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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Umr
Gliedmaßen. Also kann eine Figur nach unendlich
viel verschiedenen Umrissen gezeichnet werden.

Bey jeder Zeichnung des Umrisses ist auf zwey
wesentliche Punkte zu sehen, auf Richtigkeit und auf
Schönheit. Die Richtigkeit des Umrisses entsteht
aus Beobachtung der wahren Verhältnisse, und der
wahren Wendung einzeler Theile. Nämlich, der
ganze Umriß besteht aus unzähligen krummen, aus-
und eingebogenen, mehr oder weniger gekrümmeten
und immer in einander fließenden Linien. Die Er-
höhungen und Vertiefungen dieser Linien entstehen
aus den unter der Haut liegenden Muskeln und
Knochen. Jene sind nicht nur in jedem einzelen
Körper, sondern bey jeder Stellung und Bewegung,
so wol in Verhältniß, als in Form anders. Es
giebt aber auch allgemeine Verhältnisse und Formen,
die ganzen Gattungen eigen sind. Menschen von
gewisser Lebensart, zeigen Umrisse, die ihrer Gat-
tung eigen sind. Ein Kämpfer, der sich täglich in
gewaltsamen Bewegungen übet, bekommt an allen
Theilen andere Umrisse, als ein weichlicher und meist
stillsizender Mensch. Dergleichen Veränderungen ent-
stehen auch durch das Temperament und das Alter.
Man staunet bey einigem Nachdenken über die
Schwierigkeiten in jedem Falle die Richtigkeit der
Umrisse zu treffen.

Ohne sehr gute Kenntniß der Anatomie, ohne
ausgebreitete Beobachtung der Bewegungen an na-
kenden Körpern von allerley Alter und Tempera-
ment, ist es unmöglich einige Fertigkeit in Zeichnung
der Umrisse zu erhalten. Und doch wird die ausge-
breiteste Kenntniß hierin für tausend Fälle noch nicht
hinreichen, wenn man nicht die Natur selbst vor
Augen hat. Es ist nöthig die Schwierigkeit der
Sache ins Licht zu sezen, damit besonders junge
Künstler die dringende Nothwendigkeit des Stu-
diums und der Uebung in ihrer Kraft empfinden.
Einem guten Zeichner des Nakenden müssen die
Muskeln des menschlichen Körpers so bekannt seyn,
als die Buchstaben des Alphabets dem, der Wörter
zu schreiben hat.

Das allgemeine Kleid, oder die Haut, die den
Körper bedekt, giebt eigentlich der menschlichen Fi-
gur die Schönheit, in so fern sie von der Richtig-
keit der Verhältnisse unabhängend ist. Sie mildert
alles Harte und Steiffe, bringt alle Linien des Um-
risses zur Einheit der Form, und giebt ihm die
liebliche Harmonie, und das sanfte Wesen, wo-
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Umr
durch die menschliche Gestalt, auch blos in Absicht
auf den Umriß allein, die höchste Schönheit der
Form erhält.

Die Einheit der Linie des ganzen Umrisses schei-
net die erste nothwendige Eigenschaft der Schönheit
des Umrisses zu seyn. Eine einzige unabgebrochene
Linie muß die ganze Figur umschließen. Jn dieser
Linie muß nichts gerades seyn; alles muß sich Wel-
lenförmig bald mehr, bald weniger runden; aber
mit so sanften Abwechslungen, daß man vom aus-
gebogenen auf das eingebogene, von dem mehrge-
krümten, auf das gerade laufende, durch unmerk-
liche Stufen kommt, so daß das Aug um den gan-
zen Umriß sanft fortglitschen könne.

Einer der wichtigsten Punkte der Schönheit liegt
in der abwechselnden Stärke und Schwäche, in der
Kühnheit, womit einige, und der bescheidenen Vor-
sichtigkeit, womit andere Theile gleichsam ausge-
sprochen werden. Jm Umriß kann nicht einerley
Ton herrschen, wenn es ihm nicht ganz an Kraft
fehlen soll. Wer den fürtreflichsten Umriß, wie
ihn Raphael gemacht hätte, mit einer dünnen,
überall gleichen Linie, nachzeichnen würde, benäh-
me ihm dadurch fast alle Kraft; er würde nur den
Schatten eines schönen Umrisses, wiewol in der
größten Richtigkeit der Verhältnisse darstellen. So
wie die Wörter der Rede, die Redesäze und ganze
Perioden ihre verschiedenen Accente, Hebung und
Abfall der Stimme haben müssen, um wolklingend
zu seyn, so muß auch der Umriß, Ton und Stimm
abändern. Einiges muß sich durch Kühnheit, an-
ders durch das Sanfte auszeichnen.

Aber es wäre Tollheit, eine Sache, die man blos
zu fühlen, nie aber zu erkennen, im Stand ist, und
wozu die Sprache keine Worte hat, ausführlich be-
schreiben wollen. Der Künstler übe sein Aug an der
Natur, an den besten Antiken, an den Werken des
Raphaels, M. Angelo und andrer großer Männer,
und lerne zuerst fühlen, denn suche er das, was er
fühlt, auszudrüken.

Neue Schwierigkeiten zeigen sich in Absicht auf
den Umriß, wenn der Zeichner statt der Reißfeder
den Pensel führet. Da muß er einigermaaßen zau-
bern können, um uns Sachen sehen zu lassen, die
nicht da sind. Denn wir sehen Begränzung, ohne
die Gränzen zu sehen. Aber ich enthalte mich von
einer Sache zu sprechen, die für die Meister der

Kunst

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Umr
Gliedmaßen. Alſo kann eine Figur nach unendlich
viel verſchiedenen Umriſſen gezeichnet werden.

Bey jeder Zeichnung des Umriſſes iſt auf zwey
weſentliche Punkte zu ſehen, auf Richtigkeit und auf
Schoͤnheit. Die Richtigkeit des Umriſſes entſteht
aus Beobachtung der wahren Verhaͤltniſſe, und der
wahren Wendung einzeler Theile. Naͤmlich, der
ganze Umriß beſteht aus unzaͤhligen krummen, aus-
und eingebogenen, mehr oder weniger gekruͤmmeten
und immer in einander fließenden Linien. Die Er-
hoͤhungen und Vertiefungen dieſer Linien entſtehen
aus den unter der Haut liegenden Muskeln und
Knochen. Jene ſind nicht nur in jedem einzelen
Koͤrper, ſondern bey jeder Stellung und Bewegung,
ſo wol in Verhaͤltniß, als in Form anders. Es
giebt aber auch allgemeine Verhaͤltniſſe und Formen,
die ganzen Gattungen eigen ſind. Menſchen von
gewiſſer Lebensart, zeigen Umriſſe, die ihrer Gat-
tung eigen ſind. Ein Kaͤmpfer, der ſich taͤglich in
gewaltſamen Bewegungen uͤbet, bekommt an allen
Theilen andere Umriſſe, als ein weichlicher und meiſt
ſtillſizender Menſch. Dergleichen Veraͤnderungen ent-
ſtehen auch durch das Temperament und das Alter.
Man ſtaunet bey einigem Nachdenken uͤber die
Schwierigkeiten in jedem Falle die Richtigkeit der
Umriſſe zu treffen.

Ohne ſehr gute Kenntniß der Anatomie, ohne
ausgebreitete Beobachtung der Bewegungen an na-
kenden Koͤrpern von allerley Alter und Tempera-
ment, iſt es unmoͤglich einige Fertigkeit in Zeichnung
der Umriſſe zu erhalten. Und doch wird die ausge-
breiteſte Kenntniß hierin fuͤr tauſend Faͤlle noch nicht
hinreichen, wenn man nicht die Natur ſelbſt vor
Augen hat. Es iſt noͤthig die Schwierigkeit der
Sache ins Licht zu ſezen, damit beſonders junge
Kuͤnſtler die dringende Nothwendigkeit des Stu-
diums und der Uebung in ihrer Kraft empfinden.
Einem guten Zeichner des Nakenden muͤſſen die
Muskeln des menſchlichen Koͤrpers ſo bekannt ſeyn,
als die Buchſtaben des Alphabets dem, der Woͤrter
zu ſchreiben hat.

Das allgemeine Kleid, oder die Haut, die den
Koͤrper bedekt, giebt eigentlich der menſchlichen Fi-
gur die Schoͤnheit, in ſo fern ſie von der Richtig-
keit der Verhaͤltniſſe unabhaͤngend iſt. Sie mildert
alles Harte und Steiffe, bringt alle Linien des Um-
riſſes zur Einheit der Form, und giebt ihm die
liebliche Harmonie, und das ſanfte Weſen, wo-
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Umr
durch die menſchliche Geſtalt, auch blos in Abſicht
auf den Umriß allein, die hoͤchſte Schoͤnheit der
Form erhaͤlt.

Die Einheit der Linie des ganzen Umriſſes ſchei-
net die erſte nothwendige Eigenſchaft der Schoͤnheit
des Umriſſes zu ſeyn. Eine einzige unabgebrochene
Linie muß die ganze Figur umſchließen. Jn dieſer
Linie muß nichts gerades ſeyn; alles muß ſich Wel-
lenfoͤrmig bald mehr, bald weniger runden; aber
mit ſo ſanften Abwechslungen, daß man vom aus-
gebogenen auf das eingebogene, von dem mehrge-
kruͤmten, auf das gerade laufende, durch unmerk-
liche Stufen kommt, ſo daß das Aug um den gan-
zen Umriß ſanft fortglitſchen koͤnne.

Einer der wichtigſten Punkte der Schoͤnheit liegt
in der abwechſelnden Staͤrke und Schwaͤche, in der
Kuͤhnheit, womit einige, und der beſcheidenen Vor-
ſichtigkeit, womit andere Theile gleichſam ausge-
ſprochen werden. Jm Umriß kann nicht einerley
Ton herrſchen, wenn es ihm nicht ganz an Kraft
fehlen ſoll. Wer den fuͤrtreflichſten Umriß, wie
ihn Raphael gemacht haͤtte, mit einer duͤnnen,
uͤberall gleichen Linie, nachzeichnen wuͤrde, benaͤh-
me ihm dadurch faſt alle Kraft; er wuͤrde nur den
Schatten eines ſchoͤnen Umriſſes, wiewol in der
groͤßten Richtigkeit der Verhaͤltniſſe darſtellen. So
wie die Woͤrter der Rede, die Redeſaͤze und ganze
Perioden ihre verſchiedenen Accente, Hebung und
Abfall der Stimme haben muͤſſen, um wolklingend
zu ſeyn, ſo muß auch der Umriß, Ton und Stimm
abaͤndern. Einiges muß ſich durch Kuͤhnheit, an-
ders durch das Sanfte auszeichnen.

Aber es waͤre Tollheit, eine Sache, die man blos
zu fuͤhlen, nie aber zu erkennen, im Stand iſt, und
wozu die Sprache keine Worte hat, ausfuͤhrlich be-
ſchreiben wollen. Der Kuͤnſtler uͤbe ſein Aug an der
Natur, an den beſten Antiken, an den Werken des
Raphaels, M. Angelo und andrer großer Maͤnner,
und lerne zuerſt fuͤhlen, denn ſuche er das, was er
fuͤhlt, auszudruͤken.

Neue Schwierigkeiten zeigen ſich in Abſicht auf
den Umriß, wenn der Zeichner ſtatt der Reißfeder
den Penſel fuͤhret. Da muß er einigermaaßen zau-
bern koͤnnen, um uns Sachen ſehen zu laſſen, die
nicht da ſind. Denn wir ſehen Begraͤnzung, ohne
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einer Sache zu ſprechen, die fuͤr die Meiſter der

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[1201[1183]/0630] Umr Umr Gliedmaßen. Alſo kann eine Figur nach unendlich viel verſchiedenen Umriſſen gezeichnet werden. Bey jeder Zeichnung des Umriſſes iſt auf zwey weſentliche Punkte zu ſehen, auf Richtigkeit und auf Schoͤnheit. Die Richtigkeit des Umriſſes entſteht aus Beobachtung der wahren Verhaͤltniſſe, und der wahren Wendung einzeler Theile. Naͤmlich, der ganze Umriß beſteht aus unzaͤhligen krummen, aus- und eingebogenen, mehr oder weniger gekruͤmmeten und immer in einander fließenden Linien. Die Er- hoͤhungen und Vertiefungen dieſer Linien entſtehen aus den unter der Haut liegenden Muskeln und Knochen. Jene ſind nicht nur in jedem einzelen Koͤrper, ſondern bey jeder Stellung und Bewegung, ſo wol in Verhaͤltniß, als in Form anders. Es giebt aber auch allgemeine Verhaͤltniſſe und Formen, die ganzen Gattungen eigen ſind. Menſchen von gewiſſer Lebensart, zeigen Umriſſe, die ihrer Gat- tung eigen ſind. Ein Kaͤmpfer, der ſich taͤglich in gewaltſamen Bewegungen uͤbet, bekommt an allen Theilen andere Umriſſe, als ein weichlicher und meiſt ſtillſizender Menſch. Dergleichen Veraͤnderungen ent- ſtehen auch durch das Temperament und das Alter. Man ſtaunet bey einigem Nachdenken uͤber die Schwierigkeiten in jedem Falle die Richtigkeit der Umriſſe zu treffen. Ohne ſehr gute Kenntniß der Anatomie, ohne ausgebreitete Beobachtung der Bewegungen an na- kenden Koͤrpern von allerley Alter und Tempera- ment, iſt es unmoͤglich einige Fertigkeit in Zeichnung der Umriſſe zu erhalten. Und doch wird die ausge- breiteſte Kenntniß hierin fuͤr tauſend Faͤlle noch nicht hinreichen, wenn man nicht die Natur ſelbſt vor Augen hat. Es iſt noͤthig die Schwierigkeit der Sache ins Licht zu ſezen, damit beſonders junge Kuͤnſtler die dringende Nothwendigkeit des Stu- diums und der Uebung in ihrer Kraft empfinden. Einem guten Zeichner des Nakenden muͤſſen die Muskeln des menſchlichen Koͤrpers ſo bekannt ſeyn, als die Buchſtaben des Alphabets dem, der Woͤrter zu ſchreiben hat. Das allgemeine Kleid, oder die Haut, die den Koͤrper bedekt, giebt eigentlich der menſchlichen Fi- gur die Schoͤnheit, in ſo fern ſie von der Richtig- keit der Verhaͤltniſſe unabhaͤngend iſt. Sie mildert alles Harte und Steiffe, bringt alle Linien des Um- riſſes zur Einheit der Form, und giebt ihm die liebliche Harmonie, und das ſanfte Weſen, wo- durch die menſchliche Geſtalt, auch blos in Abſicht auf den Umriß allein, die hoͤchſte Schoͤnheit der Form erhaͤlt. Die Einheit der Linie des ganzen Umriſſes ſchei- net die erſte nothwendige Eigenſchaft der Schoͤnheit des Umriſſes zu ſeyn. Eine einzige unabgebrochene Linie muß die ganze Figur umſchließen. Jn dieſer Linie muß nichts gerades ſeyn; alles muß ſich Wel- lenfoͤrmig bald mehr, bald weniger runden; aber mit ſo ſanften Abwechslungen, daß man vom aus- gebogenen auf das eingebogene, von dem mehrge- kruͤmten, auf das gerade laufende, durch unmerk- liche Stufen kommt, ſo daß das Aug um den gan- zen Umriß ſanft fortglitſchen koͤnne. Einer der wichtigſten Punkte der Schoͤnheit liegt in der abwechſelnden Staͤrke und Schwaͤche, in der Kuͤhnheit, womit einige, und der beſcheidenen Vor- ſichtigkeit, womit andere Theile gleichſam ausge- ſprochen werden. Jm Umriß kann nicht einerley Ton herrſchen, wenn es ihm nicht ganz an Kraft fehlen ſoll. Wer den fuͤrtreflichſten Umriß, wie ihn Raphael gemacht haͤtte, mit einer duͤnnen, uͤberall gleichen Linie, nachzeichnen wuͤrde, benaͤh- me ihm dadurch faſt alle Kraft; er wuͤrde nur den Schatten eines ſchoͤnen Umriſſes, wiewol in der groͤßten Richtigkeit der Verhaͤltniſſe darſtellen. So wie die Woͤrter der Rede, die Redeſaͤze und ganze Perioden ihre verſchiedenen Accente, Hebung und Abfall der Stimme haben muͤſſen, um wolklingend zu ſeyn, ſo muß auch der Umriß, Ton und Stimm abaͤndern. Einiges muß ſich durch Kuͤhnheit, an- ders durch das Sanfte auszeichnen. Aber es waͤre Tollheit, eine Sache, die man blos zu fuͤhlen, nie aber zu erkennen, im Stand iſt, und wozu die Sprache keine Worte hat, ausfuͤhrlich be- ſchreiben wollen. Der Kuͤnſtler uͤbe ſein Aug an der Natur, an den beſten Antiken, an den Werken des Raphaels, M. Angelo und andrer großer Maͤnner, und lerne zuerſt fuͤhlen, denn ſuche er das, was er fuͤhlt, auszudruͤken. Neue Schwierigkeiten zeigen ſich in Abſicht auf den Umriß, wenn der Zeichner ſtatt der Reißfeder den Penſel fuͤhret. Da muß er einigermaaßen zau- bern koͤnnen, um uns Sachen ſehen zu laſſen, die nicht da ſind. Denn wir ſehen Begraͤnzung, ohne die Graͤnzen zu ſehen. Aber ich enthalte mich von einer Sache zu ſprechen, die fuͤr die Meiſter der Kunſt

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1201[1183]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/630>, abgerufen am 16.04.2024.