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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Wer
schem Stoff übertrieben findet, dem antworten wir
mit dem Quintilian: Sollten wir das Landgut für
schöner halten, wo wir lauter Lilien und Violen
und ergözende Wasserkünste sehen, als das, das
uns Reichthum von Feldfrüchten und mit Trauben
beladene Weinreben zeiget? Sollten wir den un-
fruchtbaren Platanus und schön geschnittene Myr-
ten, den mit Weinreben prangenden Ulmen und
dem fruchtbaren Oelbaum vorziehen? (+)
Man kann die Werke der Kunst in Ansehung des
Stoffes in drey Classen abtheilen. Er ist nämlich
1. ergözend, oder unterhaltend; 2. lehrend, oder
unterrichtend; 3. rührend oder bewegend. Von
diesen ist der Ergözende am Werth der geringste;
doch deswegen nicht verächtlich. Er ist nicht blos
darum schäzbar, daß er, wie Cicero in Rüksicht
auf die redenden Künste bemerkt, gleichsam das Fun-
dament der Kunst ist, (++) sondern auch deswegen,
weil jedes Vergnügen, das auf wahre Vollkommen-
heit und Schönheit gegründet ist, seinen wahren
innern Werth hat, indem es unsre Lust an dem
Vollkommenen und Schönen unterhält: der lehrende
Stoff scheinet der Wichtigste; weil Kenntnis oder
Auf klärung das höchste Gut ist: der rührende ge-
fällt am durchgängigsten und scheinet in der Be-
handlung der leichteste.
Wer ein Werk des Geschmaks in Absicht auf sei-
nen Stoff beurtheilen will, därf nur, nachdem er
es mit hinlänglicher Aufmerksamkeit betrachtet, auf
den Gemüthszustand Acht haben, in den es ihn
versezet hat. Fühlt er sich von irgend etwas, das
vollkommen, oder schön, oder gut ist, stärker ge-
reizt, als vorher; empfindet er einen neuen, unge-
wöhnlichen Schwung etwas Gutes zu suchen, oder
sich etwas Bösem zu wiedersezen; hat er irgend ei-
nen wichtigen Begriff, irgend eine große, edle, er-
habene Vorstellung, die er vorher nicht gehabt; oder
fühlet er die Kraft einer solchen Vorstellung lebhaf-
ter, als vorher; so kann er versichert seyn, daß
das Werk in Ansehung des Stoffs lobenswerth ist.
2. Nach dem Stoff kommt die Darstellung des-
selben in Betrachtung, wodurch das Werk eigentlich
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Wer
zum Werke des Geschmaks wird. Sie erfodert
eine Behandlung des Stoffs, wodurch er sich der
Vorstellungskraft lebhast einpräget, und in dauer-
haften Andenken bleibt. Beydes sezet voraus, daß
das Werk die Aufmerksamkeit stark reizen, und
durchaus unterhalten müsse. Denn die Lebhaftig-
keit des Eindruks, den ein Gegenstand auf uns
macht, ist insgemein dem Grad der Aufmerksamkeit,
mit dem er gefaßt wird, angemessen. Das Werk
muß demnach sowol im Ganzen, als in einzelen
Theilen uns mit unwiederstehlicher Macht gleichsam
zwingen, uns seinen Eindrüken zu überlassen.
Darum muß weder im Ganzen, noch in den einze-
len Theilen nicht nur nichts anstößiges, oder wie-
driges seyn, sondern alles muß Ordnung, Richtig-
keit, Klarheit, Lebhaftigkeit und kurz jede Eigen-
schaft haben, wodurch die Vorstellungskraft vorzüg-
lich gereizt wird. Es muß ein einfaches, leicht
zu fassendes, unzertrennliches und vollständiges
Ganzes ausmachen, dessen Theile natürlichen Zu-
sammenhang und vollkommene Harmonie haben.
Man muß bald sehen, oder merken, was es seyn
soll; weil die Ungewißheit über diesen Punkt der
Aufmerksamkeit gefährlich wird. Je bestimmter
man den Hauptinhalt ins Auge faßt, und je unun-
terbrochener die Aufmerksamkeit von Anfang bis
zum End unterhalten wird, je vollkommener ist
das Werk in Absicht auf die Darstellung.
Dieses sind allgemeine Foderungen, die aus der
Natur der Sache selbst fließen; und gar nichts will-
kührliches haben. Für welches Volk, für welches
Weltalter, ein Werk gemacht sey; muß es doch
die erwähnten Eigenschaften haben. Außer dem
muß auch die Critik nichts fodern, und dem Künst-
ler weder in Ansehung der Form, noch in Rüksicht
auf das besondere der Behandlung, Geseze vorschrei-
ben. Thut er jenen Fodrungen genug, so hat
ihm über die besondere Art, wie er es thut, Nie-
mand etwas vorzuschreiben. Jedes Volk und jedes
Zeitalter hat seine Moden und seinen besondern Ge-
schmak in dem Zufälligen, und der Künstler thut
wol, wenn er ihm folget. Aber dieses Zufällige
läßt
(+) An ego sundum cultiorem putem, in quo mihi quis
ostenderit lilia et violas et amoenos sontes surgentes, quam
ubi plena messis, aut graves sructu vites erunt? Sterilem
platanum, tonsasque myrtos, quam maritam ulmum et
uberes eleas praeoptaverim? Quint. Inst. L. VIII. c.
3.
(++) Ejus totius generis quod graece epideik tikon nomi-
natur, quod quasi ad inspiciendum, delectationis causa
comparatum est, (sormam) non complectar hoc tempore:
non quod negligenda sit; est enim illa quasi nutrix ejus ora-
toris, quem insormare volumus. Cic. Orator.
[Spaltenumbruch]
Wer
ſchem Stoff uͤbertrieben findet, dem antworten wir
mit dem Quintilian: Sollten wir das Landgut fuͤr
ſchoͤner halten, wo wir lauter Lilien und Violen
und ergoͤzende Waſſerkuͤnſte ſehen, als das, das
uns Reichthum von Feldfruͤchten und mit Trauben
beladene Weinreben zeiget? Sollten wir den un-
fruchtbaren Platanus und ſchoͤn geſchnittene Myr-
ten, den mit Weinreben prangenden Ulmen und
dem fruchtbaren Oelbaum vorziehen? (†)
Man kann die Werke der Kunſt in Anſehung des
Stoffes in drey Claſſen abtheilen. Er iſt naͤmlich
1. ergoͤzend, oder unterhaltend; 2. lehrend, oder
unterrichtend; 3. ruͤhrend oder bewegend. Von
dieſen iſt der Ergoͤzende am Werth der geringſte;
doch deswegen nicht veraͤchtlich. Er iſt nicht blos
darum ſchaͤzbar, daß er, wie Cicero in Ruͤkſicht
auf die redenden Kuͤnſte bemerkt, gleichſam das Fun-
dament der Kunſt iſt, (††) ſondern auch deswegen,
weil jedes Vergnuͤgen, das auf wahre Vollkommen-
heit und Schoͤnheit gegruͤndet iſt, ſeinen wahren
innern Werth hat, indem es unſre Luſt an dem
Vollkommenen und Schoͤnen unterhaͤlt: der lehrende
Stoff ſcheinet der Wichtigſte; weil Kenntnis oder
Auf klaͤrung das hoͤchſte Gut iſt: der ruͤhrende ge-
faͤllt am durchgaͤngigſten und ſcheinet in der Be-
handlung der leichteſte.
Wer ein Werk des Geſchmaks in Abſicht auf ſei-
nen Stoff beurtheilen will, daͤrf nur, nachdem er
es mit hinlaͤnglicher Aufmerkſamkeit betrachtet, auf
den Gemuͤthszuſtand Acht haben, in den es ihn
verſezet hat. Fuͤhlt er ſich von irgend etwas, das
vollkommen, oder ſchoͤn, oder gut iſt, ſtaͤrker ge-
reizt, als vorher; empfindet er einen neuen, unge-
woͤhnlichen Schwung etwas Gutes zu ſuchen, oder
ſich etwas Boͤſem zu wiederſezen; hat er irgend ei-
nen wichtigen Begriff, irgend eine große, edle, er-
habene Vorſtellung, die er vorher nicht gehabt; oder
fuͤhlet er die Kraft einer ſolchen Vorſtellung lebhaf-
ter, als vorher; ſo kann er verſichert ſeyn, daß
das Werk in Anſehung des Stoffs lobenswerth iſt.
2. Nach dem Stoff kommt die Darſtellung deſ-
ſelben in Betrachtung, wodurch das Werk eigentlich
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Wer
zum Werke des Geſchmaks wird. Sie erfodert
eine Behandlung des Stoffs, wodurch er ſich der
Vorſtellungskraft lebhaſt einpraͤget, und in dauer-
haften Andenken bleibt. Beydes ſezet voraus, daß
das Werk die Aufmerkſamkeit ſtark reizen, und
durchaus unterhalten muͤſſe. Denn die Lebhaftig-
keit des Eindruks, den ein Gegenſtand auf uns
macht, iſt insgemein dem Grad der Aufmerkſamkeit,
mit dem er gefaßt wird, angemeſſen. Das Werk
muß demnach ſowol im Ganzen, als in einzelen
Theilen uns mit unwiederſtehlicher Macht gleichſam
zwingen, uns ſeinen Eindruͤken zu uͤberlaſſen.
Darum muß weder im Ganzen, noch in den einze-
len Theilen nicht nur nichts anſtoͤßiges, oder wie-
driges ſeyn, ſondern alles muß Ordnung, Richtig-
keit, Klarheit, Lebhaftigkeit und kurz jede Eigen-
ſchaft haben, wodurch die Vorſtellungskraft vorzuͤg-
lich gereizt wird. Es muß ein einfaches, leicht
zu faſſendes, unzertrennliches und vollſtaͤndiges
Ganzes ausmachen, deſſen Theile natuͤrlichen Zu-
ſammenhang und vollkommene Harmonie haben.
Man muß bald ſehen, oder merken, was es ſeyn
ſoll; weil die Ungewißheit uͤber dieſen Punkt der
Aufmerkſamkeit gefaͤhrlich wird. Je beſtimmter
man den Hauptinhalt ins Auge faßt, und je unun-
terbrochener die Aufmerkſamkeit von Anfang bis
zum End unterhalten wird, je vollkommener iſt
das Werk in Abſicht auf die Darſtellung.
Dieſes ſind allgemeine Foderungen, die aus der
Natur der Sache ſelbſt fließen; und gar nichts will-
kuͤhrliches haben. Fuͤr welches Volk, fuͤr welches
Weltalter, ein Werk gemacht ſey; muß es doch
die erwaͤhnten Eigenſchaften haben. Außer dem
muß auch die Critik nichts fodern, und dem Kuͤnſt-
ler weder in Anſehung der Form, noch in Ruͤkſicht
auf das beſondere der Behandlung, Geſeze vorſchrei-
ben. Thut er jenen Fodrungen genug, ſo hat
ihm uͤber die beſondere Art, wie er es thut, Nie-
mand etwas vorzuſchreiben. Jedes Volk und jedes
Zeitalter hat ſeine Moden und ſeinen beſondern Ge-
ſchmak in dem Zufaͤlligen, und der Kuͤnſtler thut
wol, wenn er ihm folget. Aber dieſes Zufaͤllige
laͤßt
(†) An ego ſundum cultiorem putem, in quo mihi quis
oſtenderit lilia et violas et amœnos ſontes ſurgentes, quam
ubi plena meſſis, aut graves ſructu vites erunt? Sterilem
platanum, tonſasque myrtos, quam maritam ulmum et
uberes eleas præoptaverim? Quint. Inſt. L. VIII. c.
3.
(††) Ejus totius generis quod græce ἐπιδεικ τικον nomi-
natur, quod quaſi ad inſpiciendum, delectationis cauſa
comparatum eſt, (ſormam) non complectar hoc tempore:
non quod negligenda ſit; eſt enim illa quaſi nutrix ejus ora-
toris, quem inſormare volumus. Cic. Orator.
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[1268[1250]/0697] Wer Wer ſchem Stoff uͤbertrieben findet, dem antworten wir mit dem Quintilian: Sollten wir das Landgut fuͤr ſchoͤner halten, wo wir lauter Lilien und Violen und ergoͤzende Waſſerkuͤnſte ſehen, als das, das uns Reichthum von Feldfruͤchten und mit Trauben beladene Weinreben zeiget? Sollten wir den un- fruchtbaren Platanus und ſchoͤn geſchnittene Myr- ten, den mit Weinreben prangenden Ulmen und dem fruchtbaren Oelbaum vorziehen? (†) Man kann die Werke der Kunſt in Anſehung des Stoffes in drey Claſſen abtheilen. Er iſt naͤmlich 1. ergoͤzend, oder unterhaltend; 2. lehrend, oder unterrichtend; 3. ruͤhrend oder bewegend. Von dieſen iſt der Ergoͤzende am Werth der geringſte; doch deswegen nicht veraͤchtlich. Er iſt nicht blos darum ſchaͤzbar, daß er, wie Cicero in Ruͤkſicht auf die redenden Kuͤnſte bemerkt, gleichſam das Fun- dament der Kunſt iſt, (††) ſondern auch deswegen, weil jedes Vergnuͤgen, das auf wahre Vollkommen- heit und Schoͤnheit gegruͤndet iſt, ſeinen wahren innern Werth hat, indem es unſre Luſt an dem Vollkommenen und Schoͤnen unterhaͤlt: der lehrende Stoff ſcheinet der Wichtigſte; weil Kenntnis oder Auf klaͤrung das hoͤchſte Gut iſt: der ruͤhrende ge- faͤllt am durchgaͤngigſten und ſcheinet in der Be- handlung der leichteſte. Wer ein Werk des Geſchmaks in Abſicht auf ſei- nen Stoff beurtheilen will, daͤrf nur, nachdem er es mit hinlaͤnglicher Aufmerkſamkeit betrachtet, auf den Gemuͤthszuſtand Acht haben, in den es ihn verſezet hat. Fuͤhlt er ſich von irgend etwas, das vollkommen, oder ſchoͤn, oder gut iſt, ſtaͤrker ge- reizt, als vorher; empfindet er einen neuen, unge- woͤhnlichen Schwung etwas Gutes zu ſuchen, oder ſich etwas Boͤſem zu wiederſezen; hat er irgend ei- nen wichtigen Begriff, irgend eine große, edle, er- habene Vorſtellung, die er vorher nicht gehabt; oder fuͤhlet er die Kraft einer ſolchen Vorſtellung lebhaf- ter, als vorher; ſo kann er verſichert ſeyn, daß das Werk in Anſehung des Stoffs lobenswerth iſt. 2. Nach dem Stoff kommt die Darſtellung deſ- ſelben in Betrachtung, wodurch das Werk eigentlich zum Werke des Geſchmaks wird. Sie erfodert eine Behandlung des Stoffs, wodurch er ſich der Vorſtellungskraft lebhaſt einpraͤget, und in dauer- haften Andenken bleibt. Beydes ſezet voraus, daß das Werk die Aufmerkſamkeit ſtark reizen, und durchaus unterhalten muͤſſe. Denn die Lebhaftig- keit des Eindruks, den ein Gegenſtand auf uns macht, iſt insgemein dem Grad der Aufmerkſamkeit, mit dem er gefaßt wird, angemeſſen. Das Werk muß demnach ſowol im Ganzen, als in einzelen Theilen uns mit unwiederſtehlicher Macht gleichſam zwingen, uns ſeinen Eindruͤken zu uͤberlaſſen. Darum muß weder im Ganzen, noch in den einze- len Theilen nicht nur nichts anſtoͤßiges, oder wie- driges ſeyn, ſondern alles muß Ordnung, Richtig- keit, Klarheit, Lebhaftigkeit und kurz jede Eigen- ſchaft haben, wodurch die Vorſtellungskraft vorzuͤg- lich gereizt wird. Es muß ein einfaches, leicht zu faſſendes, unzertrennliches und vollſtaͤndiges Ganzes ausmachen, deſſen Theile natuͤrlichen Zu- ſammenhang und vollkommene Harmonie haben. Man muß bald ſehen, oder merken, was es ſeyn ſoll; weil die Ungewißheit uͤber dieſen Punkt der Aufmerkſamkeit gefaͤhrlich wird. Je beſtimmter man den Hauptinhalt ins Auge faßt, und je unun- terbrochener die Aufmerkſamkeit von Anfang bis zum End unterhalten wird, je vollkommener iſt das Werk in Abſicht auf die Darſtellung. Dieſes ſind allgemeine Foderungen, die aus der Natur der Sache ſelbſt fließen; und gar nichts will- kuͤhrliches haben. Fuͤr welches Volk, fuͤr welches Weltalter, ein Werk gemacht ſey; muß es doch die erwaͤhnten Eigenſchaften haben. Außer dem muß auch die Critik nichts fodern, und dem Kuͤnſt- ler weder in Anſehung der Form, noch in Ruͤkſicht auf das beſondere der Behandlung, Geſeze vorſchrei- ben. Thut er jenen Fodrungen genug, ſo hat ihm uͤber die beſondere Art, wie er es thut, Nie- mand etwas vorzuſchreiben. Jedes Volk und jedes Zeitalter hat ſeine Moden und ſeinen beſondern Ge- ſchmak in dem Zufaͤlligen, und der Kuͤnſtler thut wol, wenn er ihm folget. Aber dieſes Zufaͤllige laͤßt (†) An ego ſundum cultiorem putem, in quo mihi quis oſtenderit lilia et violas et amœnos ſontes ſurgentes, quam ubi plena meſſis, aut graves ſructu vites erunt? Sterilem platanum, tonſasque myrtos, quam maritam ulmum et uberes eleas præoptaverim? Quint. Inſt. L. VIII. c. 3. (††) Ejus totius generis quod græce ἐπιδεικ τικον nomi- natur, quod quaſi ad inſpiciendum, delectationis cauſa comparatum eſt, (ſormam) non complectar hoc tempore: non quod negligenda ſit; eſt enim illa quaſi nutrix ejus ora- toris, quem inſormare volumus. Cic. Orator.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1268[1250]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/697>, abgerufen am 29.03.2024.