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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Sen

Ferner wird das Alleinsprechen natürlich in großen
Zerstreuungen des Geistes, wenn der Mensch sich
in seinen Gedanken so sehr vertieft hat, daß er ganz
vergißt, ob er allein, oder in Gesellschaft sey. Jn
diesem Fall ist das Alleinsprechen auch ohne großen
Affekt natürlich, und kann auch im Lustspiel ange-
bracht werden. Außer diesen beyden Fällen wollte
ich dem Dichter nicht rathen, solche Auftritte anzu-
bringen.

Der Schauspiehler kann nun das Meiste dazu bey-
tragen, dieselben natürlich zu machen. Er muß
die Manieren, die Sprache und das ganze Wesen
entweder einer unter drükenden Affekten liegenden,
oder einer in Gedanken vertieften Person annehmen.
Wenn er sich aber zur Schau hinstellt, um recht
merken zu lassen, daß er des Zuschauers wegen redet,
so verderbet er alles. Er muß in allen Stüken so
handeln, als wenn er allein wäre.

Seneka.

Der Urheber, oder, wenn man will, die Urheber der
zehen Trauerspiehle, dem einzigen Ueberrest von der
lateinischen tragischen Schaubühne. Es ist hier
nicht der Ort zu untersuchen, ob der Philosoph Se-
neka, oder ein andrer gleichen Namens, oder ob je-
der von beyden, einige dieser Trauerspiehle verfer-
tiget habe; wir betrachten hier die Werke und nicht
den Verfasser.

Wenn diese zehen Trauerspiehle als Muster der
römischen Tragödie anzusehen sind, so berechtigen
sie uns zu urtheilen, daß die Römer in dieser Kunst
weit mehr, als irgend in einer andern, hinter den
Griechen zurüke geblieben sind. Denn kein Mensch
von gesundem Geschmak wird sie, wie Scaliger,
den griechischen Trauerspiehlen, die wir haben, vor-
ziehen. Lipsius hat richtiger davon geurtheilt, wie-
wol er die Medea und die Thebais noch zu sehr er-
hoben hat.

Ueberhaupt herrscht in allem ein Ton, der sich
besser zur Elegie, als zum Trauerspiehl schikt. Die
Empfindungen sind darin nicht nur weit über die
Natur getrieben, sondern werden auf alle Seiten ge-
wendet, damit nur der Dichter Gelegenheit habe,
den Reichthum des Ausdruks zu zeigen. Denn in
den Reden der Personen merkt man gar zu offenbar,
daß nicht die Personen selbst, sondern der Dichter
redet, der bey kaltem Blute höchst wizig ist, und
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Sen
dessen Einbildungskraft keinem Gefühl Raum läßt;
immer fürchtet, nicht genug gesagt zu haben. Seine
Personen bleiben bey dem heftigsten Schmerz schwaz-
haft und wizig; sie wiegen alle Worte ab, machen
Gemählde, die sie auf das Zierlichste ausbilden, ge-
rade, als wenn sie auf die Schaubühne getreten
wären, um ihre Beredsamkeit zu zeigen.

Die Charaktere sind fast alle übertrieben. Her-
kules
ist nicht der tapferste aller Menschen, sondern
ein absurder Prahler, der es mit allen Göttern auf-
nehmen will. Nicht nur bey seiner angehenden Ra-
serey sagt er ungeheure Prahlereyen, (*) sondern da
er wieder zu sich selbst gekommen, sagt er noch

-- arma nisi dantur mihi
Aut omne Pindi Thracis exscindam nemus
Bacchique lucos et Cithaeronis juga
Mecumque cremabo; tota cum domibus suis
Dominisque tecta, cum Deis templa omnibus
Thebana supra corpus excipiam meum
Atque urbe versa condar
u. s. f.

Sein Atreus ist auf die ungeheureste Art gottlos;
dem gar kein Verbrechen groß genug ist. Er bietet
allen seinen Wiz auf, um etwas so gottloses zu thun,
als noch kein Mensch gethan hat.

Nullum relinquam sacinus; et nullum est satis.
-- -- -- -- --
-- -- -- Fiat nefas
Quod Dii timetis.
(*)

und nachdem er die ungeheureste That, auf die un-
geheureste Art begangen hat, kommt er mit dieser
unsinnigen Prahlerey wieder hervor:

Aequalis astris gradior et cunctos super
Altum superbo vertice attingens polum.
Nunc decora regni teneo, nunc solium patris.
Dimitto superos; summa votorum attigi.
Bene est; abunde est; jam sat est etiam mihi.
(*)

Man steht zugleich aus diesen lezten Versen, einen
fast in allen Scenen gewöhnlichen Fehler, daß die
Personen in diesen Trauerspiehlen in dem heftigsten
Affekt einen spiehlenden Wiz haben. Dieser frostige
Wiz ist in beständigen Wiederspruch mit den angeb-
lichen Gesinnungen, und dieser so gar offenbar, daß
man dächte, der einfältigste Zuschauer hätte dieses
merken, und die handelnde Personen, oder vielmehr
den Dichter auszischen sollen. Eine einzige Probe
kann genug hievon seyn. Jn der Thebais sagt Oe-
dipus
zur Antigone die ihn führt, sie soll ihn ver-

lassen
(*) Hercu-
les surens
vs.
927 f. f.
(*) Thye-
stes v.
256.
(*) vs 885.
s. f.
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Sen

Ferner wird das Alleinſprechen natuͤrlich in großen
Zerſtreuungen des Geiſtes, wenn der Menſch ſich
in ſeinen Gedanken ſo ſehr vertieft hat, daß er ganz
vergißt, ob er allein, oder in Geſellſchaft ſey. Jn
dieſem Fall iſt das Alleinſprechen auch ohne großen
Affekt natuͤrlich, und kann auch im Luſtſpiel ange-
bracht werden. Außer dieſen beyden Faͤllen wollte
ich dem Dichter nicht rathen, ſolche Auftritte anzu-
bringen.

Der Schauſpiehler kann nun das Meiſte dazu bey-
tragen, dieſelben natuͤrlich zu machen. Er muß
die Manieren, die Sprache und das ganze Weſen
entweder einer unter druͤkenden Affekten liegenden,
oder einer in Gedanken vertieften Perſon annehmen.
Wenn er ſich aber zur Schau hinſtellt, um recht
merken zu laſſen, daß er des Zuſchauers wegen redet,
ſo verderbet er alles. Er muß in allen Stuͤken ſo
handeln, als wenn er allein waͤre.

Seneka.

Der Urheber, oder, wenn man will, die Urheber der
zehen Trauerſpiehle, dem einzigen Ueberreſt von der
lateiniſchen tragiſchen Schaubuͤhne. Es iſt hier
nicht der Ort zu unterſuchen, ob der Philoſoph Se-
neka, oder ein andrer gleichen Namens, oder ob je-
der von beyden, einige dieſer Trauerſpiehle verfer-
tiget habe; wir betrachten hier die Werke und nicht
den Verfaſſer.

Wenn dieſe zehen Trauerſpiehle als Muſter der
roͤmiſchen Tragoͤdie anzuſehen ſind, ſo berechtigen
ſie uns zu urtheilen, daß die Roͤmer in dieſer Kunſt
weit mehr, als irgend in einer andern, hinter den
Griechen zuruͤke geblieben ſind. Denn kein Menſch
von geſundem Geſchmak wird ſie, wie Scaliger,
den griechiſchen Trauerſpiehlen, die wir haben, vor-
ziehen. Lipſius hat richtiger davon geurtheilt, wie-
wol er die Medea und die Thebais noch zu ſehr er-
hoben hat.

Ueberhaupt herrſcht in allem ein Ton, der ſich
beſſer zur Elegie, als zum Trauerſpiehl ſchikt. Die
Empfindungen ſind darin nicht nur weit uͤber die
Natur getrieben, ſondern werden auf alle Seiten ge-
wendet, damit nur der Dichter Gelegenheit habe,
den Reichthum des Ausdruks zu zeigen. Denn in
den Reden der Perſonen merkt man gar zu offenbar,
daß nicht die Perſonen ſelbſt, ſondern der Dichter
redet, der bey kaltem Blute hoͤchſt wizig iſt, und
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Sen
deſſen Einbildungskraft keinem Gefuͤhl Raum laͤßt;
immer fuͤrchtet, nicht genug geſagt zu haben. Seine
Perſonen bleiben bey dem heftigſten Schmerz ſchwaz-
haft und wizig; ſie wiegen alle Worte ab, machen
Gemaͤhlde, die ſie auf das Zierlichſte ausbilden, ge-
rade, als wenn ſie auf die Schaubuͤhne getreten
waͤren, um ihre Beredſamkeit zu zeigen.

Die Charaktere ſind faſt alle uͤbertrieben. Her-
kules
iſt nicht der tapferſte aller Menſchen, ſondern
ein abſurder Prahler, der es mit allen Goͤttern auf-
nehmen will. Nicht nur bey ſeiner angehenden Ra-
ſerey ſagt er ungeheure Prahlereyen, (*) ſondern da
er wieder zu ſich ſelbſt gekommen, ſagt er noch

arma niſi dantur mihi
Aut omne Pindi Thracis exſcindam nemus
Bacchique lucos et Cithæronis juga
Mecumque cremabo; tota cum domibus ſuis
Dominisque tecta, cum Deis templa omnibus
Thebana ſupra corpus excipiam meum
Atque urbe verſa condar
u. ſ. f.

Sein Atreus iſt auf die ungeheureſte Art gottlos;
dem gar kein Verbrechen groß genug iſt. Er bietet
allen ſeinen Wiz auf, um etwas ſo gottloſes zu thun,
als noch kein Menſch gethan hat.

Nullum relinquam ſacinus; et nullum eſt ſatis.
— — — — —
— — — Fiat nefas
Quod Dii timetis.
(*)

und nachdem er die ungeheureſte That, auf die un-
geheureſte Art begangen hat, kommt er mit dieſer
unſinnigen Prahlerey wieder hervor:

Aequalis aſtris gradior et cunctos ſuper
Altum ſuperbo vertice attingens polum.
Nunc decora regni teneo, nunc ſolium patris.
Dimitto ſuperos; ſumma votorum attigi.
Bene eſt; abunde eſt; jam ſat eſt etiam mihi.
(*)

Man ſteht zugleich aus dieſen lezten Verſen, einen
faſt in allen Scenen gewoͤhnlichen Fehler, daß die
Perſonen in dieſen Trauerſpiehlen in dem heftigſten
Affekt einen ſpiehlenden Wiz haben. Dieſer froſtige
Wiz iſt in beſtaͤndigen Wiederſpruch mit den angeb-
lichen Geſinnungen, und dieſer ſo gar offenbar, daß
man daͤchte, der einfaͤltigſte Zuſchauer haͤtte dieſes
merken, und die handelnde Perſonen, oder vielmehr
den Dichter ausziſchen ſollen. Eine einzige Probe
kann genug hievon ſeyn. Jn der Thebais ſagt Oe-
dipus
zur Antigone die ihn fuͤhrt, ſie ſoll ihn ver-

laſſen
(*) Hercu-
les ſurens
vs.
927 f. f.
(*) Thye-
ſtes v.
256.
(*) vs 885.
ſ. f.
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[1063[1045]/0492] Sen Sen Ferner wird das Alleinſprechen natuͤrlich in großen Zerſtreuungen des Geiſtes, wenn der Menſch ſich in ſeinen Gedanken ſo ſehr vertieft hat, daß er ganz vergißt, ob er allein, oder in Geſellſchaft ſey. Jn dieſem Fall iſt das Alleinſprechen auch ohne großen Affekt natuͤrlich, und kann auch im Luſtſpiel ange- bracht werden. Außer dieſen beyden Faͤllen wollte ich dem Dichter nicht rathen, ſolche Auftritte anzu- bringen. Der Schauſpiehler kann nun das Meiſte dazu bey- tragen, dieſelben natuͤrlich zu machen. Er muß die Manieren, die Sprache und das ganze Weſen entweder einer unter druͤkenden Affekten liegenden, oder einer in Gedanken vertieften Perſon annehmen. Wenn er ſich aber zur Schau hinſtellt, um recht merken zu laſſen, daß er des Zuſchauers wegen redet, ſo verderbet er alles. Er muß in allen Stuͤken ſo handeln, als wenn er allein waͤre. Seneka. Der Urheber, oder, wenn man will, die Urheber der zehen Trauerſpiehle, dem einzigen Ueberreſt von der lateiniſchen tragiſchen Schaubuͤhne. Es iſt hier nicht der Ort zu unterſuchen, ob der Philoſoph Se- neka, oder ein andrer gleichen Namens, oder ob je- der von beyden, einige dieſer Trauerſpiehle verfer- tiget habe; wir betrachten hier die Werke und nicht den Verfaſſer. Wenn dieſe zehen Trauerſpiehle als Muſter der roͤmiſchen Tragoͤdie anzuſehen ſind, ſo berechtigen ſie uns zu urtheilen, daß die Roͤmer in dieſer Kunſt weit mehr, als irgend in einer andern, hinter den Griechen zuruͤke geblieben ſind. Denn kein Menſch von geſundem Geſchmak wird ſie, wie Scaliger, den griechiſchen Trauerſpiehlen, die wir haben, vor- ziehen. Lipſius hat richtiger davon geurtheilt, wie- wol er die Medea und die Thebais noch zu ſehr er- hoben hat. Ueberhaupt herrſcht in allem ein Ton, der ſich beſſer zur Elegie, als zum Trauerſpiehl ſchikt. Die Empfindungen ſind darin nicht nur weit uͤber die Natur getrieben, ſondern werden auf alle Seiten ge- wendet, damit nur der Dichter Gelegenheit habe, den Reichthum des Ausdruks zu zeigen. Denn in den Reden der Perſonen merkt man gar zu offenbar, daß nicht die Perſonen ſelbſt, ſondern der Dichter redet, der bey kaltem Blute hoͤchſt wizig iſt, und deſſen Einbildungskraft keinem Gefuͤhl Raum laͤßt; immer fuͤrchtet, nicht genug geſagt zu haben. Seine Perſonen bleiben bey dem heftigſten Schmerz ſchwaz- haft und wizig; ſie wiegen alle Worte ab, machen Gemaͤhlde, die ſie auf das Zierlichſte ausbilden, ge- rade, als wenn ſie auf die Schaubuͤhne getreten waͤren, um ihre Beredſamkeit zu zeigen. Die Charaktere ſind faſt alle uͤbertrieben. Her- kules iſt nicht der tapferſte aller Menſchen, ſondern ein abſurder Prahler, der es mit allen Goͤttern auf- nehmen will. Nicht nur bey ſeiner angehenden Ra- ſerey ſagt er ungeheure Prahlereyen, (*) ſondern da er wieder zu ſich ſelbſt gekommen, ſagt er noch — arma niſi dantur mihi Aut omne Pindi Thracis exſcindam nemus Bacchique lucos et Cithæronis juga Mecumque cremabo; tota cum domibus ſuis Dominisque tecta, cum Deis templa omnibus Thebana ſupra corpus excipiam meum Atque urbe verſa condar u. ſ. f. Sein Atreus iſt auf die ungeheureſte Art gottlos; dem gar kein Verbrechen groß genug iſt. Er bietet allen ſeinen Wiz auf, um etwas ſo gottloſes zu thun, als noch kein Menſch gethan hat. Nullum relinquam ſacinus; et nullum eſt ſatis. — — — — — — — — Fiat nefas Quod Dii timetis. (*) und nachdem er die ungeheureſte That, auf die un- geheureſte Art begangen hat, kommt er mit dieſer unſinnigen Prahlerey wieder hervor: Aequalis aſtris gradior et cunctos ſuper Altum ſuperbo vertice attingens polum. Nunc decora regni teneo, nunc ſolium patris. Dimitto ſuperos; ſumma votorum attigi. Bene eſt; abunde eſt; jam ſat eſt etiam mihi. (*) Man ſteht zugleich aus dieſen lezten Verſen, einen faſt in allen Scenen gewoͤhnlichen Fehler, daß die Perſonen in dieſen Trauerſpiehlen in dem heftigſten Affekt einen ſpiehlenden Wiz haben. Dieſer froſtige Wiz iſt in beſtaͤndigen Wiederſpruch mit den angeb- lichen Geſinnungen, und dieſer ſo gar offenbar, daß man daͤchte, der einfaͤltigſte Zuſchauer haͤtte dieſes merken, und die handelnde Perſonen, oder vielmehr den Dichter ausziſchen ſollen. Eine einzige Probe kann genug hievon ſeyn. Jn der Thebais ſagt Oe- dipus zur Antigone die ihn fuͤhrt, ſie ſoll ihn ver- laſſen (*) Hercu- les ſurens vs. 927 f. f. (*) Thye- ſtes v. 256. (*) vs 885. ſ. f. Q q q q q q 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1063[1045]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/492>, abgerufen am 16.04.2024.