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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ueb
und tägliche Uebungen sind demnach mit dem Stu-
dium der Kunst nothwendig zu verbinden, wenn
man ein Künstler werden will. Wie aber zu den
Künsten innere und äußere Fertigkeiten erfodert wor-
den, so giebt es auch zweyerley Uebungen. Durch
die innern erwirbt man sich die Fertigkeiten des Gei-
stes und des Herzens, z. B. die Fertigkeit schnell zu
fassen, richtig zu beurtheilen, viel auf einmal zu
übersehen, richtig und fein zu empfinden. Durch
äußere Uebungen der Sinnen und anderer Glied-
maaßen des Körpers erlanget man die Fertigkeiten
genau zu sehen, das Augenmaaß, ein feines und
viel umfassendes Gehör, eine leichte und zu jeder
Bewegung geschikte Hand u. s. f. Es wäre sehr
überflüßig hier jeder zu den verschiedenen Künsten
nöthigen Fertigkeiten besonders Erwähnung zu thun;
die Sachen sind bekannt. Aber wichtig ist es jun-
gen Künstlern zu sagen, daß das größte Genie zur
Kunst die Uebung nicht entbehrlich mache; daß
Apelles selbst es sich zur Regel gemacht, keinen
Tag ohne einige Penselstriche zu thun, vorbey ge-
hen zu lassen, und daß durchgehends die größten
Künstler in jeder Art dieselbe Regel beobachten,
und ihre Größe zum Theil dadurch erlangt haben.

Jst aber die Uebung selbst für Meister so noth-
wendig, so mag der Schüler und der noch junge
Künstler die Nothwendigkeit fleißiger Uebungen dar-
aus abnehmen. Die Bildung des künftigen Künstlers
muß in der frühesten Jugend, ich möchte bald sagen,
in der Kindheit mit äußern Uebungen anfangen. Zu
den zeichnenden Künsten muß die Hand und das Aug,
zur Musik die Finger, oder nach Beschaffenheit der
künftigen Ausübung der Mund, oder die Kehle,
und zugleich das Ohr, zu den Künsten der Rede
die Werkzeuge der Sprach, und auch das Gehör,
zuerst geübet werden. Späther wird man zu vie-
len Uebungen zu verdrossen, weil das Gemüth schon
zu sehr mit andern Gegenständen beschäftiget ist,
sie werden schon schweerer, weil die Gliedmaaßen
schon anfangen etwas von ihrer Geschmeidigkeit zu
verliehren, und vielleicht auch deswegen, weil der
Eindruk den jede einzele Uebung macht, und davon
etwas fortdaurend seyn muß, schon etwas von ihrer
Lebhaftigkeit zu verliehren, anfängt.

Wichtig ist es dabey, daß man allmählig vom
Leichtern auf das Schweerere steige. Es wäre zu
wünschen, daß man für jede Kunst so vollständige
und so wol überlegte Anweisung für die ersten Uebun-
[Spaltenumbruch]

Umf
gen der Kunst hätte, als die sind, die Quintilian
für den künftigen Redner gegeben hat.

Bey den innern Uebungen muß man bey den so
genannten untern Seelenkräften, dem Gedächtnis,
der Einbildungskraft, und der Kraft zu fassen und
zu empfinden anfangen, und hernach die höhern
Kräfte zu beobachten, zu vergleichen, zu entwikeln,
zu beurtheilen u. s. w. durch Uebung anstrengen.

Zu wünschen wär es, daß einer unsrer besten
Psychologen, sich die Mühe gäbe, eine allgemeine
Asketik oder Wissenschaft der Uebungen zur mög-
lichst vollkommenen Entwiklung der Fähigkeiten der
Seele zu verfertigen. Denn könnte man daraus
auch die besondern Anweisungen zu den inneren Ue-
bungen der Künstler herleiten.

Durch eine gewöhnliche Metonymie werden auch
solche Werke, die Künstler zur Uebung verfertiget
haben, Uebungen genennt. Man giebt ihnen auch
den Namen der Studien, weil sie im französischen
etudes genennt werden. Dergleichen Uebungen
großer Meister werden von Kennern sehr gesucht.
Jnsgemein übertreffen sie in besondern Theilen der
Kunst die würklich nach allen Theilen ausgearbeite-
ten Werke. Denn bey den Uebungen siehet der
Künstler insgemein nur auf das Eine, darin er sich
übet, verfährt deswegen freyer, und wird durch an-
dre zu einem völlig ausgearbeiteten Werk der Kunst
gehörige Theile in dem Feuer der Arbeit nicht ge-
hemmt. Wer sich blos in der Zeichnung des Ein-
zelen übet, wird weder durch das Colorit, noch durch
die Anordnung, die der äußersten Vollkommenheit
der Zeichnung bisweilen hinderlich sind, in Verle-
genheit gesezt. So wird der Tonsezer, der sich in
Harmonien übet, durch die Schwierigkeit der Me-
lodie, des Takts und des Rhythmus nicht gehemmt,
und kann deswegen auf Erfindungen kommen, die
er nicht würde gemacht haben, wenn er bey der
Arbeit auf alles zugleich hätte sehen müssen.

Umfang.
(Musik.)

Bedeutet den Abstand des tiefsten Tones eines Jn-
struments, oder einer Stimme, bis zum höchsten.
Von dem Umfange des ganzen Tonsystems haben
wir am Ende des Artikels System gesprochen. Wich-
tig ist für den Tonsezer die genauere Kenntnis des
Umfanges jeder Stimme und jedes Jnstruments,
damit er nichts seze, das sie nicht erreichen können.

Denn

[Spaltenumbruch]

Ueb
und taͤgliche Uebungen ſind demnach mit dem Stu-
dium der Kunſt nothwendig zu verbinden, wenn
man ein Kuͤnſtler werden will. Wie aber zu den
Kuͤnſten innere und aͤußere Fertigkeiten erfodert wor-
den, ſo giebt es auch zweyerley Uebungen. Durch
die innern erwirbt man ſich die Fertigkeiten des Gei-
ſtes und des Herzens, z. B. die Fertigkeit ſchnell zu
faſſen, richtig zu beurtheilen, viel auf einmal zu
uͤberſehen, richtig und fein zu empfinden. Durch
aͤußere Uebungen der Sinnen und anderer Glied-
maaßen des Koͤrpers erlanget man die Fertigkeiten
genau zu ſehen, das Augenmaaß, ein feines und
viel umfaſſendes Gehoͤr, eine leichte und zu jeder
Bewegung geſchikte Hand u. ſ. f. Es waͤre ſehr
uͤberfluͤßig hier jeder zu den verſchiedenen Kuͤnſten
noͤthigen Fertigkeiten beſonders Erwaͤhnung zu thun;
die Sachen ſind bekannt. Aber wichtig iſt es jun-
gen Kuͤnſtlern zu ſagen, daß das groͤßte Genie zur
Kunſt die Uebung nicht entbehrlich mache; daß
Apelles ſelbſt es ſich zur Regel gemacht, keinen
Tag ohne einige Penſelſtriche zu thun, vorbey ge-
hen zu laſſen, und daß durchgehends die groͤßten
Kuͤnſtler in jeder Art dieſelbe Regel beobachten,
und ihre Groͤße zum Theil dadurch erlangt haben.

Jſt aber die Uebung ſelbſt fuͤr Meiſter ſo noth-
wendig, ſo mag der Schuͤler und der noch junge
Kuͤnſtler die Nothwendigkeit fleißiger Uebungen dar-
aus abnehmen. Die Bildung des kuͤnftigen Kuͤnſtlers
muß in der fruͤheſten Jugend, ich moͤchte bald ſagen,
in der Kindheit mit aͤußern Uebungen anfangen. Zu
den zeichnenden Kuͤnſten muß die Hand und das Aug,
zur Muſik die Finger, oder nach Beſchaffenheit der
kuͤnftigen Ausuͤbung der Mund, oder die Kehle,
und zugleich das Ohr, zu den Kuͤnſten der Rede
die Werkzeuge der Sprach, und auch das Gehoͤr,
zuerſt geuͤbet werden. Spaͤther wird man zu vie-
len Uebungen zu verdroſſen, weil das Gemuͤth ſchon
zu ſehr mit andern Gegenſtaͤnden beſchaͤftiget iſt,
ſie werden ſchon ſchweerer, weil die Gliedmaaßen
ſchon anfangen etwas von ihrer Geſchmeidigkeit zu
verliehren, und vielleicht auch deswegen, weil der
Eindruk den jede einzele Uebung macht, und davon
etwas fortdaurend ſeyn muß, ſchon etwas von ihrer
Lebhaftigkeit zu verliehren, anfaͤngt.

Wichtig iſt es dabey, daß man allmaͤhlig vom
Leichtern auf das Schweerere ſteige. Es waͤre zu
wuͤnſchen, daß man fuͤr jede Kunſt ſo vollſtaͤndige
und ſo wol uͤberlegte Anweiſung fuͤr die erſten Uebun-
[Spaltenumbruch]

Umf
gen der Kunſt haͤtte, als die ſind, die Quintilian
fuͤr den kuͤnftigen Redner gegeben hat.

Bey den innern Uebungen muß man bey den ſo
genannten untern Seelenkraͤften, dem Gedaͤchtnis,
der Einbildungskraft, und der Kraft zu faſſen und
zu empfinden anfangen, und hernach die hoͤhern
Kraͤfte zu beobachten, zu vergleichen, zu entwikeln,
zu beurtheilen u. ſ. w. durch Uebung anſtrengen.

Zu wuͤnſchen waͤr es, daß einer unſrer beſten
Pſychologen, ſich die Muͤhe gaͤbe, eine allgemeine
Asketik oder Wiſſenſchaft der Uebungen zur moͤg-
lichſt vollkommenen Entwiklung der Faͤhigkeiten der
Seele zu verfertigen. Denn koͤnnte man daraus
auch die beſondern Anweiſungen zu den inneren Ue-
bungen der Kuͤnſtler herleiten.

Durch eine gewoͤhnliche Metonymie werden auch
ſolche Werke, die Kuͤnſtler zur Uebung verfertiget
haben, Uebungen genennt. Man giebt ihnen auch
den Namen der Studien, weil ſie im franzoͤſiſchen
études genennt werden. Dergleichen Uebungen
großer Meiſter werden von Kennern ſehr geſucht.
Jnsgemein uͤbertreffen ſie in beſondern Theilen der
Kunſt die wuͤrklich nach allen Theilen ausgearbeite-
ten Werke. Denn bey den Uebungen ſiehet der
Kuͤnſtler insgemein nur auf das Eine, darin er ſich
uͤbet, verfaͤhrt deswegen freyer, und wird durch an-
dre zu einem voͤllig ausgearbeiteten Werk der Kunſt
gehoͤrige Theile in dem Feuer der Arbeit nicht ge-
hemmt. Wer ſich blos in der Zeichnung des Ein-
zelen uͤbet, wird weder durch das Colorit, noch durch
die Anordnung, die der aͤußerſten Vollkommenheit
der Zeichnung bisweilen hinderlich ſind, in Verle-
genheit geſezt. So wird der Tonſezer, der ſich in
Harmonien uͤbet, durch die Schwierigkeit der Me-
lodie, des Takts und des Rhythmus nicht gehemmt,
und kann deswegen auf Erfindungen kommen, die
er nicht wuͤrde gemacht haben, wenn er bey der
Arbeit auf alles zugleich haͤtte ſehen muͤſſen.

Umfang.
(Muſik.)

Bedeutet den Abſtand des tiefſten Tones eines Jn-
ſtruments, oder einer Stimme, bis zum hoͤchſten.
Von dem Umfange des ganzen Tonſyſtems haben
wir am Ende des Artikels Syſtem geſprochen. Wich-
tig iſt fuͤr den Tonſezer die genauere Kenntnis des
Umfanges jeder Stimme und jedes Jnſtruments,
damit er nichts ſeze, das ſie nicht erreichen koͤnnen.

Denn
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[1198[1180]/0627] Ueb Umf und taͤgliche Uebungen ſind demnach mit dem Stu- dium der Kunſt nothwendig zu verbinden, wenn man ein Kuͤnſtler werden will. Wie aber zu den Kuͤnſten innere und aͤußere Fertigkeiten erfodert wor- den, ſo giebt es auch zweyerley Uebungen. Durch die innern erwirbt man ſich die Fertigkeiten des Gei- ſtes und des Herzens, z. B. die Fertigkeit ſchnell zu faſſen, richtig zu beurtheilen, viel auf einmal zu uͤberſehen, richtig und fein zu empfinden. Durch aͤußere Uebungen der Sinnen und anderer Glied- maaßen des Koͤrpers erlanget man die Fertigkeiten genau zu ſehen, das Augenmaaß, ein feines und viel umfaſſendes Gehoͤr, eine leichte und zu jeder Bewegung geſchikte Hand u. ſ. f. Es waͤre ſehr uͤberfluͤßig hier jeder zu den verſchiedenen Kuͤnſten noͤthigen Fertigkeiten beſonders Erwaͤhnung zu thun; die Sachen ſind bekannt. Aber wichtig iſt es jun- gen Kuͤnſtlern zu ſagen, daß das groͤßte Genie zur Kunſt die Uebung nicht entbehrlich mache; daß Apelles ſelbſt es ſich zur Regel gemacht, keinen Tag ohne einige Penſelſtriche zu thun, vorbey ge- hen zu laſſen, und daß durchgehends die groͤßten Kuͤnſtler in jeder Art dieſelbe Regel beobachten, und ihre Groͤße zum Theil dadurch erlangt haben. Jſt aber die Uebung ſelbſt fuͤr Meiſter ſo noth- wendig, ſo mag der Schuͤler und der noch junge Kuͤnſtler die Nothwendigkeit fleißiger Uebungen dar- aus abnehmen. Die Bildung des kuͤnftigen Kuͤnſtlers muß in der fruͤheſten Jugend, ich moͤchte bald ſagen, in der Kindheit mit aͤußern Uebungen anfangen. Zu den zeichnenden Kuͤnſten muß die Hand und das Aug, zur Muſik die Finger, oder nach Beſchaffenheit der kuͤnftigen Ausuͤbung der Mund, oder die Kehle, und zugleich das Ohr, zu den Kuͤnſten der Rede die Werkzeuge der Sprach, und auch das Gehoͤr, zuerſt geuͤbet werden. Spaͤther wird man zu vie- len Uebungen zu verdroſſen, weil das Gemuͤth ſchon zu ſehr mit andern Gegenſtaͤnden beſchaͤftiget iſt, ſie werden ſchon ſchweerer, weil die Gliedmaaßen ſchon anfangen etwas von ihrer Geſchmeidigkeit zu verliehren, und vielleicht auch deswegen, weil der Eindruk den jede einzele Uebung macht, und davon etwas fortdaurend ſeyn muß, ſchon etwas von ihrer Lebhaftigkeit zu verliehren, anfaͤngt. Wichtig iſt es dabey, daß man allmaͤhlig vom Leichtern auf das Schweerere ſteige. Es waͤre zu wuͤnſchen, daß man fuͤr jede Kunſt ſo vollſtaͤndige und ſo wol uͤberlegte Anweiſung fuͤr die erſten Uebun- gen der Kunſt haͤtte, als die ſind, die Quintilian fuͤr den kuͤnftigen Redner gegeben hat. Bey den innern Uebungen muß man bey den ſo genannten untern Seelenkraͤften, dem Gedaͤchtnis, der Einbildungskraft, und der Kraft zu faſſen und zu empfinden anfangen, und hernach die hoͤhern Kraͤfte zu beobachten, zu vergleichen, zu entwikeln, zu beurtheilen u. ſ. w. durch Uebung anſtrengen. Zu wuͤnſchen waͤr es, daß einer unſrer beſten Pſychologen, ſich die Muͤhe gaͤbe, eine allgemeine Asketik oder Wiſſenſchaft der Uebungen zur moͤg- lichſt vollkommenen Entwiklung der Faͤhigkeiten der Seele zu verfertigen. Denn koͤnnte man daraus auch die beſondern Anweiſungen zu den inneren Ue- bungen der Kuͤnſtler herleiten. Durch eine gewoͤhnliche Metonymie werden auch ſolche Werke, die Kuͤnſtler zur Uebung verfertiget haben, Uebungen genennt. Man giebt ihnen auch den Namen der Studien, weil ſie im franzoͤſiſchen études genennt werden. Dergleichen Uebungen großer Meiſter werden von Kennern ſehr geſucht. Jnsgemein uͤbertreffen ſie in beſondern Theilen der Kunſt die wuͤrklich nach allen Theilen ausgearbeite- ten Werke. Denn bey den Uebungen ſiehet der Kuͤnſtler insgemein nur auf das Eine, darin er ſich uͤbet, verfaͤhrt deswegen freyer, und wird durch an- dre zu einem voͤllig ausgearbeiteten Werk der Kunſt gehoͤrige Theile in dem Feuer der Arbeit nicht ge- hemmt. Wer ſich blos in der Zeichnung des Ein- zelen uͤbet, wird weder durch das Colorit, noch durch die Anordnung, die der aͤußerſten Vollkommenheit der Zeichnung bisweilen hinderlich ſind, in Verle- genheit geſezt. So wird der Tonſezer, der ſich in Harmonien uͤbet, durch die Schwierigkeit der Me- lodie, des Takts und des Rhythmus nicht gehemmt, und kann deswegen auf Erfindungen kommen, die er nicht wuͤrde gemacht haben, wenn er bey der Arbeit auf alles zugleich haͤtte ſehen muͤſſen. Umfang. (Muſik.) Bedeutet den Abſtand des tiefſten Tones eines Jn- ſtruments, oder einer Stimme, bis zum hoͤchſten. Von dem Umfange des ganzen Tonſyſtems haben wir am Ende des Artikels Syſtem geſprochen. Wich- tig iſt fuͤr den Tonſezer die genauere Kenntnis des Umfanges jeder Stimme und jedes Jnſtruments, damit er nichts ſeze, das ſie nicht erreichen koͤnnen. Denn

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1198[1180]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/627>, abgerufen am 25.04.2024.