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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Voll
die Vollkommenheit in gänzlicher Uebereinstimmung
dessen das ist, mit dem was es seyn soll, oder des
Würklichen mit dem Jdealen. Man erkennet keine
Vollkommenheit, als in so fern man die Beschaffen-
heit einer vorhandenen Sache gegen ein Urbild, oder
gegen einen, als ein Muster festgesezten Begriff hält.
Es giebt zwar Fälle, wo wir über Vollkommenheit
urtheilen ohne völlig und gänzlich bestimmt zu wis-
sen, was ein Gegenstand in allen möglichen Verhält-
nissen genommen, seyn soll; aber alsdenn beurthei-
len wir auch nicht die ganze Vollkommenheit solcher
Dinge, sondern nur das, davon wir einen Urbe-
griff haben. Wenn uns etwas von Geräthschaft,
ein Jnstrument, eine Maschine, zu Gesichte kommt,
deren besondere Art oder Bestimmung uns völlig
unbekannt ist, so halten wir doch etwas davon ge-
gen festgesezte Urbegriffe; wir sagen uns, dieses ist
ein mechanisches Jnstrument, oder eine Maschine,
u. s. f. Ohne näher zu wissen, was es seyn soll,
sehen wir in vielen Fällen, daß etwas daran fehlt,
daß etwas daran zerbrochen, oder daß etwas, das
mit dem übrigen nicht zusammenhängt, oder irgend
etwas, das unsern Begriff von der Sache entgegen
ist; und in so fern entdeken wir Unvollkommenheit
darin. Eben so kann es auch seyn, daß wir eine
uns in ihrer besondern Art unbekannte Sache voll-
kommen finden, weil wir sie gegen den Urbegriff
einer etwas höheren Gattung, oder einer allgemei-
nern Classe der Dinge halten. Wann wir ein uns
unbekanntes Thier sehen, das wir zu keiner Art zäh-
len können, so erkennen wir doch überhaupt, daß
es ein Thier ist, und beurtheilen, ob es das an sich
hat, was zu einem Thier gehört. Wären wir in
der Ungewißheit, ob es ein Thier oder eine Pflanze
sey, so würden wir doch urtheilen, daß es zu der
Classe der Dinge gehört, die erzeugt werden, all-
mählig wachsen und einen innern Bau haben, der
dies allmählige Wachsen verstattet u. s. f. Und in
so fern wär es möglich Vollkommenheit oder Unvoll-
kommenheit darin zu entdeken.

Durch Beobachten und Nachdenken bekommt je-
der Mensch eine Menge Grund- oder Urbegriffe,
(pronoiae, anticipationes, wie die alten Philosophen
sie nannten) gegen die er denn alles, was ihm vor-
kommt, hält, um zu beurtheilen, was es sey, zu
welcher Classe, Gattung, oder Art der Dinge es
gehöre. Je mehr ein Mensch des Nachdenkens ge-
wohnt ist, je mehr deutliche Begriffe er hat, je ge-
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Voll
neigter ist er überall Vollkommenheit oder Ueberein-
stimmung dessen, was er siehet, mit seinen Urbegrif-
fen zu suchen und zu beurtheilen.

Die Entdekung der Vollkommenheit ist natürli-
cher Weise mit einer angenehmen Empfindung be-
gleitet. Dieses können wir hier als bekannt und
als erklärt oder erwiesen annehmen, um daraus den
Schluß zu ziehen, daß die Vollkommenheit ästheti-
sche Kraft habe, folglich ein Gegenstand der schönen
Künste sey. Doch ist sie es nur in so fern, als sie
sinnlich erkannt werden kann. Eine Maschine von
großer Vollkommenheit, als z. B. eine höchst genau
gearbeitete und richtig gehende Uhr; die richtigste
und genaueste Auflösung einer philosophischen, oder
mathematischen Aufgabe, der bündigste Beweiß eines
Sazes, sind vollkommene Gegenstände; doch nicht
Gegenstände des Geschmaks, weil ihre Vollkommen-
heit sehr allmählig und mühesam durch deutliche
Vorstellungen erkannt wird. Nur die Vollkom-
menheit, die man anschauend, ohne vollständige
und allmählige Entwiklung, sinnlich erkennt und
gleichsam auf einen Blik übersieht, ist ein Gegen-
stand des Geschmaks. Wird sie nicht erkannt, son-
dern blos in ihrer Würkung empfunden, so be-
kommt sie den Namen der Schönheit.

Es giebt verschiedene Arten des Vollkommenen,
eine Vollkommenheit in Zusammenstimmung der
Theile zur äußerlichen Form, eine Vollkommenheit
in der Zusammenstimmung der Würkungen: eine
absolute Vollkommenheit, die aus nothwendigen
ewigen Urbegriffen beurtheilet wird, und eine rela-
tive, die man aus vorausgesezten, oder hypotheti-
schen Urbegriffen beurtheilet. So sind insgemein
alle Reden, die Homer seinen Personen in den
Mund legt, nach der Kenntniß, die wir von ihren
Charakteren und der Lage der Sachen haben, höchst
vollkommen.

Auch Wahrheit, Ordnung, Richtigkeit, Voll-
ständigkeit, Klarheit, sind im Grunde nichts an-
ders, als Vollkommenheit, und gehören in dieselbe
Classe der ästhetischen Kraft, weil sie die Vorstellungs-
kraft gänzlich und völlig befriedigen. Was wir aber
über alle diese Arten des Vollkommenen zum Ge-
brauch des Künstlers zu erinnern fanden, ist bereits
in dem Artikel Kraft, und in einigen andern Arti-
keln angemerkt worden. (*)

Vollkommenheit, von welcher Art sie sey, ist al-
lemal ein Werk des Verstandes und würkt auch un-

mit-
(*) S.
Ordnung,
Richtiakeit
Klarheit.

[Spaltenumbruch]

Voll
die Vollkommenheit in gaͤnzlicher Uebereinſtimmung
deſſen das iſt, mit dem was es ſeyn ſoll, oder des
Wuͤrklichen mit dem Jdealen. Man erkennet keine
Vollkommenheit, als in ſo fern man die Beſchaffen-
heit einer vorhandenen Sache gegen ein Urbild, oder
gegen einen, als ein Muſter feſtgeſezten Begriff haͤlt.
Es giebt zwar Faͤlle, wo wir uͤber Vollkommenheit
urtheilen ohne voͤllig und gaͤnzlich beſtimmt zu wiſ-
ſen, was ein Gegenſtand in allen moͤglichen Verhaͤlt-
niſſen genommen, ſeyn ſoll; aber alsdenn beurthei-
len wir auch nicht die ganze Vollkommenheit ſolcher
Dinge, ſondern nur das, davon wir einen Urbe-
griff haben. Wenn uns etwas von Geraͤthſchaft,
ein Jnſtrument, eine Maſchine, zu Geſichte kommt,
deren beſondere Art oder Beſtimmung uns voͤllig
unbekannt iſt, ſo halten wir doch etwas davon ge-
gen feſtgeſezte Urbegriffe; wir ſagen uns, dieſes iſt
ein mechaniſches Jnſtrument, oder eine Maſchine,
u. ſ. f. Ohne naͤher zu wiſſen, was es ſeyn ſoll,
ſehen wir in vielen Faͤllen, daß etwas daran fehlt,
daß etwas daran zerbrochen, oder daß etwas, das
mit dem uͤbrigen nicht zuſammenhaͤngt, oder irgend
etwas, das unſern Begriff von der Sache entgegen
iſt; und in ſo fern entdeken wir Unvollkommenheit
darin. Eben ſo kann es auch ſeyn, daß wir eine
uns in ihrer beſondern Art unbekannte Sache voll-
kommen finden, weil wir ſie gegen den Urbegriff
einer etwas hoͤheren Gattung, oder einer allgemei-
nern Claſſe der Dinge halten. Wann wir ein uns
unbekanntes Thier ſehen, das wir zu keiner Art zaͤh-
len koͤnnen, ſo erkennen wir doch uͤberhaupt, daß
es ein Thier iſt, und beurtheilen, ob es das an ſich
hat, was zu einem Thier gehoͤrt. Waͤren wir in
der Ungewißheit, ob es ein Thier oder eine Pflanze
ſey, ſo wuͤrden wir doch urtheilen, daß es zu der
Claſſe der Dinge gehoͤrt, die erzeugt werden, all-
maͤhlig wachſen und einen innern Bau haben, der
dies allmaͤhlige Wachſen verſtattet u. ſ. f. Und in
ſo fern waͤr es moͤglich Vollkommenheit oder Unvoll-
kommenheit darin zu entdeken.

Durch Beobachten und Nachdenken bekommt je-
der Menſch eine Menge Grund- oder Urbegriffe,
(pronoïæ, anticipationes, wie die alten Philoſophen
ſie nannten) gegen die er denn alles, was ihm vor-
kommt, haͤlt, um zu beurtheilen, was es ſey, zu
welcher Claſſe, Gattung, oder Art der Dinge es
gehoͤre. Je mehr ein Menſch des Nachdenkens ge-
wohnt iſt, je mehr deutliche Begriffe er hat, je ge-
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Voll
neigter iſt er uͤberall Vollkommenheit oder Ueberein-
ſtimmung deſſen, was er ſiehet, mit ſeinen Urbegrif-
fen zu ſuchen und zu beurtheilen.

Die Entdekung der Vollkommenheit iſt natuͤrli-
cher Weiſe mit einer angenehmen Empfindung be-
gleitet. Dieſes koͤnnen wir hier als bekannt und
als erklaͤrt oder erwieſen annehmen, um daraus den
Schluß zu ziehen, daß die Vollkommenheit aͤſtheti-
ſche Kraft habe, folglich ein Gegenſtand der ſchoͤnen
Kuͤnſte ſey. Doch iſt ſie es nur in ſo fern, als ſie
ſinnlich erkannt werden kann. Eine Maſchine von
großer Vollkommenheit, als z. B. eine hoͤchſt genau
gearbeitete und richtig gehende Uhr; die richtigſte
und genaueſte Aufloͤſung einer philoſophiſchen, oder
mathematiſchen Aufgabe, der buͤndigſte Beweiß eines
Sazes, ſind vollkommene Gegenſtaͤnde; doch nicht
Gegenſtaͤnde des Geſchmaks, weil ihre Vollkommen-
heit ſehr allmaͤhlig und muͤheſam durch deutliche
Vorſtellungen erkannt wird. Nur die Vollkom-
menheit, die man anſchauend, ohne vollſtaͤndige
und allmaͤhlige Entwiklung, ſinnlich erkennt und
gleichſam auf einen Blik uͤberſieht, iſt ein Gegen-
ſtand des Geſchmaks. Wird ſie nicht erkannt, ſon-
dern blos in ihrer Wuͤrkung empfunden, ſo be-
kommt ſie den Namen der Schoͤnheit.

Es giebt verſchiedene Arten des Vollkommenen,
eine Vollkommenheit in Zuſammenſtimmung der
Theile zur aͤußerlichen Form, eine Vollkommenheit
in der Zuſammenſtimmung der Wuͤrkungen: eine
abſolute Vollkommenheit, die aus nothwendigen
ewigen Urbegriffen beurtheilet wird, und eine rela-
tive, die man aus vorausgeſezten, oder hypotheti-
ſchen Urbegriffen beurtheilet. So ſind insgemein
alle Reden, die Homer ſeinen Perſonen in den
Mund legt, nach der Kenntniß, die wir von ihren
Charakteren und der Lage der Sachen haben, hoͤchſt
vollkommen.

Auch Wahrheit, Ordnung, Richtigkeit, Voll-
ſtaͤndigkeit, Klarheit, ſind im Grunde nichts an-
ders, als Vollkommenheit, und gehoͤren in dieſelbe
Claſſe der aͤſthetiſchen Kraft, weil ſie die Vorſtellungs-
kraft gaͤnzlich und voͤllig befriedigen. Was wir aber
uͤber alle dieſe Arten des Vollkommenen zum Ge-
brauch des Kuͤnſtlers zu erinnern fanden, iſt bereits
in dem Artikel Kraft, und in einigen andern Arti-
keln angemerkt worden. (*)

Vollkommenheit, von welcher Art ſie ſey, iſt al-
lemal ein Werk des Verſtandes und wuͤrkt auch un-

mit-
(*) S.
Ordnung,
Richtiakeit
Klarheit.
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[1240[1222]/0669] Voll Voll die Vollkommenheit in gaͤnzlicher Uebereinſtimmung deſſen das iſt, mit dem was es ſeyn ſoll, oder des Wuͤrklichen mit dem Jdealen. Man erkennet keine Vollkommenheit, als in ſo fern man die Beſchaffen- heit einer vorhandenen Sache gegen ein Urbild, oder gegen einen, als ein Muſter feſtgeſezten Begriff haͤlt. Es giebt zwar Faͤlle, wo wir uͤber Vollkommenheit urtheilen ohne voͤllig und gaͤnzlich beſtimmt zu wiſ- ſen, was ein Gegenſtand in allen moͤglichen Verhaͤlt- niſſen genommen, ſeyn ſoll; aber alsdenn beurthei- len wir auch nicht die ganze Vollkommenheit ſolcher Dinge, ſondern nur das, davon wir einen Urbe- griff haben. Wenn uns etwas von Geraͤthſchaft, ein Jnſtrument, eine Maſchine, zu Geſichte kommt, deren beſondere Art oder Beſtimmung uns voͤllig unbekannt iſt, ſo halten wir doch etwas davon ge- gen feſtgeſezte Urbegriffe; wir ſagen uns, dieſes iſt ein mechaniſches Jnſtrument, oder eine Maſchine, u. ſ. f. Ohne naͤher zu wiſſen, was es ſeyn ſoll, ſehen wir in vielen Faͤllen, daß etwas daran fehlt, daß etwas daran zerbrochen, oder daß etwas, das mit dem uͤbrigen nicht zuſammenhaͤngt, oder irgend etwas, das unſern Begriff von der Sache entgegen iſt; und in ſo fern entdeken wir Unvollkommenheit darin. Eben ſo kann es auch ſeyn, daß wir eine uns in ihrer beſondern Art unbekannte Sache voll- kommen finden, weil wir ſie gegen den Urbegriff einer etwas hoͤheren Gattung, oder einer allgemei- nern Claſſe der Dinge halten. Wann wir ein uns unbekanntes Thier ſehen, das wir zu keiner Art zaͤh- len koͤnnen, ſo erkennen wir doch uͤberhaupt, daß es ein Thier iſt, und beurtheilen, ob es das an ſich hat, was zu einem Thier gehoͤrt. Waͤren wir in der Ungewißheit, ob es ein Thier oder eine Pflanze ſey, ſo wuͤrden wir doch urtheilen, daß es zu der Claſſe der Dinge gehoͤrt, die erzeugt werden, all- maͤhlig wachſen und einen innern Bau haben, der dies allmaͤhlige Wachſen verſtattet u. ſ. f. Und in ſo fern waͤr es moͤglich Vollkommenheit oder Unvoll- kommenheit darin zu entdeken. Durch Beobachten und Nachdenken bekommt je- der Menſch eine Menge Grund- oder Urbegriffe, (pronoïæ, anticipationes, wie die alten Philoſophen ſie nannten) gegen die er denn alles, was ihm vor- kommt, haͤlt, um zu beurtheilen, was es ſey, zu welcher Claſſe, Gattung, oder Art der Dinge es gehoͤre. Je mehr ein Menſch des Nachdenkens ge- wohnt iſt, je mehr deutliche Begriffe er hat, je ge- neigter iſt er uͤberall Vollkommenheit oder Ueberein- ſtimmung deſſen, was er ſiehet, mit ſeinen Urbegrif- fen zu ſuchen und zu beurtheilen. Die Entdekung der Vollkommenheit iſt natuͤrli- cher Weiſe mit einer angenehmen Empfindung be- gleitet. Dieſes koͤnnen wir hier als bekannt und als erklaͤrt oder erwieſen annehmen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß die Vollkommenheit aͤſtheti- ſche Kraft habe, folglich ein Gegenſtand der ſchoͤnen Kuͤnſte ſey. Doch iſt ſie es nur in ſo fern, als ſie ſinnlich erkannt werden kann. Eine Maſchine von großer Vollkommenheit, als z. B. eine hoͤchſt genau gearbeitete und richtig gehende Uhr; die richtigſte und genaueſte Aufloͤſung einer philoſophiſchen, oder mathematiſchen Aufgabe, der buͤndigſte Beweiß eines Sazes, ſind vollkommene Gegenſtaͤnde; doch nicht Gegenſtaͤnde des Geſchmaks, weil ihre Vollkommen- heit ſehr allmaͤhlig und muͤheſam durch deutliche Vorſtellungen erkannt wird. Nur die Vollkom- menheit, die man anſchauend, ohne vollſtaͤndige und allmaͤhlige Entwiklung, ſinnlich erkennt und gleichſam auf einen Blik uͤberſieht, iſt ein Gegen- ſtand des Geſchmaks. Wird ſie nicht erkannt, ſon- dern blos in ihrer Wuͤrkung empfunden, ſo be- kommt ſie den Namen der Schoͤnheit. Es giebt verſchiedene Arten des Vollkommenen, eine Vollkommenheit in Zuſammenſtimmung der Theile zur aͤußerlichen Form, eine Vollkommenheit in der Zuſammenſtimmung der Wuͤrkungen: eine abſolute Vollkommenheit, die aus nothwendigen ewigen Urbegriffen beurtheilet wird, und eine rela- tive, die man aus vorausgeſezten, oder hypotheti- ſchen Urbegriffen beurtheilet. So ſind insgemein alle Reden, die Homer ſeinen Perſonen in den Mund legt, nach der Kenntniß, die wir von ihren Charakteren und der Lage der Sachen haben, hoͤchſt vollkommen. Auch Wahrheit, Ordnung, Richtigkeit, Voll- ſtaͤndigkeit, Klarheit, ſind im Grunde nichts an- ders, als Vollkommenheit, und gehoͤren in dieſelbe Claſſe der aͤſthetiſchen Kraft, weil ſie die Vorſtellungs- kraft gaͤnzlich und voͤllig befriedigen. Was wir aber uͤber alle dieſe Arten des Vollkommenen zum Ge- brauch des Kuͤnſtlers zu erinnern fanden, iſt bereits in dem Artikel Kraft, und in einigen andern Arti- keln angemerkt worden. (*) Vollkommenheit, von welcher Art ſie ſey, iſt al- lemal ein Werk des Verſtandes und wuͤrkt auch un- mit- (*) S. Ordnung, Richtiakeit Klarheit.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1240[1222]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/669>, abgerufen am 23.04.2024.