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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ver
der Musik die Consonanzen ausgedrükt werden. (*)
Man muß aber hierin nichts geheimnisvolles oder
unerklärbares suchen. Der Grund davon wird
sich bald offenbar zeigen, wenn man nur die Sache
in ihren gehörigen Gesichtspunkt betrachtet.

Das Verhältniß sezt zwey Größen voraus, weil
es in Vergleichung oder Gegeneinanderhaltung der-
selben besteht. Nun kommt es bey der Größe jedes
Theils darauf an, mit was für einer andern Größe
man sie vergleichen solle. Sind diese Größen zu
weit aus einander, so hat ihre Gegeneinanderhal-
tung nicht mehr statt. Man vergleicht die Größe
des Mundes oder der Nase, wol mit der Größe des
Gesichts, aber nicht mit der Größe der ganzen Sta-
tur. Wenn also ein Gegenstand der Theil eines
Haupttheils ist, so vergleichet man ihn mit seinem
Haupttheil, und mit den Theilen, die zugleich mit
ihm Theile eines Theils ausmachen: die Finger mit
der Hand, die Hand mit dem Arm, diesen mit
dem ganzen Körper und seinen Haupttheilen, den
Schenkeln, und den Rumpf. Also vergleicht man
einerley Theile mit einander, oder die Theile, die
unmittelbar zusammen ein Ganzes ausmachen sol-
len. Dinge, deren Größe weit auseinander ist,
können zusammengenommen kein Ganzes ausma-
chen. Eine Stadt, macht mit einigen darum lie-
genden Feldern, Hügeln, Büschen, eine Gegend
aus. Aber eine Stadt, mit einem kleinen daran
stoßenden Garten, macht keine Gegend aus, sondern
eine Stadt; der Garten kann wegbleiben, sie bleibt
immer eine Stadt. So könnte bey einem Men-
schen ein Finger zu groß, oder zu klein seyn, oder
ganz fehlen, und die Person noch immer ein schöner
Mensch seyn, aber die Hand an der er fehlte, wär
keine schöne Hand mehr.

Wir sehen hieraus überhaupt, daß man bey dem
Urtheil über Verhältnisse den Theil, worüber man
urtheilet nothwendig gegen einen andern Theil, der
mit ihm in gleichem Range steht, halten müsse. Jn
der Musik werden die Töne eines von dem Grundton
sehr entfernten Accords nur unter einander verglie-
chen, und nicht mehr gegen einen sehr tief unter
ihnen liegenden Grundton gehalten. Jn der Baukunst
vergleichet man die kleinern Glieder nicht mit dem
Gebäude, sondern mit dem Gesims, oder dem
Haupttheile, dessen unmittelbare Theile sie sind.

Nothwendig muß hier auch noch angemerkt wer-
den, daß bey Schäzung der Größen die Natur des
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Ver
Gegenstandes, an dem wir sie sehen, in Betrach-
tung zu ziehen ist. Man würde ein Fenster sehr
unproportionirt finden, wenn es acht oder zehen-
mal höher, als breit wäre, und doch findet man an
einer Säule dieses Verhältniß der Höhe gegen die
Dike gut. Bey dem Fenster haben Höhe und Brei-
te einerley Zwek, die Vermehrung des Lichts; bey
der Säule kommen zwey Sachen in Betrachtung,
die Erhebung, oder Erhöhung des aufliegenden Thei-
les und die Festigkeit der Unterstüzung. Hiebey ent-
stehet die Frag, ob die Dike gegen die einmal fest-
gesezte Höhe groß genug sey. Wäre bey dem Fen-
ster gar nichts festgesezt, als die Menge des einfal-
lenden Lichtes, so wär unstreitig dieses das beste Ver-
hältniß, wenn die Breite der Höhe gleich wäre,
weil beyde gleichen Antheil an Vermehrung des
Lichts haben. Das aber die Höhe insgemein grös-
ser, als die Breite genommen wird, hat seinen
Grund in der Höhe des zu erleuchtenden Zimmers,
und nicht darin, daß ein langes Vierek schöner sey,
als das, dessen Höhe der Breite gleich ist.

Man siehet hieraus überhaupt, daß das Urtheil
über Verhältnisse nicht so einfach sey, als sich man-
cher einbildet, und daß es eben nicht blos darauf
ankommt, Zahlen gegen einander zu halten.

Man hat zu allen Zeiten erkennt, daß der mensch-
liche Körper das vollkommenste Muster der guten
Verhältnisse sey. Jn der That sind alle Regeln der
vollkommensten Harmonie oder Uebereinstimmung
daran zu erkennen. Diese vollkommene Form im
Ganzen betrachtet, bietet gleich einige Haupttheile
dar, von denen keiner über den andern herrscht, kei-
ner die Aufmerksamkeit so auf sich zieht, daß sie den
andern entgienge. Je kleiner ein Haupttheil ist, je
mehr hat er Mannigfaltigkeit und Schönheit, wo-
durch das, was ihm an Größe abgeht, ersezt, wird.
Der Kopf, als der kleineste Theil hat die größte
Schönheit, der Rumpf, als der Größte, hat die
wenigste Schönheit, dadurch wird das Gefühl gleich-
sam gezwungen, das Ganze immer auf einmal zu
fassen. Eben so genau sind auch die Theile der
Haupttheile abgepaßt, daß man niemal weiß, wel-
chen man vorzüglich betrachten soll. Die Theile
des Gesichtes, Stirn, Wangen, Augen, Nase,
Mund, Kinn, folgen derselben Regel; die Augen
gewinnen an Reiz, was ihnen an Größe fehlet,
um die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen, die Stirn
und die Wangen, die wegen ihrer ansehnlichen Größe

stärker
(*) S.
Consonanz.
Harmonie.
M m m m m m m 3

[Spaltenumbruch]

Ver
der Muſik die Conſonanzen ausgedruͤkt werden. (*)
Man muß aber hierin nichts geheimnisvolles oder
unerklaͤrbares ſuchen. Der Grund davon wird
ſich bald offenbar zeigen, wenn man nur die Sache
in ihren gehoͤrigen Geſichtspunkt betrachtet.

Das Verhaͤltniß ſezt zwey Groͤßen voraus, weil
es in Vergleichung oder Gegeneinanderhaltung der-
ſelben beſteht. Nun kommt es bey der Groͤße jedes
Theils darauf an, mit was fuͤr einer andern Groͤße
man ſie vergleichen ſolle. Sind dieſe Groͤßen zu
weit aus einander, ſo hat ihre Gegeneinanderhal-
tung nicht mehr ſtatt. Man vergleicht die Groͤße
des Mundes oder der Naſe, wol mit der Groͤße des
Geſichts, aber nicht mit der Groͤße der ganzen Sta-
tur. Wenn alſo ein Gegenſtand der Theil eines
Haupttheils iſt, ſo vergleichet man ihn mit ſeinem
Haupttheil, und mit den Theilen, die zugleich mit
ihm Theile eines Theils ausmachen: die Finger mit
der Hand, die Hand mit dem Arm, dieſen mit
dem ganzen Koͤrper und ſeinen Haupttheilen, den
Schenkeln, und den Rumpf. Alſo vergleicht man
einerley Theile mit einander, oder die Theile, die
unmittelbar zuſammen ein Ganzes ausmachen ſol-
len. Dinge, deren Groͤße weit auseinander iſt,
koͤnnen zuſammengenommen kein Ganzes ausma-
chen. Eine Stadt, macht mit einigen darum lie-
genden Feldern, Huͤgeln, Buͤſchen, eine Gegend
aus. Aber eine Stadt, mit einem kleinen daran
ſtoßenden Garten, macht keine Gegend aus, ſondern
eine Stadt; der Garten kann wegbleiben, ſie bleibt
immer eine Stadt. So koͤnnte bey einem Men-
ſchen ein Finger zu groß, oder zu klein ſeyn, oder
ganz fehlen, und die Perſon noch immer ein ſchoͤner
Menſch ſeyn, aber die Hand an der er fehlte, waͤr
keine ſchoͤne Hand mehr.

Wir ſehen hieraus uͤberhaupt, daß man bey dem
Urtheil uͤber Verhaͤltniſſe den Theil, woruͤber man
urtheilet nothwendig gegen einen andern Theil, der
mit ihm in gleichem Range ſteht, halten muͤſſe. Jn
der Muſik werden die Toͤne eines von dem Grundton
ſehr entfernten Accords nur unter einander verglie-
chen, und nicht mehr gegen einen ſehr tief unter
ihnen liegenden Grundton gehalten. Jn der Baukunſt
vergleichet man die kleinern Glieder nicht mit dem
Gebaͤude, ſondern mit dem Geſims, oder dem
Haupttheile, deſſen unmittelbare Theile ſie ſind.

Nothwendig muß hier auch noch angemerkt wer-
den, daß bey Schaͤzung der Groͤßen die Natur des
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Ver
Gegenſtandes, an dem wir ſie ſehen, in Betrach-
tung zu ziehen iſt. Man wuͤrde ein Fenſter ſehr
unproportionirt finden, wenn es acht oder zehen-
mal hoͤher, als breit waͤre, und doch findet man an
einer Saͤule dieſes Verhaͤltniß der Hoͤhe gegen die
Dike gut. Bey dem Fenſter haben Hoͤhe und Brei-
te einerley Zwek, die Vermehrung des Lichts; bey
der Saͤule kommen zwey Sachen in Betrachtung,
die Erhebung, oder Erhoͤhung des aufliegenden Thei-
les und die Feſtigkeit der Unterſtuͤzung. Hiebey ent-
ſtehet die Frag, ob die Dike gegen die einmal feſt-
geſezte Hoͤhe groß genug ſey. Waͤre bey dem Fen-
ſter gar nichts feſtgeſezt, als die Menge des einfal-
lenden Lichtes, ſo waͤr unſtreitig dieſes das beſte Ver-
haͤltniß, wenn die Breite der Hoͤhe gleich waͤre,
weil beyde gleichen Antheil an Vermehrung des
Lichts haben. Das aber die Hoͤhe insgemein groͤſ-
ſer, als die Breite genommen wird, hat ſeinen
Grund in der Hoͤhe des zu erleuchtenden Zimmers,
und nicht darin, daß ein langes Vierek ſchoͤner ſey,
als das, deſſen Hoͤhe der Breite gleich iſt.

Man ſiehet hieraus uͤberhaupt, daß das Urtheil
uͤber Verhaͤltniſſe nicht ſo einfach ſey, als ſich man-
cher einbildet, und daß es eben nicht blos darauf
ankommt, Zahlen gegen einander zu halten.

Man hat zu allen Zeiten erkennt, daß der menſch-
liche Koͤrper das vollkommenſte Muſter der guten
Verhaͤltniſſe ſey. Jn der That ſind alle Regeln der
vollkommenſten Harmonie oder Uebereinſtimmung
daran zu erkennen. Dieſe vollkommene Form im
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dar, von denen keiner uͤber den andern herrſcht, kei-
ner die Aufmerkſamkeit ſo auf ſich zieht, daß ſie den
andern entgienge. Je kleiner ein Haupttheil iſt, je
mehr hat er Mannigfaltigkeit und Schoͤnheit, wo-
durch das, was ihm an Groͤße abgeht, erſezt, wird.
Der Kopf, als der kleineſte Theil hat die groͤßte
Schoͤnheit, der Rumpf, als der Groͤßte, hat die
wenigſte Schoͤnheit, dadurch wird das Gefuͤhl gleich-
ſam gezwungen, das Ganze immer auf einmal zu
faſſen. Eben ſo genau ſind auch die Theile der
Haupttheile abgepaßt, daß man niemal weiß, wel-
chen man vorzuͤglich betrachten ſoll. Die Theile
des Geſichtes, Stirn, Wangen, Augen, Naſe,
Mund, Kinn, folgen derſelben Regel; die Augen
gewinnen an Reiz, was ihnen an Groͤße fehlet,
um die Aufmerkſamkeit an ſich zu ziehen, die Stirn
und die Wangen, die wegen ihrer anſehnlichen Groͤße

ſtaͤrker
(*) S.
Conſonanz.
Harmonie.
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[1215[1197]/0644] Ver Ver der Muſik die Conſonanzen ausgedruͤkt werden. (*) Man muß aber hierin nichts geheimnisvolles oder unerklaͤrbares ſuchen. Der Grund davon wird ſich bald offenbar zeigen, wenn man nur die Sache in ihren gehoͤrigen Geſichtspunkt betrachtet. Das Verhaͤltniß ſezt zwey Groͤßen voraus, weil es in Vergleichung oder Gegeneinanderhaltung der- ſelben beſteht. Nun kommt es bey der Groͤße jedes Theils darauf an, mit was fuͤr einer andern Groͤße man ſie vergleichen ſolle. Sind dieſe Groͤßen zu weit aus einander, ſo hat ihre Gegeneinanderhal- tung nicht mehr ſtatt. Man vergleicht die Groͤße des Mundes oder der Naſe, wol mit der Groͤße des Geſichts, aber nicht mit der Groͤße der ganzen Sta- tur. Wenn alſo ein Gegenſtand der Theil eines Haupttheils iſt, ſo vergleichet man ihn mit ſeinem Haupttheil, und mit den Theilen, die zugleich mit ihm Theile eines Theils ausmachen: die Finger mit der Hand, die Hand mit dem Arm, dieſen mit dem ganzen Koͤrper und ſeinen Haupttheilen, den Schenkeln, und den Rumpf. Alſo vergleicht man einerley Theile mit einander, oder die Theile, die unmittelbar zuſammen ein Ganzes ausmachen ſol- len. Dinge, deren Groͤße weit auseinander iſt, koͤnnen zuſammengenommen kein Ganzes ausma- chen. Eine Stadt, macht mit einigen darum lie- genden Feldern, Huͤgeln, Buͤſchen, eine Gegend aus. Aber eine Stadt, mit einem kleinen daran ſtoßenden Garten, macht keine Gegend aus, ſondern eine Stadt; der Garten kann wegbleiben, ſie bleibt immer eine Stadt. So koͤnnte bey einem Men- ſchen ein Finger zu groß, oder zu klein ſeyn, oder ganz fehlen, und die Perſon noch immer ein ſchoͤner Menſch ſeyn, aber die Hand an der er fehlte, waͤr keine ſchoͤne Hand mehr. Wir ſehen hieraus uͤberhaupt, daß man bey dem Urtheil uͤber Verhaͤltniſſe den Theil, woruͤber man urtheilet nothwendig gegen einen andern Theil, der mit ihm in gleichem Range ſteht, halten muͤſſe. Jn der Muſik werden die Toͤne eines von dem Grundton ſehr entfernten Accords nur unter einander verglie- chen, und nicht mehr gegen einen ſehr tief unter ihnen liegenden Grundton gehalten. Jn der Baukunſt vergleichet man die kleinern Glieder nicht mit dem Gebaͤude, ſondern mit dem Geſims, oder dem Haupttheile, deſſen unmittelbare Theile ſie ſind. Nothwendig muß hier auch noch angemerkt wer- den, daß bey Schaͤzung der Groͤßen die Natur des Gegenſtandes, an dem wir ſie ſehen, in Betrach- tung zu ziehen iſt. Man wuͤrde ein Fenſter ſehr unproportionirt finden, wenn es acht oder zehen- mal hoͤher, als breit waͤre, und doch findet man an einer Saͤule dieſes Verhaͤltniß der Hoͤhe gegen die Dike gut. Bey dem Fenſter haben Hoͤhe und Brei- te einerley Zwek, die Vermehrung des Lichts; bey der Saͤule kommen zwey Sachen in Betrachtung, die Erhebung, oder Erhoͤhung des aufliegenden Thei- les und die Feſtigkeit der Unterſtuͤzung. Hiebey ent- ſtehet die Frag, ob die Dike gegen die einmal feſt- geſezte Hoͤhe groß genug ſey. Waͤre bey dem Fen- ſter gar nichts feſtgeſezt, als die Menge des einfal- lenden Lichtes, ſo waͤr unſtreitig dieſes das beſte Ver- haͤltniß, wenn die Breite der Hoͤhe gleich waͤre, weil beyde gleichen Antheil an Vermehrung des Lichts haben. Das aber die Hoͤhe insgemein groͤſ- ſer, als die Breite genommen wird, hat ſeinen Grund in der Hoͤhe des zu erleuchtenden Zimmers, und nicht darin, daß ein langes Vierek ſchoͤner ſey, als das, deſſen Hoͤhe der Breite gleich iſt. Man ſiehet hieraus uͤberhaupt, daß das Urtheil uͤber Verhaͤltniſſe nicht ſo einfach ſey, als ſich man- cher einbildet, und daß es eben nicht blos darauf ankommt, Zahlen gegen einander zu halten. Man hat zu allen Zeiten erkennt, daß der menſch- liche Koͤrper das vollkommenſte Muſter der guten Verhaͤltniſſe ſey. Jn der That ſind alle Regeln der vollkommenſten Harmonie oder Uebereinſtimmung daran zu erkennen. Dieſe vollkommene Form im Ganzen betrachtet, bietet gleich einige Haupttheile dar, von denen keiner uͤber den andern herrſcht, kei- ner die Aufmerkſamkeit ſo auf ſich zieht, daß ſie den andern entgienge. Je kleiner ein Haupttheil iſt, je mehr hat er Mannigfaltigkeit und Schoͤnheit, wo- durch das, was ihm an Groͤße abgeht, erſezt, wird. Der Kopf, als der kleineſte Theil hat die groͤßte Schoͤnheit, der Rumpf, als der Groͤßte, hat die wenigſte Schoͤnheit, dadurch wird das Gefuͤhl gleich- ſam gezwungen, das Ganze immer auf einmal zu faſſen. Eben ſo genau ſind auch die Theile der Haupttheile abgepaßt, daß man niemal weiß, wel- chen man vorzuͤglich betrachten ſoll. Die Theile des Geſichtes, Stirn, Wangen, Augen, Naſe, Mund, Kinn, folgen derſelben Regel; die Augen gewinnen an Reiz, was ihnen an Groͤße fehlet, um die Aufmerkſamkeit an ſich zu ziehen, die Stirn und die Wangen, die wegen ihrer anſehnlichen Groͤße ſtaͤrker (*) S. Conſonanz. Harmonie. M m m m m m m 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1215[1197]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/644>, abgerufen am 19.04.2024.