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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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ein solcher Solotanz von bestimmtem Charakter ei-
nige Aehnlichkeit mit der Ode, und die Musik müßte
dazu so eingerichtet werden, daß bey jeder Wieder-
holung die Strophe mit Veränderungen gespiehlt
würde, damit der Tänzer Gelegenheit bekäme, den
Charakter, den er schildert, in verschiedenen Schat-
tirungen zu zeigen.

Die theatralischen Tänze werden nur von Tän-
zern von Profeßion als ein Schauspiehl aufgeführt.
Man theilet sie insgemein in vier Classen ab. Die
erste, oder unterste Classe, wird Groteske genennt;
ihr Charakter ist Ausgelassenheit oder etwas Aben-
theuerliches. Diese Tänze stellen im Grunde nichts,
als ungewöhnliche Sprünge und seltsame närrische
Gebehrden, Lustbarkeiten und Abentheuer der nie-
drigsten Classe der Menschen vor. Der gute Ge-
schmak kommt dabey wenig in Betrachtung, und
es wird auch so genau nicht genommen, ob die Ca-
denzen der Tänzer mit denen, die die Musik macht,
so genau übereinstimmen oder nicht. Dieser Tanz
erfodert hauptsächlich Stärke.

Die zweyte Classe machen die comischen Tänze
aus. Jhr Jnhalt ist schon etwas weniger ausge-
lassen, und sie schildern Sitten, Lustbarkeiten und
Liebesintriguen des gemeinen Volks. Bewegungen
und Sprünge sind weniger ausgelassen, aber doch
lebhaft, etwas muthwillig und stark in die Augen
fallend. Sie müssen aber immer etwas belustigen-
des und fröhliches haben. Die Hauptsache ist hier
Leichtigkeit, schnelle künstliche Bewegung und etwas
muthwilliges.

Die dritte Classe begreift die Tänze, die man in
der Kunstsprache halbe Charaktere (demi Caracteres)
nennt. Jhr Jnhalt ist eine Handlung aus dem
gemeinen Leben, in dem Charakter der comischen
Schaubühne, ein Liebeshandel, oder irgend eine
Jntrigue, darin schon Personen von nicht ganz ge-
meiner Lebensart verwikelt sind. Diese Tänze er-
fodern schon Zierlichkeit, angenehme Manieren und
feinen Geschmak.

Die vierte Classe begreift die Tänze von ernsthaf-
tem hohen Charakter, wie die tragische Schaubühne
ihn erfodert. Sie bestehen entweder in Solotänzen,
die bloß große und ernsthafte Charaktere schildern,
oder in ganzen Handlungen von bestimmten Jnhalt.
Hier muß schon alles, was die Kunst an Stellung
und Bewegung zum Ausdruk großer Empfindungen
darzustellen vermag, zusammen kommen. Von die-
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sem hohen Tanz, der eine bestimmte Handlung vor-
stellt, haben wir im Artikel Ballet besonders ge-
sprochen.

Jede der vier Gattungen des theatralischen Tan-
zes kann von zweyerley Art seyn. Entweder schil-
dern sie blos Charaktere und Sitten, oder sie stellen
eine bestimmte Handlung mit Verwiklung und Auf-
lösung vor. Jm ersten Falle haben die verschiede-
nen Auftritte des Tanzes keine genaue Verbindung
unter einander; es ist schon hinlänglich, daß die
Einheit des Charakters durchaus beybehalten werde:
im übrigen kann der Balletmeister nach Gutdünken
die Scenen bald mit mehr, bald mit weniger Perso-
nen anfüllen, und hat nur auf Abwechslung und
Mannigfaltigkeit zu sehen. Aber die andere Art er-
fodert in Ansehung der Anordnung der Handlung
die Ueberlegung, mit welcher auch der dramatische
Dichter seine Fabel zu behandeln hat, und von
Seite der Tänzer ein gutes pantomimisches Spiehl,
um die Handlung verständlich zu machen (*); da-
her diese Tänze besonders pantomimische Tänze ge-
nennt werden.

Hohe pantomimische Tänze sind erst seit wenig
Jahren von Noverre bey Schauspiehlen eingeführt
worden, nachdem er vorher in seinen über das Tan-
zen herausgegebenen Briefen (*) die Theorie dieser
Tänze mit vieler Gründlichkeit entworfen hatte. Man
kann den Balletmeistern sowol diese Briefe, als die
verschiedenen Entwürfe, die dieser geschikte Mann
von seinen in Wien aufgeführten pantomimischen
Balleten herausgegeben hat, nicht genug empfehlen.

Die theatralischen Tänze werden, wie ihre Be-
nennung schon anzeiget, nur auf der Schaubühne
vorgestellt, und zwar insgemein als Zwischenspiehle
zwischen den Aufzügen, und denn zulezt auch zum
Beschluß des ganzen Schauspiehles. Als Zwischen-
spiehle werden sie izt nur in der Oper durchgehends
gebraucht, bey andern Schauspiehlen aber erschei-
nen sie gemeiniglich nur am Ende, als ein besonde-
res Nachspiehl, das mit dem aufgeführten Schau-
spiehl keine Verbindung hat. Selten haben auch
die zwischen den Aufzügen der Oper vorgestellte
Ballette würkliche Beziehung auf das Schauspiehl,
und sind in der That nichts anders, als völlige
hors d'oeuvres, die die Eindrüke, welche das Schau-
spiehl gemacht hat, wieder auslöschen.

Nach unserm Bedünken wär es leicht die Ballete
mit dem Schauspiehl selbst nicht nur in Verbindung

zu
(*) S.
Pantomi-
me.
(*) Lettres
sur la Dan-
se par Mr.
Noverre.
C c c c c c c 2

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ein ſolcher Solotanz von beſtimmtem Charakter ei-
nige Aehnlichkeit mit der Ode, und die Muſik muͤßte
dazu ſo eingerichtet werden, daß bey jeder Wieder-
holung die Strophe mit Veraͤnderungen geſpiehlt
wuͤrde, damit der Taͤnzer Gelegenheit bekaͤme, den
Charakter, den er ſchildert, in verſchiedenen Schat-
tirungen zu zeigen.

Die theatraliſchen Taͤnze werden nur von Taͤn-
zern von Profeßion als ein Schauſpiehl aufgefuͤhrt.
Man theilet ſie insgemein in vier Claſſen ab. Die
erſte, oder unterſte Claſſe, wird Groteske genennt;
ihr Charakter iſt Ausgelaſſenheit oder etwas Aben-
theuerliches. Dieſe Taͤnze ſtellen im Grunde nichts,
als ungewoͤhnliche Spruͤnge und ſeltſame naͤrriſche
Gebehrden, Luſtbarkeiten und Abentheuer der nie-
drigſten Claſſe der Menſchen vor. Der gute Ge-
ſchmak kommt dabey wenig in Betrachtung, und
es wird auch ſo genau nicht genommen, ob die Ca-
denzen der Taͤnzer mit denen, die die Muſik macht,
ſo genau uͤbereinſtimmen oder nicht. Dieſer Tanz
erfodert hauptſaͤchlich Staͤrke.

Die zweyte Claſſe machen die comiſchen Taͤnze
aus. Jhr Jnhalt iſt ſchon etwas weniger ausge-
laſſen, und ſie ſchildern Sitten, Luſtbarkeiten und
Liebesintriguen des gemeinen Volks. Bewegungen
und Spruͤnge ſind weniger ausgelaſſen, aber doch
lebhaft, etwas muthwillig und ſtark in die Augen
fallend. Sie muͤſſen aber immer etwas beluſtigen-
des und froͤhliches haben. Die Hauptſache iſt hier
Leichtigkeit, ſchnelle kuͤnſtliche Bewegung und etwas
muthwilliges.

Die dritte Claſſe begreift die Taͤnze, die man in
der Kunſtſprache halbe Charaktere (demi Caractères)
nennt. Jhr Jnhalt iſt eine Handlung aus dem
gemeinen Leben, in dem Charakter der comiſchen
Schaubuͤhne, ein Liebeshandel, oder irgend eine
Jntrigue, darin ſchon Perſonen von nicht ganz ge-
meiner Lebensart verwikelt ſind. Dieſe Taͤnze er-
fodern ſchon Zierlichkeit, angenehme Manieren und
feinen Geſchmak.

Die vierte Claſſe begreift die Taͤnze von ernſthaf-
tem hohen Charakter, wie die tragiſche Schaubuͤhne
ihn erfodert. Sie beſtehen entweder in Solotaͤnzen,
die bloß große und ernſthafte Charaktere ſchildern,
oder in ganzen Handlungen von beſtimmten Jnhalt.
Hier muß ſchon alles, was die Kunſt an Stellung
und Bewegung zum Ausdruk großer Empfindungen
darzuſtellen vermag, zuſammen kommen. Von die-
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ſem hohen Tanz, der eine beſtimmte Handlung vor-
ſtellt, haben wir im Artikel Ballet beſonders ge-
ſprochen.

Jede der vier Gattungen des theatraliſchen Tan-
zes kann von zweyerley Art ſeyn. Entweder ſchil-
dern ſie blos Charaktere und Sitten, oder ſie ſtellen
eine beſtimmte Handlung mit Verwiklung und Auf-
loͤſung vor. Jm erſten Falle haben die verſchiede-
nen Auftritte des Tanzes keine genaue Verbindung
unter einander; es iſt ſchon hinlaͤnglich, daß die
Einheit des Charakters durchaus beybehalten werde:
im uͤbrigen kann der Balletmeiſter nach Gutduͤnken
die Scenen bald mit mehr, bald mit weniger Perſo-
nen anfuͤllen, und hat nur auf Abwechslung und
Mannigfaltigkeit zu ſehen. Aber die andere Art er-
fodert in Anſehung der Anordnung der Handlung
die Ueberlegung, mit welcher auch der dramatiſche
Dichter ſeine Fabel zu behandeln hat, und von
Seite der Taͤnzer ein gutes pantomimiſches Spiehl,
um die Handlung verſtaͤndlich zu machen (*); da-
her dieſe Taͤnze beſonders pantomimiſche Taͤnze ge-
nennt werden.

Hohe pantomimiſche Taͤnze ſind erſt ſeit wenig
Jahren von Noverre bey Schauſpiehlen eingefuͤhrt
worden, nachdem er vorher in ſeinen uͤber das Tan-
zen herausgegebenen Briefen (*) die Theorie dieſer
Taͤnze mit vieler Gruͤndlichkeit entworfen hatte. Man
kann den Balletmeiſtern ſowol dieſe Briefe, als die
verſchiedenen Entwuͤrfe, die dieſer geſchikte Mann
von ſeinen in Wien aufgefuͤhrten pantomimiſchen
Balleten herausgegeben hat, nicht genug empfehlen.

Die theatraliſchen Taͤnze werden, wie ihre Be-
nennung ſchon anzeiget, nur auf der Schaubuͤhne
vorgeſtellt, und zwar insgemein als Zwiſchenſpiehle
zwiſchen den Aufzuͤgen, und denn zulezt auch zum
Beſchluß des ganzen Schauſpiehles. Als Zwiſchen-
ſpiehle werden ſie izt nur in der Oper durchgehends
gebraucht, bey andern Schauſpiehlen aber erſchei-
nen ſie gemeiniglich nur am Ende, als ein beſonde-
res Nachſpiehl, das mit dem aufgefuͤhrten Schau-
ſpiehl keine Verbindung hat. Selten haben auch
die zwiſchen den Aufzuͤgen der Oper vorgeſtellte
Ballette wuͤrkliche Beziehung auf das Schauſpiehl,
und ſind in der That nichts anders, als voͤllige
hors d’oeuvres, die die Eindruͤke, welche das Schau-
ſpiehl gemacht hat, wieder ausloͤſchen.

Nach unſerm Beduͤnken waͤr es leicht die Ballete
mit dem Schauſpiehl ſelbſt nicht nur in Verbindung

zu
(*) S.
Pantomi-
me.
(*) Lettres
ſur la Dan-
ſe par Mr.
Noverre.
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[1141[1123]/0570] Tan Tan ein ſolcher Solotanz von beſtimmtem Charakter ei- nige Aehnlichkeit mit der Ode, und die Muſik muͤßte dazu ſo eingerichtet werden, daß bey jeder Wieder- holung die Strophe mit Veraͤnderungen geſpiehlt wuͤrde, damit der Taͤnzer Gelegenheit bekaͤme, den Charakter, den er ſchildert, in verſchiedenen Schat- tirungen zu zeigen. Die theatraliſchen Taͤnze werden nur von Taͤn- zern von Profeßion als ein Schauſpiehl aufgefuͤhrt. Man theilet ſie insgemein in vier Claſſen ab. Die erſte, oder unterſte Claſſe, wird Groteske genennt; ihr Charakter iſt Ausgelaſſenheit oder etwas Aben- theuerliches. Dieſe Taͤnze ſtellen im Grunde nichts, als ungewoͤhnliche Spruͤnge und ſeltſame naͤrriſche Gebehrden, Luſtbarkeiten und Abentheuer der nie- drigſten Claſſe der Menſchen vor. Der gute Ge- ſchmak kommt dabey wenig in Betrachtung, und es wird auch ſo genau nicht genommen, ob die Ca- denzen der Taͤnzer mit denen, die die Muſik macht, ſo genau uͤbereinſtimmen oder nicht. Dieſer Tanz erfodert hauptſaͤchlich Staͤrke. Die zweyte Claſſe machen die comiſchen Taͤnze aus. Jhr Jnhalt iſt ſchon etwas weniger ausge- laſſen, und ſie ſchildern Sitten, Luſtbarkeiten und Liebesintriguen des gemeinen Volks. Bewegungen und Spruͤnge ſind weniger ausgelaſſen, aber doch lebhaft, etwas muthwillig und ſtark in die Augen fallend. Sie muͤſſen aber immer etwas beluſtigen- des und froͤhliches haben. Die Hauptſache iſt hier Leichtigkeit, ſchnelle kuͤnſtliche Bewegung und etwas muthwilliges. Die dritte Claſſe begreift die Taͤnze, die man in der Kunſtſprache halbe Charaktere (demi Caractères) nennt. Jhr Jnhalt iſt eine Handlung aus dem gemeinen Leben, in dem Charakter der comiſchen Schaubuͤhne, ein Liebeshandel, oder irgend eine Jntrigue, darin ſchon Perſonen von nicht ganz ge- meiner Lebensart verwikelt ſind. Dieſe Taͤnze er- fodern ſchon Zierlichkeit, angenehme Manieren und feinen Geſchmak. Die vierte Claſſe begreift die Taͤnze von ernſthaf- tem hohen Charakter, wie die tragiſche Schaubuͤhne ihn erfodert. Sie beſtehen entweder in Solotaͤnzen, die bloß große und ernſthafte Charaktere ſchildern, oder in ganzen Handlungen von beſtimmten Jnhalt. Hier muß ſchon alles, was die Kunſt an Stellung und Bewegung zum Ausdruk großer Empfindungen darzuſtellen vermag, zuſammen kommen. Von die- ſem hohen Tanz, der eine beſtimmte Handlung vor- ſtellt, haben wir im Artikel Ballet beſonders ge- ſprochen. Jede der vier Gattungen des theatraliſchen Tan- zes kann von zweyerley Art ſeyn. Entweder ſchil- dern ſie blos Charaktere und Sitten, oder ſie ſtellen eine beſtimmte Handlung mit Verwiklung und Auf- loͤſung vor. Jm erſten Falle haben die verſchiede- nen Auftritte des Tanzes keine genaue Verbindung unter einander; es iſt ſchon hinlaͤnglich, daß die Einheit des Charakters durchaus beybehalten werde: im uͤbrigen kann der Balletmeiſter nach Gutduͤnken die Scenen bald mit mehr, bald mit weniger Perſo- nen anfuͤllen, und hat nur auf Abwechslung und Mannigfaltigkeit zu ſehen. Aber die andere Art er- fodert in Anſehung der Anordnung der Handlung die Ueberlegung, mit welcher auch der dramatiſche Dichter ſeine Fabel zu behandeln hat, und von Seite der Taͤnzer ein gutes pantomimiſches Spiehl, um die Handlung verſtaͤndlich zu machen (*); da- her dieſe Taͤnze beſonders pantomimiſche Taͤnze ge- nennt werden. Hohe pantomimiſche Taͤnze ſind erſt ſeit wenig Jahren von Noverre bey Schauſpiehlen eingefuͤhrt worden, nachdem er vorher in ſeinen uͤber das Tan- zen herausgegebenen Briefen (*) die Theorie dieſer Taͤnze mit vieler Gruͤndlichkeit entworfen hatte. Man kann den Balletmeiſtern ſowol dieſe Briefe, als die verſchiedenen Entwuͤrfe, die dieſer geſchikte Mann von ſeinen in Wien aufgefuͤhrten pantomimiſchen Balleten herausgegeben hat, nicht genug empfehlen. Die theatraliſchen Taͤnze werden, wie ihre Be- nennung ſchon anzeiget, nur auf der Schaubuͤhne vorgeſtellt, und zwar insgemein als Zwiſchenſpiehle zwiſchen den Aufzuͤgen, und denn zulezt auch zum Beſchluß des ganzen Schauſpiehles. Als Zwiſchen- ſpiehle werden ſie izt nur in der Oper durchgehends gebraucht, bey andern Schauſpiehlen aber erſchei- nen ſie gemeiniglich nur am Ende, als ein beſonde- res Nachſpiehl, das mit dem aufgefuͤhrten Schau- ſpiehl keine Verbindung hat. Selten haben auch die zwiſchen den Aufzuͤgen der Oper vorgeſtellte Ballette wuͤrkliche Beziehung auf das Schauſpiehl, und ſind in der That nichts anders, als voͤllige hors d’oeuvres, die die Eindruͤke, welche das Schau- ſpiehl gemacht hat, wieder ausloͤſchen. Nach unſerm Beduͤnken waͤr es leicht die Ballete mit dem Schauſpiehl ſelbſt nicht nur in Verbindung zu (*) S. Pantomi- me. (*) Lettres ſur la Dan- ſe par Mr. Noverre. C c c c c c c 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1141[1123]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/570>, abgerufen am 23.04.2024.