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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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sich selbst immer mehr zu bilden, und endlich dahin
zu gelangen, wo er, ohne große Gefahr sich in einer
unschiklichen Gestalt zu zeigen, vor das Publicum
treten kann.

Jst der Schriftsteller sich bewußt, daß er unter
gehöriger Vorsichtigkeit es wagen könne, durch seine
Schreibart seinen Charakter an den Tag zu legen;
so hat er nun auch ferner in jedem besondern Falle
nöthig, das Verhältnis dieses Charakters gegen
seine Materie genau zu überlegen, damit er nichts
unternehme, das seiner Art zuwieder sey. Will er
scherzen, oder sich in ernsthafter Würde zeigen; will
er wizig, oder empfindsam schreiben; so muß er
auch versichert seyn, daß der Charakter, den er an-
zunehmen gedenkt, seinem Naturell, oder Tempe-
rament nicht zuwieder sey. Denn durch Zwang
und Nachdenken richtet man gewiß nichts aus, wo
der natürliche Trieb fehlet. Wem die Natur eine
lachende Laune versagt hat, dem wird es gewiß nicht
glüken, sich in seiner Schreibart, als einen ächten
Lacher zu zeigen. Darum ist es höchst wichtig, daß
jeder Schriftsteller sich selbst kenne, und in seiner
Art bleibe.

Dieses sind also die zwey Hauptmaximen, die
man zu Erreichung einer guten Schreibart befolgen
muß. Aber allein find sie noch nicht hinreichend
zum Zwek zu führen. Zwey eben so nothwendige
Eigenschaften müssen noch hinzukommen, nämlich:
eine völlig geläufige Kenntnis der Sachen, über die
man schreibt, und der Sprache, die man zum Aus-
druk braucht.

Die gute Schreibart erfodert ein völlig freyes
und durch keine Art des Zwanges gehemmtes Ver-
fahren. Wer seine Materie nicht völlig besizt, kann
nicht ohne Zwang, ohne Ungewißheit, ohne einige
Aengstlichkeit davon sprechen, er müßte denn ein
völlig leichtsinniger Kopf seyn. So lange der Geist
durch die Ungewißheit und Dunkelheit der Materie
gehemmt ist, kann die Rede nicht frey fließen. So
wie ein Tänzer die Leichtigkeit und Annehmlichkeit
seiner Stellungen und Bewegungen nicht zeigen
kann, wenn er einen ihm noch nicht geläufigen Tanz
mitmachen soll; so kann auch ein Schriftsteller,
wenn er sonst noch so gut schriebe, die Schreibart
nicht in ihrer Vollkommenheit zeigen, wenn ihm
seine Materie nicht geläufig ist. Darum laß er es,
ehe er die Feder ansezet, seine erste Sorge seyn,
alles, was zu seiner Materie gehöret, zu sammeln,
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wol zu überlegen, richtig zu ordnen, und sich so ge-
nau bekannt zu machen, daß er ohne Zwang und
mit völliger Zuversicht davon sprechen könne.

Eben diese vollkommene Kenntnis und Geläufig-
keit, wird auch in Ansehung der Sprach erfodert.
Dieses ist aber zu offenbar, als daß es einer nähern
Ausführung bedürfte. Wem nicht die Wörter und
Redensarten im Ueberflus zuströhmen, der hat
auch nicht die freye Wahl, sie dem Charakter seiner
Materie, und seiner Gedanken gemäß zu wählen.

Aus diesem allen erhellet nun, was für eine
schweere Sach es sey, zu einer guten Schreibart zu
gelangen; wie viel natürliche Gaben, wie viel Kennt-
nis, und wie viel Fertigkeit im Denken dazu er-
fodert werde. Und doch muß nun zu allem die-
sen noch die Uebung hinzukommen, ohne welche
man nicht vollkommen werden kann. Wer noch so
geübt ist im Denken und im Sprechen mit sich selbst,
wird allemal noch große Schwierigkeiten finden,
das, was er sich selbst richtig und gut vorstellt, an-
dern eben so zu sagen. Die Ausübung hat in allen
Dingen ihre eigenen Schwierigkeiten, die nur durch
anhaltendes Arbeiten überwunden werden. Wer
zu einer wahren Fertigkeit in der guten Schreibart
gelangen will, muß sich täglich darin üben. Hierzu
aber braucht er nicht nothwendig Papier und Feder;
es giebt noch ein bequämers Mittel dazu. Man
därf nur in den stillen Unterredungen mit sich selbst,
oder in Gesprächen, die man blos in Gedanken mit
andern führet, aufmerksam auf das seyn, was zur
Schreibart gehöret. Da kann man in kurzer Zeit,
und ohne Papier zu verschwenden, seine Redensarten
und Säze vielfältig ändern, bis man glaubt das
beste getroffen zu haben. Es ist sehr wichtig, daß
man dergleichen Uebungen mit sich selbst fleißig trei-
be. Wer mit sich nachläßig spricht, und nicht bey
jedem Gedanken, den er sich vorsagt, auf den besten
Ausdruk sieht, und so lange sucht, bis er glaubt,
ihn gefunden zu haben, der wird auch schweerlich zu
irgend einem beträchtlichen Grad der guten Schreib-
art gelangen.

Sehr viel kann man auch durch den täglichen
Umgang mit den besten Schriftstellern gewinnen,
und, wer hiezu glüklich genug ist, durch den würk-
lich lebendigen Umgang mit Personen, die es in
der Kunst zu reden, zu einem hohen Grad der Voll-
kommenheit gebracht haben. Wer da Gefühl ge-
nug hat, wird alle Augenblik durch vorzügliche, bis-

weilen

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ſich ſelbſt immer mehr zu bilden, und endlich dahin
zu gelangen, wo er, ohne große Gefahr ſich in einer
unſchiklichen Geſtalt zu zeigen, vor das Publicum
treten kann.

Jſt der Schriftſteller ſich bewußt, daß er unter
gehoͤriger Vorſichtigkeit es wagen koͤnne, durch ſeine
Schreibart ſeinen Charakter an den Tag zu legen;
ſo hat er nun auch ferner in jedem beſondern Falle
noͤthig, das Verhaͤltnis dieſes Charakters gegen
ſeine Materie genau zu uͤberlegen, damit er nichts
unternehme, das ſeiner Art zuwieder ſey. Will er
ſcherzen, oder ſich in ernſthafter Wuͤrde zeigen; will
er wizig, oder empfindſam ſchreiben; ſo muß er
auch verſichert ſeyn, daß der Charakter, den er an-
zunehmen gedenkt, ſeinem Naturell, oder Tempe-
rament nicht zuwieder ſey. Denn durch Zwang
und Nachdenken richtet man gewiß nichts aus, wo
der natuͤrliche Trieb fehlet. Wem die Natur eine
lachende Laune verſagt hat, dem wird es gewiß nicht
gluͤken, ſich in ſeiner Schreibart, als einen aͤchten
Lacher zu zeigen. Darum iſt es hoͤchſt wichtig, daß
jeder Schriftſteller ſich ſelbſt kenne, und in ſeiner
Art bleibe.

Dieſes ſind alſo die zwey Hauptmaximen, die
man zu Erreichung einer guten Schreibart befolgen
muß. Aber allein find ſie noch nicht hinreichend
zum Zwek zu fuͤhren. Zwey eben ſo nothwendige
Eigenſchaften muͤſſen noch hinzukommen, naͤmlich:
eine voͤllig gelaͤufige Kenntnis der Sachen, uͤber die
man ſchreibt, und der Sprache, die man zum Aus-
druk braucht.

Die gute Schreibart erfodert ein voͤllig freyes
und durch keine Art des Zwanges gehemmtes Ver-
fahren. Wer ſeine Materie nicht voͤllig beſizt, kann
nicht ohne Zwang, ohne Ungewißheit, ohne einige
Aengſtlichkeit davon ſprechen, er muͤßte denn ein
voͤllig leichtſinniger Kopf ſeyn. So lange der Geiſt
durch die Ungewißheit und Dunkelheit der Materie
gehemmt iſt, kann die Rede nicht frey fließen. So
wie ein Taͤnzer die Leichtigkeit und Annehmlichkeit
ſeiner Stellungen und Bewegungen nicht zeigen
kann, wenn er einen ihm noch nicht gelaͤufigen Tanz
mitmachen ſoll; ſo kann auch ein Schriftſteller,
wenn er ſonſt noch ſo gut ſchriebe, die Schreibart
nicht in ihrer Vollkommenheit zeigen, wenn ihm
ſeine Materie nicht gelaͤufig iſt. Darum laß er es,
ehe er die Feder anſezet, ſeine erſte Sorge ſeyn,
alles, was zu ſeiner Materie gehoͤret, zu ſammeln,
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wol zu uͤberlegen, richtig zu ordnen, und ſich ſo ge-
nau bekannt zu machen, daß er ohne Zwang und
mit voͤlliger Zuverſicht davon ſprechen koͤnne.

Eben dieſe vollkommene Kenntnis und Gelaͤufig-
keit, wird auch in Anſehung der Sprach erfodert.
Dieſes iſt aber zu offenbar, als daß es einer naͤhern
Ausfuͤhrung beduͤrfte. Wem nicht die Woͤrter und
Redensarten im Ueberflus zuſtroͤhmen, der hat
auch nicht die freye Wahl, ſie dem Charakter ſeiner
Materie, und ſeiner Gedanken gemaͤß zu waͤhlen.

Aus dieſem allen erhellet nun, was fuͤr eine
ſchweere Sach es ſey, zu einer guten Schreibart zu
gelangen; wie viel natuͤrliche Gaben, wie viel Kennt-
nis, und wie viel Fertigkeit im Denken dazu er-
fodert werde. Und doch muß nun zu allem die-
ſen noch die Uebung hinzukommen, ohne welche
man nicht vollkommen werden kann. Wer noch ſo
geuͤbt iſt im Denken und im Sprechen mit ſich ſelbſt,
wird allemal noch große Schwierigkeiten finden,
das, was er ſich ſelbſt richtig und gut vorſtellt, an-
dern eben ſo zu ſagen. Die Ausuͤbung hat in allen
Dingen ihre eigenen Schwierigkeiten, die nur durch
anhaltendes Arbeiten uͤberwunden werden. Wer
zu einer wahren Fertigkeit in der guten Schreibart
gelangen will, muß ſich taͤglich darin uͤben. Hierzu
aber braucht er nicht nothwendig Papier und Feder;
es giebt noch ein bequaͤmers Mittel dazu. Man
daͤrf nur in den ſtillen Unterredungen mit ſich ſelbſt,
oder in Geſpraͤchen, die man blos in Gedanken mit
andern fuͤhret, aufmerkſam auf das ſeyn, was zur
Schreibart gehoͤret. Da kann man in kurzer Zeit,
und ohne Papier zu verſchwenden, ſeine Redensarten
und Saͤze vielfaͤltig aͤndern, bis man glaubt das
beſte getroffen zu haben. Es iſt ſehr wichtig, daß
man dergleichen Uebungen mit ſich ſelbſt fleißig trei-
be. Wer mit ſich nachlaͤßig ſpricht, und nicht bey
jedem Gedanken, den er ſich vorſagt, auf den beſten
Ausdruk ſieht, und ſo lange ſucht, bis er glaubt,
ihn gefunden zu haben, der wird auch ſchweerlich zu
irgend einem betraͤchtlichen Grad der guten Schreib-
art gelangen.

Sehr viel kann man auch durch den taͤglichen
Umgang mit den beſten Schriftſtellern gewinnen,
und, wer hiezu gluͤklich genug iſt, durch den wuͤrk-
lich lebendigen Umgang mit Perſonen, die es in
der Kunſt zu reden, zu einem hohen Grad der Voll-
kommenheit gebracht haben. Wer da Gefuͤhl ge-
nug hat, wird alle Augenblik durch vorzuͤgliche, bis-

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[1054[1036]/0483] Schr Schr ſich ſelbſt immer mehr zu bilden, und endlich dahin zu gelangen, wo er, ohne große Gefahr ſich in einer unſchiklichen Geſtalt zu zeigen, vor das Publicum treten kann. Jſt der Schriftſteller ſich bewußt, daß er unter gehoͤriger Vorſichtigkeit es wagen koͤnne, durch ſeine Schreibart ſeinen Charakter an den Tag zu legen; ſo hat er nun auch ferner in jedem beſondern Falle noͤthig, das Verhaͤltnis dieſes Charakters gegen ſeine Materie genau zu uͤberlegen, damit er nichts unternehme, das ſeiner Art zuwieder ſey. Will er ſcherzen, oder ſich in ernſthafter Wuͤrde zeigen; will er wizig, oder empfindſam ſchreiben; ſo muß er auch verſichert ſeyn, daß der Charakter, den er an- zunehmen gedenkt, ſeinem Naturell, oder Tempe- rament nicht zuwieder ſey. Denn durch Zwang und Nachdenken richtet man gewiß nichts aus, wo der natuͤrliche Trieb fehlet. Wem die Natur eine lachende Laune verſagt hat, dem wird es gewiß nicht gluͤken, ſich in ſeiner Schreibart, als einen aͤchten Lacher zu zeigen. Darum iſt es hoͤchſt wichtig, daß jeder Schriftſteller ſich ſelbſt kenne, und in ſeiner Art bleibe. Dieſes ſind alſo die zwey Hauptmaximen, die man zu Erreichung einer guten Schreibart befolgen muß. Aber allein find ſie noch nicht hinreichend zum Zwek zu fuͤhren. Zwey eben ſo nothwendige Eigenſchaften muͤſſen noch hinzukommen, naͤmlich: eine voͤllig gelaͤufige Kenntnis der Sachen, uͤber die man ſchreibt, und der Sprache, die man zum Aus- druk braucht. Die gute Schreibart erfodert ein voͤllig freyes und durch keine Art des Zwanges gehemmtes Ver- fahren. Wer ſeine Materie nicht voͤllig beſizt, kann nicht ohne Zwang, ohne Ungewißheit, ohne einige Aengſtlichkeit davon ſprechen, er muͤßte denn ein voͤllig leichtſinniger Kopf ſeyn. So lange der Geiſt durch die Ungewißheit und Dunkelheit der Materie gehemmt iſt, kann die Rede nicht frey fließen. So wie ein Taͤnzer die Leichtigkeit und Annehmlichkeit ſeiner Stellungen und Bewegungen nicht zeigen kann, wenn er einen ihm noch nicht gelaͤufigen Tanz mitmachen ſoll; ſo kann auch ein Schriftſteller, wenn er ſonſt noch ſo gut ſchriebe, die Schreibart nicht in ihrer Vollkommenheit zeigen, wenn ihm ſeine Materie nicht gelaͤufig iſt. Darum laß er es, ehe er die Feder anſezet, ſeine erſte Sorge ſeyn, alles, was zu ſeiner Materie gehoͤret, zu ſammeln, wol zu uͤberlegen, richtig zu ordnen, und ſich ſo ge- nau bekannt zu machen, daß er ohne Zwang und mit voͤlliger Zuverſicht davon ſprechen koͤnne. Eben dieſe vollkommene Kenntnis und Gelaͤufig- keit, wird auch in Anſehung der Sprach erfodert. Dieſes iſt aber zu offenbar, als daß es einer naͤhern Ausfuͤhrung beduͤrfte. Wem nicht die Woͤrter und Redensarten im Ueberflus zuſtroͤhmen, der hat auch nicht die freye Wahl, ſie dem Charakter ſeiner Materie, und ſeiner Gedanken gemaͤß zu waͤhlen. Aus dieſem allen erhellet nun, was fuͤr eine ſchweere Sach es ſey, zu einer guten Schreibart zu gelangen; wie viel natuͤrliche Gaben, wie viel Kennt- nis, und wie viel Fertigkeit im Denken dazu er- fodert werde. Und doch muß nun zu allem die- ſen noch die Uebung hinzukommen, ohne welche man nicht vollkommen werden kann. Wer noch ſo geuͤbt iſt im Denken und im Sprechen mit ſich ſelbſt, wird allemal noch große Schwierigkeiten finden, das, was er ſich ſelbſt richtig und gut vorſtellt, an- dern eben ſo zu ſagen. Die Ausuͤbung hat in allen Dingen ihre eigenen Schwierigkeiten, die nur durch anhaltendes Arbeiten uͤberwunden werden. Wer zu einer wahren Fertigkeit in der guten Schreibart gelangen will, muß ſich taͤglich darin uͤben. Hierzu aber braucht er nicht nothwendig Papier und Feder; es giebt noch ein bequaͤmers Mittel dazu. Man daͤrf nur in den ſtillen Unterredungen mit ſich ſelbſt, oder in Geſpraͤchen, die man blos in Gedanken mit andern fuͤhret, aufmerkſam auf das ſeyn, was zur Schreibart gehoͤret. Da kann man in kurzer Zeit, und ohne Papier zu verſchwenden, ſeine Redensarten und Saͤze vielfaͤltig aͤndern, bis man glaubt das beſte getroffen zu haben. Es iſt ſehr wichtig, daß man dergleichen Uebungen mit ſich ſelbſt fleißig trei- be. Wer mit ſich nachlaͤßig ſpricht, und nicht bey jedem Gedanken, den er ſich vorſagt, auf den beſten Ausdruk ſieht, und ſo lange ſucht, bis er glaubt, ihn gefunden zu haben, der wird auch ſchweerlich zu irgend einem betraͤchtlichen Grad der guten Schreib- art gelangen. Sehr viel kann man auch durch den taͤglichen Umgang mit den beſten Schriftſtellern gewinnen, und, wer hiezu gluͤklich genug iſt, durch den wuͤrk- lich lebendigen Umgang mit Perſonen, die es in der Kunſt zu reden, zu einem hohen Grad der Voll- kommenheit gebracht haben. Wer da Gefuͤhl ge- nug hat, wird alle Augenblik durch vorzuͤgliche, bis- weilen

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1054[1036]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/483>, abgerufen am 24.04.2024.