefälligen Fall des Verses, der
aus dem Sylbenmaaß entstehet, verlohren gehabt,
man sich an den Reim hat halten müssen. (+)

Vielleicht ist er auch daher entstanden, daß man
ihn für das bequämste Mittel gehalten, das Me-
trum,
oder das Maaß des Verses zu bestimmen.
Jn Versen, die durchaus einerley Füße haben, sind
nur vier Mittel, das Metrum zu bestimmen, näm-
lich: 1. Entweder, daß jeder Vers einen Saz der
Rede ausmache, dieses würde eine elende Monoto-
nie verursachen. 2. Oder daß nur der lezte Fuß
des Verses sich mit einem Wort endigte, die andern
Füße aber alle zu zwey Wörtern gehörten, wie z. B.
hier:
Er heu | chelt ih | rer Zärt | lichkeit |
Dieses würde die Versification beynahe unmöglich
machen. 3. Oder daß von zwey Versen einer ei-
nen männlichen, der andre durch eine angehängte
kurze Sylbe einen weiblichen Ausgang bekäme, wie
hier:
Jch aber steh und stampf und glü | he
Und flieg im Geiste hin zu ihr.

Aber dieses würde die Versarten zu sehr einschrän-
ken. 4. Endlich ist der Reim das vierte Mittel,
und schien um so viel bequämer, da er mit allen
möglichen Versarten konnte verbunden werden. Er
wird nothwendig, wo kein anderes Mittel da ist, zu-
sammengesezte Rhythmen zu unterscheiden. (*)

Da das Vorurtheil, daß der Reim den Versen
wesentlich sey, in Deutschland stark abgenommen
hat, und so gar meist verschwunden ist, die Mei-
nung aber, daß er eine zufällige Schönheit sey, auch
nach und nach abnihmt; so halten wir diese ganze
Materie für allzugeringe, um uns in eine nähere
Untersuchung, sowol über den Werth, als über die
Beschaffenheit des Reims einzulassen.

Wir wollen indessen den Reim, als ein Werk
der Mode, als eine Deke, die man für die Schwä-
che und Fehler des Verses zieht, als ein Hülfsmittel
des Gedächtnisses, als ein körperliches Mittel träge
Ohren zu reizen, gelten lassen. Aber wir können
nicht verbergen, daß wir ihn für ein Gefängnis hal-
ten, in welches die Gedanken und die Säze der
[Spaltenumbruch]

Rei
Rede eingesperrt werden. Wir wollen so gar zu-
geben, daß der Reim zur Zeit, da die Sprachen
noch in ihrer ersten Rohigkeit waren, wo es unmög-
lich war kurze Säze in einem dem Ohr schmeicheln-
den Abfall vorzutragen, nothwendig gewesen; uns
aber für dieses Geständnis dadurch schadlos halten,
daß wir ihn für überflüßig und gothisch erklären, so
bald die Sprache so weit gekommen, daß man ein-
zele, größere und kleinere Säze nach Wolklang und
Takt vortragen kann.

Rein.
(Musik.)

Man braucht dieses Wort bey zweyerley Gelegen-
heiten in der Musik, von einzeln Tönen, und von
Jntervallen. Man sagt eine Sayte, eine Flöte,
habe einen reinen Klang; die Stimme eines Sän-
gers sey vollkommen rein. Die Reinigkeit des Klan-
ges einer Sayte kommt daher, daß sie blos regulaire
oder harmonische Schwingungen macht, (*) und er
wird unrein, wenn diese durch andre Schwingun-
gen gestöhrt werden; welches geschieht, wenn die
Sayte nicht durchaus gleich dik ist, auch geschehen
kann, wenn sie zu wenig gespannt ist, und so schlecht
angeschlagen, oder gestrichen wird, daß sie nicht
gleich in ihrer ganzen Länge die Schwingungen
macht.

Durch reine Jntervalle versteht man die, deren bey-
den Töne genau die ihnen zukommenden Verhältnisse
haben; wenn z. B. die Octave genau 1/2, die Quinte 2/3
die große Terz 4/5 u. s. f. des Grundtones ist (*); über-
steigen sie dieses genaue Verhältnis, oder bleiben sie
darunter, so sind sie unrein. Es ist eine für den
Tonsezer wichtige Anmerkung, daß je vollkommener
das Consoniren eines Jntervalls ist, es um so viel
genauer rein seyn müsse. Denn da alle Orgeln
und Claviere temperirt werden müssen (*), so ist es
wichtig, daß das Abweichen von der Reinigkeit auf
die Jntervalle gelegt werde, die es am besten ver-
tragen.

Die Octave verträgt wegen ihrer ganz vollkom-
menen Harmonie gar keine Abweichung von ihrer
Reinigkeit. Die Quinte, welche nächst der Octav
am vollkommensten harmonirt, verträgt sehr wenig;
kein Comma, dadurch würde sie schon unangenehm.

Die
(+) [Spaltenumbruch]
E percio effendosi generalmente nell' uso commune
perduta la distinzion delicata et gentile del verso dalla prosa,
[Spaltenumbruch] per mezzo de piedi; s'introdusse quella grossolana, violenta et
stomachevole delle desinenze simili V. Ragion poetica. L. II.
(*) S.
Rhythmus
(*) S.
Klang.
(*) S.
Consonanz.
(*) S.
Tempera-
tur.

[Spaltenumbruch]

Rei
Poeſie der Regern angetroffen wird. Gravina
merkt ſehr gruͤndlich an, daß in Jtalien, nachdem
man den feinen und gefaͤlligen Fall des Verſes, der
aus dem Sylbenmaaß entſtehet, verlohren gehabt,
man ſich an den Reim hat halten muͤſſen. (†)

Vielleicht iſt er auch daher entſtanden, daß man
ihn fuͤr das bequaͤmſte Mittel gehalten, das Me-
trum,
oder das Maaß des Verſes zu beſtimmen.
Jn Verſen, die durchaus einerley Fuͤße haben, ſind
nur vier Mittel, das Metrum zu beſtimmen, naͤm-
lich: 1. Entweder, daß jeder Vers einen Saz der
Rede ausmache, dieſes wuͤrde eine elende Monoto-
nie verurſachen. 2. Oder daß nur der lezte Fuß
des Verſes ſich mit einem Wort endigte, die andern
Fuͤße aber alle zu zwey Woͤrtern gehoͤrten, wie z. B.
hier:
Er heu | chelt ih | rer Zaͤrt | lichkeit |
Dieſes wuͤrde die Verſification beynahe unmoͤglich
machen. 3. Oder daß von zwey Verſen einer ei-
nen maͤnnlichen, der andre durch eine angehaͤngte
kurze Sylbe einen weiblichen Ausgang bekaͤme, wie
hier:
Jch aber ſteh und ſtampf und gluͤ | he
Und flieg im Geiſte hin zu ihr.

Aber dieſes wuͤrde die Versarten zu ſehr einſchraͤn-
ken. 4. Endlich iſt der Reim das vierte Mittel,
und ſchien um ſo viel bequaͤmer, da er mit allen
moͤglichen Versarten konnte verbunden werden. Er
wird nothwendig, wo kein anderes Mittel da iſt, zu-
ſammengeſezte Rhythmen zu unterſcheiden. (*)

Da das Vorurtheil, daß der Reim den Verſen
weſentlich ſey, in Deutſchland ſtark abgenommen
hat, und ſo gar meiſt verſchwunden iſt, die Mei-
nung aber, daß er eine zufaͤllige Schoͤnheit ſey, auch
nach und nach abnihmt; ſo halten wir dieſe ganze
Materie fuͤr allzugeringe, um uns in eine naͤhere
Unterſuchung, ſowol uͤber den Werth, als uͤber die
Beſchaffenheit des Reims einzulaſſen.

Wir wollen indeſſen den Reim, als ein Werk
der Mode, als eine Deke, die man fuͤr die Schwaͤ-
che und Fehler des Verſes zieht, als ein Huͤlfsmittel
des Gedaͤchtniſſes, als ein koͤrperliches Mittel traͤge
Ohren zu reizen, gelten laſſen. Aber wir koͤnnen
nicht verbergen, daß wir ihn fuͤr ein Gefaͤngnis hal-
ten, in welches die Gedanken und die Saͤze der
[Spaltenumbruch]

Rei
Rede eingeſperrt werden. Wir wollen ſo gar zu-
geben, daß der Reim zur Zeit, da die Sprachen
noch in ihrer erſten Rohigkeit waren, wo es unmoͤg-
lich war kurze Saͤze in einem dem Ohr ſchmeicheln-
den Abfall vorzutragen, nothwendig geweſen; uns
aber fuͤr dieſes Geſtaͤndnis dadurch ſchadlos halten,
daß wir ihn fuͤr uͤberfluͤßig und gothiſch erklaͤren, ſo
bald die Sprache ſo weit gekommen, daß man ein-
zele, groͤßere und kleinere Saͤze nach Wolklang und
Takt vortragen kann.

Rein.
(Muſik.)

Man braucht dieſes Wort bey zweyerley Gelegen-
heiten in der Muſik, von einzeln Toͤnen, und von
Jntervallen. Man ſagt eine Sayte, eine Floͤte,
habe einen reinen Klang; die Stimme eines Saͤn-
gers ſey vollkommen rein. Die Reinigkeit des Klan-
ges einer Sayte kommt daher, daß ſie blos regulaire
oder harmoniſche Schwingungen macht, (*) und er
wird unrein, wenn dieſe durch andre Schwingun-
gen geſtoͤhrt werden; welches geſchieht, wenn die
Sayte nicht durchaus gleich dik iſt, auch geſchehen
kann, wenn ſie zu wenig geſpannt iſt, und ſo ſchlecht
angeſchlagen, oder geſtrichen wird, daß ſie nicht
gleich in ihrer ganzen Laͤnge die Schwingungen
macht.

Durch reine Jntervalle verſteht man die, deren bey-
den Toͤne genau die ihnen zukommenden Verhaͤltniſſe
haben; wenn z. B. die Octave genau ½, die Quinte ⅔
die große Terz ⅘ u. ſ. f. des Grundtones iſt (*); uͤber-
ſteigen ſie dieſes genaue Verhaͤltnis, oder bleiben ſie
darunter, ſo ſind ſie unrein. Es iſt eine fuͤr den
Tonſezer wichtige Anmerkung, daß je vollkommener
das Conſoniren eines Jntervalls iſt, es um ſo viel
genauer rein ſeyn muͤſſe. Denn da alle Orgeln
und Claviere temperirt werden muͤſſen (*), ſo iſt es
wichtig, daß das Abweichen von der Reinigkeit auf
die Jntervalle gelegt werde, die es am beſten ver-
tragen.

Die Octave vertraͤgt wegen ihrer ganz vollkom-
menen Harmonie gar keine Abweichung von ihrer
Reinigkeit. Die Quinte, welche naͤchſt der Octav
am vollkommenſten harmonirt, vertraͤgt ſehr wenig;
kein Comma, dadurch wuͤrde ſie ſchon unangenehm.

Die
(†) [Spaltenumbruch]
E percio effendoſi generalmente nell’ uſo commune
perduta la diſtinzion delicata et gentile del verſo dalla proſa,
[Spaltenumbruch] per mezzo de piedi; ſ’introduſſe quella groſſolana, violenta et
ſtomachevole delle deſinenze ſimili V. Ragion poetica. L. II.
(*) S.
Rhythmus
(*) S.
Klang.
(*) S.
Conſonanz.
(*) S.
Tempera-
tur.
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[972[954]/0401] Rei Rei Poeſie der Regern angetroffen wird. Gravina merkt ſehr gruͤndlich an, daß in Jtalien, nachdem man den feinen und gefaͤlligen Fall des Verſes, der aus dem Sylbenmaaß entſtehet, verlohren gehabt, man ſich an den Reim hat halten muͤſſen. (†) Vielleicht iſt er auch daher entſtanden, daß man ihn fuͤr das bequaͤmſte Mittel gehalten, das Me- trum, oder das Maaß des Verſes zu beſtimmen. Jn Verſen, die durchaus einerley Fuͤße haben, ſind nur vier Mittel, das Metrum zu beſtimmen, naͤm- lich: 1. Entweder, daß jeder Vers einen Saz der Rede ausmache, dieſes wuͤrde eine elende Monoto- nie verurſachen. 2. Oder daß nur der lezte Fuß des Verſes ſich mit einem Wort endigte, die andern Fuͤße aber alle zu zwey Woͤrtern gehoͤrten, wie z. B. hier: Er heu | chelt ih | rer Zaͤrt | lichkeit | Dieſes wuͤrde die Verſification beynahe unmoͤglich machen. 3. Oder daß von zwey Verſen einer ei- nen maͤnnlichen, der andre durch eine angehaͤngte kurze Sylbe einen weiblichen Ausgang bekaͤme, wie hier: Jch aber ſteh und ſtampf und gluͤ | he Und flieg im Geiſte hin zu ihr. Aber dieſes wuͤrde die Versarten zu ſehr einſchraͤn- ken. 4. Endlich iſt der Reim das vierte Mittel, und ſchien um ſo viel bequaͤmer, da er mit allen moͤglichen Versarten konnte verbunden werden. Er wird nothwendig, wo kein anderes Mittel da iſt, zu- ſammengeſezte Rhythmen zu unterſcheiden. (*) Da das Vorurtheil, daß der Reim den Verſen weſentlich ſey, in Deutſchland ſtark abgenommen hat, und ſo gar meiſt verſchwunden iſt, die Mei- nung aber, daß er eine zufaͤllige Schoͤnheit ſey, auch nach und nach abnihmt; ſo halten wir dieſe ganze Materie fuͤr allzugeringe, um uns in eine naͤhere Unterſuchung, ſowol uͤber den Werth, als uͤber die Beſchaffenheit des Reims einzulaſſen. Wir wollen indeſſen den Reim, als ein Werk der Mode, als eine Deke, die man fuͤr die Schwaͤ- che und Fehler des Verſes zieht, als ein Huͤlfsmittel des Gedaͤchtniſſes, als ein koͤrperliches Mittel traͤge Ohren zu reizen, gelten laſſen. Aber wir koͤnnen nicht verbergen, daß wir ihn fuͤr ein Gefaͤngnis hal- ten, in welches die Gedanken und die Saͤze der Rede eingeſperrt werden. Wir wollen ſo gar zu- geben, daß der Reim zur Zeit, da die Sprachen noch in ihrer erſten Rohigkeit waren, wo es unmoͤg- lich war kurze Saͤze in einem dem Ohr ſchmeicheln- den Abfall vorzutragen, nothwendig geweſen; uns aber fuͤr dieſes Geſtaͤndnis dadurch ſchadlos halten, daß wir ihn fuͤr uͤberfluͤßig und gothiſch erklaͤren, ſo bald die Sprache ſo weit gekommen, daß man ein- zele, groͤßere und kleinere Saͤze nach Wolklang und Takt vortragen kann. Rein. (Muſik.) Man braucht dieſes Wort bey zweyerley Gelegen- heiten in der Muſik, von einzeln Toͤnen, und von Jntervallen. Man ſagt eine Sayte, eine Floͤte, habe einen reinen Klang; die Stimme eines Saͤn- gers ſey vollkommen rein. Die Reinigkeit des Klan- ges einer Sayte kommt daher, daß ſie blos regulaire oder harmoniſche Schwingungen macht, (*) und er wird unrein, wenn dieſe durch andre Schwingun- gen geſtoͤhrt werden; welches geſchieht, wenn die Sayte nicht durchaus gleich dik iſt, auch geſchehen kann, wenn ſie zu wenig geſpannt iſt, und ſo ſchlecht angeſchlagen, oder geſtrichen wird, daß ſie nicht gleich in ihrer ganzen Laͤnge die Schwingungen macht. Durch reine Jntervalle verſteht man die, deren bey- den Toͤne genau die ihnen zukommenden Verhaͤltniſſe haben; wenn z. B. die Octave genau ½, die Quinte ⅔ die große Terz ⅘ u. ſ. f. des Grundtones iſt (*); uͤber- ſteigen ſie dieſes genaue Verhaͤltnis, oder bleiben ſie darunter, ſo ſind ſie unrein. Es iſt eine fuͤr den Tonſezer wichtige Anmerkung, daß je vollkommener das Conſoniren eines Jntervalls iſt, es um ſo viel genauer rein ſeyn muͤſſe. Denn da alle Orgeln und Claviere temperirt werden muͤſſen (*), ſo iſt es wichtig, daß das Abweichen von der Reinigkeit auf die Jntervalle gelegt werde, die es am beſten ver- tragen. Die Octave vertraͤgt wegen ihrer ganz vollkom- menen Harmonie gar keine Abweichung von ihrer Reinigkeit. Die Quinte, welche naͤchſt der Octav am vollkommenſten harmonirt, vertraͤgt ſehr wenig; kein Comma, dadurch wuͤrde ſie ſchon unangenehm. Die (†) E percio effendoſi generalmente nell’ uſo commune perduta la diſtinzion delicata et gentile del verſo dalla proſa, per mezzo de piedi; ſ’introduſſe quella groſſolana, violenta et ſtomachevole delle deſinenze ſimili V. Ragion poetica. L. II. (*) S. Rhythmus (*) S. Klang. (*) S. Conſonanz. (*) S. Tempera- tur.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 972[954]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/401>, abgerufen am 20.04.2024.