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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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dieses Uebertriebene allmählig ein, nachdem die schö-
nen Künste den höchsten Grad der Vollkommenheit
erreicht haben. Denn die hernach kommenden Künst-
ler suchen alsdenn ihre Vorgänger, die sie auf dem
geraden natürlichen Weg des Geschmakes nicht mehr
übertreffen können, durch allmählige Verfeinerung
zu übertreffen. Darum ist es eine seltsame Erschei-
nung in Deutschland, daß sich die übertriebene Ver-
feinerung bereits hier und da äußert, ehe wir die
höchste Stuffe der Vollkommenheit würklich erreicht
haben. Aber wir sind nicht ohne Hoffnung, daß
die Critik sich dem einreißenden Uebel noch zu rechter
Zeit mit gutem Erfolg wiedersezen werde.

Man erlaubt dem comischen Dichter und dem
Schauspiehler, und rathet ihnen so gar, die Sachen
etwas zu übertreiben. Der Schauspiehler muß al-
lerdings in Stimm und Gebehrden etwas auf die
Entfernung, in der er von dem Zuschauer steht,
rechnen; weil diese sein Spiehl etwas schwächt.
Deswegen thut er wol, wenn er durchaus etwas
über die Natur herausgeht, und der Zuschauer wird
ihn nicht übertrieben finden, wenn er nur nicht die
Gränzen zu weit überschreitet. Der Dichter scheinet
nur da aus den Schranken heraustreten zu können,
wo die Charaktere der Personen und die Handlung
selbst etwas matt ist. So hebt das etwas Ueber-
triebene der Charaktere in dem Postzug das ganze
Stük, das in den bloßen Schranken der Natur
wenig reizen würde.

Ueberzeugung.
(Beredsamkeit.)

Wir sind von der Wahrheit einer Sache nur als-
denn überzeuget, wenn wir durch inneres Gefühl
empfinden, daß kein Zweifel dagegen statt habe.
Bey der Ueberredung können noch Zweifel, oder
Ungewißheiten statt haben; aber entweder zeigen sie
sich uns nicht, oder sie sind nicht stark genug unsere
Meinung, oder unser Urtheil zurükzuhalten. Die
wahre Ueberzeugung entsteht blos aus dem würkli-
chen Gefühle, daß die Sache nicht anders seyn
könne, als so wie wir sie erkennen. Sie wird aber
selten anders, als durch strenge, förmliche Ver-
nunftschlüsse bewürkt; es sey denn, daß sie aus Ge-
geneinanderhaltung blos zweyer ganz einfachen Be-
griffe folge, wie die Grundsäze, die man Axiome
nennt, als z. B. dieser, daß das Ganze größer ist,
als einer seiner Theile.
Es gehöret nicht hieher
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zu zeigen, wie die strengen Beweise, die zur Ueber-
zeugung führen, zu geben seyen. Für den Redner
schiken sich die strengen philosophischen Beweise, die
in dem wissenschaftlichen Vortrage nöthig sind, nicht.
Für seine eigene Ueberzeugung aber muß er sie, wo
sie statt haben, zu geben wissen. Nur als Red-
ner muß er sie ganz anders vortragen.

Wahre Ueberzeugung der Zuhörer kann nur der
Redner bewürken, der selbst überzeuget ist. Wir
sezen also hier die Ueberzeugung des Redners vor-
aus, und haben nur zu betrachten, wie er sie an-
dern mittheilen soll. Jst er durch den mühesamen
Weg einer genauen Untersuchung, zu der Richtigkeit
und Vollständigkeit der Begriffe, so denn zu ihrer
deutlichen Entwiklung, und dadurch zur Ueberzeu-
gung gekommen; so muß er nun, diesen Weg, den
er mit vieler Mühe zurükgelegt hat, wie von einer
Höhe übersehen; alle seine Krümmungen und steile
Sprünge bemerken, um zu erforschen, wie er sie ge-
rade und eben zu machen habe. Denn das was
ihm schweer gewesen, muß er dem Zuhörer leicht
machen. Jm Grund hat also der Redner zur Ue-
berzeugung seiner Zuhörer keinen andern Weg zu
nehmen, als den, durch welchen der Philosoph geht;
beyde geben Beweise, die im Wesentlichen dieselben
sind. Was aber der Philosoph allgemein, abstrakt
und kurz gedrungen sagt, wird von dem Redner
durch besondere klare und leichtfaßliche Vorstellun-
gen dem Anschauen ausführlich vorgebildet. Ein
solcher Beweis ist im Grunde nur eine rhetorische
Erweiterung eines strengen philosophischen Beweises.
Wie der Philosoph die Begriffe durch Erklärungen
deutlich und bestimmt angiebt, der Redner aber
durch Abbildung oder Vorzeigung der besondern
Dinge, aus deren Betrachtung sie sinnlich gefaßt
werden; so unterscheiden sich beyde in ihren Arten
zu beweisen.

Der Redner hat also zur Ueberzeugung seiner Zu-
hörer weit mehr zu thun, als der Philosoph; er
muß den Beweis, gerade so wie dieser, erfinden
und vortragen: alsdenn aber hat er erst den Text
seiner Rede, oder wenn man will, den Grundriß
derselben. Nun muß er aus diesen Grundriß ein
Gebäude aufführen, dessen Festigkeit und andre nach
dem Zwek erforderliche Vollkommenheiten, nicht blos
Kenner einsehen, sondern jeder Mensch von gesunder
Beurtheilung, ohne große Mühe bemerke. Jch
halte dieses für das Höchste in der Kunst des Red-

ners

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Ueb
dieſes Uebertriebene allmaͤhlig ein, nachdem die ſchoͤ-
nen Kuͤnſte den hoͤchſten Grad der Vollkommenheit
erreicht haben. Denn die hernach kommenden Kuͤnſt-
ler ſuchen alsdenn ihre Vorgaͤnger, die ſie auf dem
geraden natuͤrlichen Weg des Geſchmakes nicht mehr
uͤbertreffen koͤnnen, durch allmaͤhlige Verfeinerung
zu uͤbertreffen. Darum iſt es eine ſeltſame Erſchei-
nung in Deutſchland, daß ſich die uͤbertriebene Ver-
feinerung bereits hier und da aͤußert, ehe wir die
hoͤchſte Stuffe der Vollkommenheit wuͤrklich erreicht
haben. Aber wir ſind nicht ohne Hoffnung, daß
die Critik ſich dem einreißenden Uebel noch zu rechter
Zeit mit gutem Erfolg wiederſezen werde.

Man erlaubt dem comiſchen Dichter und dem
Schauſpiehler, und rathet ihnen ſo gar, die Sachen
etwas zu uͤbertreiben. Der Schauſpiehler muß al-
lerdings in Stimm und Gebehrden etwas auf die
Entfernung, in der er von dem Zuſchauer ſteht,
rechnen; weil dieſe ſein Spiehl etwas ſchwaͤcht.
Deswegen thut er wol, wenn er durchaus etwas
uͤber die Natur herausgeht, und der Zuſchauer wird
ihn nicht uͤbertrieben finden, wenn er nur nicht die
Graͤnzen zu weit uͤberſchreitet. Der Dichter ſcheinet
nur da aus den Schranken heraustreten zu koͤnnen,
wo die Charaktere der Perſonen und die Handlung
ſelbſt etwas matt iſt. So hebt das etwas Ueber-
triebene der Charaktere in dem Poſtzug das ganze
Stuͤk, das in den bloßen Schranken der Natur
wenig reizen wuͤrde.

Ueberzeugung.
(Beredſamkeit.)

Wir ſind von der Wahrheit einer Sache nur als-
denn uͤberzeuget, wenn wir durch inneres Gefuͤhl
empfinden, daß kein Zweifel dagegen ſtatt habe.
Bey der Ueberredung koͤnnen noch Zweifel, oder
Ungewißheiten ſtatt haben; aber entweder zeigen ſie
ſich uns nicht, oder ſie ſind nicht ſtark genug unſere
Meinung, oder unſer Urtheil zuruͤkzuhalten. Die
wahre Ueberzeugung entſteht blos aus dem wuͤrkli-
chen Gefuͤhle, daß die Sache nicht anders ſeyn
koͤnne, als ſo wie wir ſie erkennen. Sie wird aber
ſelten anders, als durch ſtrenge, foͤrmliche Ver-
nunftſchluͤſſe bewuͤrkt; es ſey denn, daß ſie aus Ge-
geneinanderhaltung blos zweyer ganz einfachen Be-
griffe folge, wie die Grundſaͤze, die man Axiome
nennt, als z. B. dieſer, daß das Ganze groͤßer iſt,
als einer ſeiner Theile.
Es gehoͤret nicht hieher
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Ueb
zu zeigen, wie die ſtrengen Beweiſe, die zur Ueber-
zeugung fuͤhren, zu geben ſeyen. Fuͤr den Redner
ſchiken ſich die ſtrengen philoſophiſchen Beweiſe, die
in dem wiſſenſchaftlichen Vortrage noͤthig ſind, nicht.
Fuͤr ſeine eigene Ueberzeugung aber muß er ſie, wo
ſie ſtatt haben, zu geben wiſſen. Nur als Red-
ner muß er ſie ganz anders vortragen.

Wahre Ueberzeugung der Zuhoͤrer kann nur der
Redner bewuͤrken, der ſelbſt uͤberzeuget iſt. Wir
ſezen alſo hier die Ueberzeugung des Redners vor-
aus, und haben nur zu betrachten, wie er ſie an-
dern mittheilen ſoll. Jſt er durch den muͤheſamen
Weg einer genauen Unterſuchung, zu der Richtigkeit
und Vollſtaͤndigkeit der Begriffe, ſo denn zu ihrer
deutlichen Entwiklung, und dadurch zur Ueberzeu-
gung gekommen; ſo muß er nun, dieſen Weg, den
er mit vieler Muͤhe zuruͤkgelegt hat, wie von einer
Hoͤhe uͤberſehen; alle ſeine Kruͤmmungen und ſteile
Spruͤnge bemerken, um zu erforſchen, wie er ſie ge-
rade und eben zu machen habe. Denn das was
ihm ſchweer geweſen, muß er dem Zuhoͤrer leicht
machen. Jm Grund hat alſo der Redner zur Ue-
berzeugung ſeiner Zuhoͤrer keinen andern Weg zu
nehmen, als den, durch welchen der Philoſoph geht;
beyde geben Beweiſe, die im Weſentlichen dieſelben
ſind. Was aber der Philoſoph allgemein, abſtrakt
und kurz gedrungen ſagt, wird von dem Redner
durch beſondere klare und leichtfaßliche Vorſtellun-
gen dem Anſchauen ausfuͤhrlich vorgebildet. Ein
ſolcher Beweis iſt im Grunde nur eine rhetoriſche
Erweiterung eines ſtrengen philoſophiſchen Beweiſes.
Wie der Philoſoph die Begriffe durch Erklaͤrungen
deutlich und beſtimmt angiebt, der Redner aber
durch Abbildung oder Vorzeigung der beſondern
Dinge, aus deren Betrachtung ſie ſinnlich gefaßt
werden; ſo unterſcheiden ſich beyde in ihren Arten
zu beweiſen.

Der Redner hat alſo zur Ueberzeugung ſeiner Zu-
hoͤrer weit mehr zu thun, als der Philoſoph; er
muß den Beweis, gerade ſo wie dieſer, erfinden
und vortragen: alsdenn aber hat er erſt den Text
ſeiner Rede, oder wenn man will, den Grundriß
derſelben. Nun muß er aus dieſen Grundriß ein
Gebaͤude auffuͤhren, deſſen Feſtigkeit und andre nach
dem Zwek erforderliche Vollkommenheiten, nicht blos
Kenner einſehen, ſondern jeder Menſch von geſunder
Beurtheilung, ohne große Muͤhe bemerke. Jch
halte dieſes fuͤr das Hoͤchſte in der Kunſt des Red-

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[1196[1178]/0625] Ueb Ueb dieſes Uebertriebene allmaͤhlig ein, nachdem die ſchoͤ- nen Kuͤnſte den hoͤchſten Grad der Vollkommenheit erreicht haben. Denn die hernach kommenden Kuͤnſt- ler ſuchen alsdenn ihre Vorgaͤnger, die ſie auf dem geraden natuͤrlichen Weg des Geſchmakes nicht mehr uͤbertreffen koͤnnen, durch allmaͤhlige Verfeinerung zu uͤbertreffen. Darum iſt es eine ſeltſame Erſchei- nung in Deutſchland, daß ſich die uͤbertriebene Ver- feinerung bereits hier und da aͤußert, ehe wir die hoͤchſte Stuffe der Vollkommenheit wuͤrklich erreicht haben. Aber wir ſind nicht ohne Hoffnung, daß die Critik ſich dem einreißenden Uebel noch zu rechter Zeit mit gutem Erfolg wiederſezen werde. Man erlaubt dem comiſchen Dichter und dem Schauſpiehler, und rathet ihnen ſo gar, die Sachen etwas zu uͤbertreiben. Der Schauſpiehler muß al- lerdings in Stimm und Gebehrden etwas auf die Entfernung, in der er von dem Zuſchauer ſteht, rechnen; weil dieſe ſein Spiehl etwas ſchwaͤcht. Deswegen thut er wol, wenn er durchaus etwas uͤber die Natur herausgeht, und der Zuſchauer wird ihn nicht uͤbertrieben finden, wenn er nur nicht die Graͤnzen zu weit uͤberſchreitet. Der Dichter ſcheinet nur da aus den Schranken heraustreten zu koͤnnen, wo die Charaktere der Perſonen und die Handlung ſelbſt etwas matt iſt. So hebt das etwas Ueber- triebene der Charaktere in dem Poſtzug das ganze Stuͤk, das in den bloßen Schranken der Natur wenig reizen wuͤrde. Ueberzeugung. (Beredſamkeit.) Wir ſind von der Wahrheit einer Sache nur als- denn uͤberzeuget, wenn wir durch inneres Gefuͤhl empfinden, daß kein Zweifel dagegen ſtatt habe. Bey der Ueberredung koͤnnen noch Zweifel, oder Ungewißheiten ſtatt haben; aber entweder zeigen ſie ſich uns nicht, oder ſie ſind nicht ſtark genug unſere Meinung, oder unſer Urtheil zuruͤkzuhalten. Die wahre Ueberzeugung entſteht blos aus dem wuͤrkli- chen Gefuͤhle, daß die Sache nicht anders ſeyn koͤnne, als ſo wie wir ſie erkennen. Sie wird aber ſelten anders, als durch ſtrenge, foͤrmliche Ver- nunftſchluͤſſe bewuͤrkt; es ſey denn, daß ſie aus Ge- geneinanderhaltung blos zweyer ganz einfachen Be- griffe folge, wie die Grundſaͤze, die man Axiome nennt, als z. B. dieſer, daß das Ganze groͤßer iſt, als einer ſeiner Theile. Es gehoͤret nicht hieher zu zeigen, wie die ſtrengen Beweiſe, die zur Ueber- zeugung fuͤhren, zu geben ſeyen. Fuͤr den Redner ſchiken ſich die ſtrengen philoſophiſchen Beweiſe, die in dem wiſſenſchaftlichen Vortrage noͤthig ſind, nicht. Fuͤr ſeine eigene Ueberzeugung aber muß er ſie, wo ſie ſtatt haben, zu geben wiſſen. Nur als Red- ner muß er ſie ganz anders vortragen. Wahre Ueberzeugung der Zuhoͤrer kann nur der Redner bewuͤrken, der ſelbſt uͤberzeuget iſt. Wir ſezen alſo hier die Ueberzeugung des Redners vor- aus, und haben nur zu betrachten, wie er ſie an- dern mittheilen ſoll. Jſt er durch den muͤheſamen Weg einer genauen Unterſuchung, zu der Richtigkeit und Vollſtaͤndigkeit der Begriffe, ſo denn zu ihrer deutlichen Entwiklung, und dadurch zur Ueberzeu- gung gekommen; ſo muß er nun, dieſen Weg, den er mit vieler Muͤhe zuruͤkgelegt hat, wie von einer Hoͤhe uͤberſehen; alle ſeine Kruͤmmungen und ſteile Spruͤnge bemerken, um zu erforſchen, wie er ſie ge- rade und eben zu machen habe. Denn das was ihm ſchweer geweſen, muß er dem Zuhoͤrer leicht machen. Jm Grund hat alſo der Redner zur Ue- berzeugung ſeiner Zuhoͤrer keinen andern Weg zu nehmen, als den, durch welchen der Philoſoph geht; beyde geben Beweiſe, die im Weſentlichen dieſelben ſind. Was aber der Philoſoph allgemein, abſtrakt und kurz gedrungen ſagt, wird von dem Redner durch beſondere klare und leichtfaßliche Vorſtellun- gen dem Anſchauen ausfuͤhrlich vorgebildet. Ein ſolcher Beweis iſt im Grunde nur eine rhetoriſche Erweiterung eines ſtrengen philoſophiſchen Beweiſes. Wie der Philoſoph die Begriffe durch Erklaͤrungen deutlich und beſtimmt angiebt, der Redner aber durch Abbildung oder Vorzeigung der beſondern Dinge, aus deren Betrachtung ſie ſinnlich gefaßt werden; ſo unterſcheiden ſich beyde in ihren Arten zu beweiſen. Der Redner hat alſo zur Ueberzeugung ſeiner Zu- hoͤrer weit mehr zu thun, als der Philoſoph; er muß den Beweis, gerade ſo wie dieſer, erfinden und vortragen: alsdenn aber hat er erſt den Text ſeiner Rede, oder wenn man will, den Grundriß derſelben. Nun muß er aus dieſen Grundriß ein Gebaͤude auffuͤhren, deſſen Feſtigkeit und andre nach dem Zwek erforderliche Vollkommenheiten, nicht blos Kenner einſehen, ſondern jeder Menſch von geſunder Beurtheilung, ohne große Muͤhe bemerke. Jch halte dieſes fuͤr das Hoͤchſte in der Kunſt des Red- ners

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1196[1178]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/625>, abgerufen am 25.04.2024.