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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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was ihnen begegnet, und alle Lagen, worin sie sich
durch die ganze Handlung befinden, mit Aufmerk-
samkeit beobachten. Wie man mit bloßen Füßen
so schnell über glüende Kohlen wegeilen kann, daß
man ihre Hize nicht empfindet, so machen auch die
leidenschaftlichen Scenen keinen Eindruk auf uns,
wenn die Aufmerksamkeit sich nicht dabey verweilet,
wenn wir nicht Zeit nehmen, oder uns die Mühe
nicht geben, sie zu fassen. Mit Aufmerksamkeit
aber können wir keinen Gegenstand der Erkenntnis
betrachten, wenn nichts verwikeltes darin ist. Weil
also im Drama und in der Epopöe die Empfindung
aus der Aufmerksamkeit erfolget, mit der wir die
Lage der Sachen, und den Fortgang der Handlung
beobachten, so muß nothwendig Verwiklung da-
rin seyn. Liegt sie nicht schon in der Art, wie die
Sachen geschehen, so muß er sie durch wol über-
legte Anordnung hereinbringen; er muß uns die
Würkung beschreiben, oder sehen lassen, ehe wir die
Ursache davon erkennen; oder er muß uns die Ur-
sache groß und wichtig vorstellen, ehe wir die Wür-
kung davon sehen. Jn beyden Fällen entsteht eine
Verwiklung, denn wir sehen etwas, dessen Ursach,
oder Würkung uns eine Zeitlang verborgen ist, und
dieses reizet die Aufmerksamkeit sehr kräftig zu ge-
nauer Beobachtung des Zusammenhanges.

Aber die Verwiklung kann auch so groß seyn, daß
sie der Empfindung schadet. Nachdenken und Rüh-
rung des Herzens können nicht wol neben einander be-
stehen. Jemehr der Geist beschäftiget ist, je weniger
fühlt das Herz. Wir haben nicht Zeit zu empfinden,
wenn wir unaufhörlich beobachten müssen. Wenn
demnach eine Handlung so sehr verwikelt ist, daß
wir alle Kräfte der Aufmerksamkeit nöthig haben,
sie zu fassen, folglich blos mit Erkennen und Erfor-
schen beschäftiget sind, so fühlen wir wenig dabey.
Ein Trauerspiehl oder eine Epopöe, wo die Auf-
merksamkeit auf den Verlauf der Dinge unaufhörlich
so gespannt ist, daß man keine einzele Lage mit Leich-
tigkeit übersehen oder fassen kann, thut wenig Wür-
kung auf das Herz; man hat genug mit Erfor-
schung und Beobachtung des Zusammenhanges zu
thun, und bey dieser Anstrengung, bey dieser Hize
der Vorstellungskraft, bleibet das Herz kalt; weil
man nicht Zeit hat bey irgend einer Lage der Sa-
chen still zu stehen, um ihren Eindruk zu empfinden.
Darum ist ein einfacher Plan, dem verwikelten
vorzuziehen.

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Ver
Verzierungen.
(Schöne Künste.)

Sind einzele kleine Theile, die nicht zur wesentli-
chen Beschaffenheit eines Werks der Kunst gehören,
sondern blos zur Vermehrung der Annehmlichkeit
ihm beygefügt, und gleichsam angehängt sind. Jn
der Baukunst sind die Statuen, Vasen, Laub- und
anderes Schnizwerk, womit wesentliche Theile des
Gebäudes geschmükt werden, Verzierungen. Jn
der Beredsamkeit und Dichtkunst werden alle Neben-
begriffe, eingeschaltete Gedanken, Episoden die dem
Wesentlichen mehr Annehmlichkeit geben; in der Musik
die verschiedenen Manieren und Veränderungen, (*)
die blos eine mehrere Annehmlichkeit zur Absicht ha-
ben, zu den Verzierungen gerechnet. Sie können
überall, wo sie angebracht sind, weggenommen wer-
den, ohne das Werk mangelhaft zu machen, oder
seine Art zu verändern.

Die Verzierungen haben ihren Ursprung in dem
allen Menschen angebohrnen Geschmak für das
Schöne. Es ist kaum ein Volk auf der Erde so roh,
daß es für Verzierungen ganz unempfindlich wäre.
Der noch halbwilde Mensch findet Geschmak an Ge-
schmeide, womit er seine halb oder ganz nakende
Glieder verziehret, und der in der höchsten Einfalt
der Natur lebende Hirt zieret seinen Stab, oder
seinen Becher mit Schnizwerk. Dieser Geschmak
zeiget, daß in der menschlichen Natur etwas höhe-
res und edleres sey, als in der thierischen, die keine
Empfindungen kennt, als die aus körperlichen Be-
dürfnissen entstehen. Völlige Unempfindlichkeit für
alle Verzierung würde thierische Rohigkeit verrathen;
auf der andern Seite hingegen, zeiget ein unmäßi-
ger Geschmak an Verzierungen etwas kleines und
kindisches. Wie die Vernunft bey kleinen Geistern
in Spizfündigkeit ausartet, so artet der Geschmak
am Schönen bey kindischen Gemüthern in Ziere-
rey aus.

So gewiß es ist, daß ein mäßiger und von ge-
sundem Geschmak begleiteter Gebrauch der Verzie-
rungen, den Werken der schönen Künste Annehmlich-
keit und Reizung giebt; so gewiß ist es auch auf
der andern Seite, daß überhäufte und ohne Ge-
schmak angebrachte Verzierungen daß beste Werk
verächtlich machen. Wenig und mit gutem Ge-
schmak gewählter Schmuk, kann auch der schönsten
Person noch Annehmlichkeit beylegen; aber wo alles

von
(*) S.
Manieren,
Verände-
rungen.

[Spaltenumbruch]

Ver
was ihnen begegnet, und alle Lagen, worin ſie ſich
durch die ganze Handlung befinden, mit Aufmerk-
ſamkeit beobachten. Wie man mit bloßen Fuͤßen
ſo ſchnell uͤber gluͤende Kohlen wegeilen kann, daß
man ihre Hize nicht empfindet, ſo machen auch die
leidenſchaftlichen Scenen keinen Eindruk auf uns,
wenn die Aufmerkſamkeit ſich nicht dabey verweilet,
wenn wir nicht Zeit nehmen, oder uns die Muͤhe
nicht geben, ſie zu faſſen. Mit Aufmerkſamkeit
aber koͤnnen wir keinen Gegenſtand der Erkenntnis
betrachten, wenn nichts verwikeltes darin iſt. Weil
alſo im Drama und in der Epopoͤe die Empfindung
aus der Aufmerkſamkeit erfolget, mit der wir die
Lage der Sachen, und den Fortgang der Handlung
beobachten, ſo muß nothwendig Verwiklung da-
rin ſeyn. Liegt ſie nicht ſchon in der Art, wie die
Sachen geſchehen, ſo muß er ſie durch wol uͤber-
legte Anordnung hereinbringen; er muß uns die
Wuͤrkung beſchreiben, oder ſehen laſſen, ehe wir die
Urſache davon erkennen; oder er muß uns die Ur-
ſache groß und wichtig vorſtellen, ehe wir die Wuͤr-
kung davon ſehen. Jn beyden Faͤllen entſteht eine
Verwiklung, denn wir ſehen etwas, deſſen Urſach,
oder Wuͤrkung uns eine Zeitlang verborgen iſt, und
dieſes reizet die Aufmerkſamkeit ſehr kraͤftig zu ge-
nauer Beobachtung des Zuſammenhanges.

Aber die Verwiklung kann auch ſo groß ſeyn, daß
ſie der Empfindung ſchadet. Nachdenken und Ruͤh-
rung des Herzens koͤnnen nicht wol neben einander be-
ſtehen. Jemehr der Geiſt beſchaͤftiget iſt, je weniger
fuͤhlt das Herz. Wir haben nicht Zeit zu empfinden,
wenn wir unaufhoͤrlich beobachten muͤſſen. Wenn
demnach eine Handlung ſo ſehr verwikelt iſt, daß
wir alle Kraͤfte der Aufmerkſamkeit noͤthig haben,
ſie zu faſſen, folglich blos mit Erkennen und Erfor-
ſchen beſchaͤftiget ſind, ſo fuͤhlen wir wenig dabey.
Ein Trauerſpiehl oder eine Epopoͤe, wo die Auf-
merkſamkeit auf den Verlauf der Dinge unaufhoͤrlich
ſo geſpannt iſt, daß man keine einzele Lage mit Leich-
tigkeit uͤberſehen oder faſſen kann, thut wenig Wuͤr-
kung auf das Herz; man hat genug mit Erfor-
ſchung und Beobachtung des Zuſammenhanges zu
thun, und bey dieſer Anſtrengung, bey dieſer Hize
der Vorſtellungskraft, bleibet das Herz kalt; weil
man nicht Zeit hat bey irgend einer Lage der Sa-
chen ſtill zu ſtehen, um ihren Eindruk zu empfinden.
Darum iſt ein einfacher Plan, dem verwikelten
vorzuziehen.

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Ver
Verzierungen.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Sind einzele kleine Theile, die nicht zur weſentli-
chen Beſchaffenheit eines Werks der Kunſt gehoͤren,
ſondern blos zur Vermehrung der Annehmlichkeit
ihm beygefuͤgt, und gleichſam angehaͤngt ſind. Jn
der Baukunſt ſind die Statuen, Vaſen, Laub- und
anderes Schnizwerk, womit weſentliche Theile des
Gebaͤudes geſchmuͤkt werden, Verzierungen. Jn
der Beredſamkeit und Dichtkunſt werden alle Neben-
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Weſentlichen mehr Annehmlichkeit geben; in der Muſik
die verſchiedenen Manieren und Veraͤnderungen, (*)
die blos eine mehrere Annehmlichkeit zur Abſicht ha-
ben, zu den Verzierungen gerechnet. Sie koͤnnen
uͤberall, wo ſie angebracht ſind, weggenommen wer-
den, ohne das Werk mangelhaft zu machen, oder
ſeine Art zu veraͤndern.

Die Verzierungen haben ihren Urſprung in dem
allen Menſchen angebohrnen Geſchmak fuͤr das
Schoͤne. Es iſt kaum ein Volk auf der Erde ſo roh,
daß es fuͤr Verzierungen ganz unempfindlich waͤre.
Der noch halbwilde Menſch findet Geſchmak an Ge-
ſchmeide, womit er ſeine halb oder ganz nakende
Glieder verziehret, und der in der hoͤchſten Einfalt
der Natur lebende Hirt zieret ſeinen Stab, oder
ſeinen Becher mit Schnizwerk. Dieſer Geſchmak
zeiget, daß in der menſchlichen Natur etwas hoͤhe-
res und edleres ſey, als in der thieriſchen, die keine
Empfindungen kennt, als die aus koͤrperlichen Be-
duͤrfniſſen entſtehen. Voͤllige Unempfindlichkeit fuͤr
alle Verzierung wuͤrde thieriſche Rohigkeit verrathen;
auf der andern Seite hingegen, zeiget ein unmaͤßi-
ger Geſchmak an Verzierungen etwas kleines und
kindiſches. Wie die Vernunft bey kleinen Geiſtern
in Spizfuͤndigkeit ausartet, ſo artet der Geſchmak
am Schoͤnen bey kindiſchen Gemuͤthern in Ziere-
rey aus.

So gewiß es iſt, daß ein maͤßiger und von ge-
ſundem Geſchmak begleiteter Gebrauch der Verzie-
rungen, den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte Annehmlich-
keit und Reizung giebt; ſo gewiß iſt es auch auf
der andern Seite, daß uͤberhaͤufte und ohne Ge-
ſchmak angebrachte Verzierungen daß beſte Werk
veraͤchtlich machen. Wenig und mit gutem Ge-
ſchmak gewaͤhlter Schmuk, kann auch der ſchoͤnſten
Perſon noch Annehmlichkeit beylegen; aber wo alles

von
(*) S.
Manieren,
Veraͤnde-
rungen.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1234[1216]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/663>, abgerufen am 25.04.2024.