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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]

Wie
einen Beweis methodisch zu führen, oder eine um-
ständliche Erzählung zu machen, als das kräftigste
davon in wenig Worten zusammen zu fassen. Quin-
tilian führet die Peroration, oder den Beschluß der
lezten Rede des Cicero gegen den Verres zum Mu-
ster einer vollkommenen summarischen Wiederho-
lung an: sie ist in der That höchst pathetisch. Jun-
gen Rednern ist eine ganz besondere Uebung in die-
sem Theile der Kunst zu empfehlen. Sie können
die Reden des Demosthenes und Cicero dazu neh-
men, und versuchen, den darin abgehandelten Ma-
terien, durch summarischer Wiederholung, neue
Kraft zu geben. Sie müssen dabey voraussezen,
daß die Zuhörer durch die Abhandlung hinlänglich
überzeuget, oder gerührt seyen, und bedenken, daß
es nun darum zu thun sey, dieser Ueberzeugung
oder Rührung den lezten Nachdruk, und das wahre
Leben zu geben. Dieses kann nicht anders gesche-
hen, als wenn sie selbst in volles Feuer der Em-
pfindung gesezt sind. Denn im Grund ist dieser
Theil der Rede nichts anders, als eine sehr schnelle
und lebhafte Aeußerung dessen, was man izt, nach-
dem der Redner das seinige gethan hat, fühlt.

Wiederlegung.
(Beredsamkeit.)

Man wiederlegt einen andern, wenn man die
Falschheit dessen, was er gesagt, oder behauptet
hat, zeiget. Eigentlich ist jeder Beweis, und jede
Vertheidigung eine Wiederlegung. Wir betrachten
aber hier die Sache nicht in diesem allgemeinen Ge-
sichtspunkt, noch ist unsre Absicht hier ausführlich
zu zeigen, wie eine förmliche Vertheidigungsrede,
beschaffen seyn müsse. Wir nehmen das Wort in
dem eigentlichern Sinn, und sprechen von der Wie-
derlegung, als einem besondern Theil einer Rede,
der gegen einen besondern Theil einer andern Rede
gerichtet ist. Diese Bedeutung geben die Lehrer
der Redner dem Worte. (+) Es wird durchgehends
für schweerer gehalten, etwas zu wiederlegen, als
einen Saz, gerade zu zu beweisen. Quintilian sagt,
es sey eben so viel leichter, einen anzuklagen, denn
[Spaltenumbruch]

Wie
zu vertheidigen, als es leichter ist zu verwunden,
denn zu heilen. Wir haben bereits anderswo (*)
angemerkt, daß es sehr leichte sey, die Menschen
von etwas zu überreden, wenn sie gänzlich unpar-
theyisch, oder uneingenommen sind. Bey der Wie-
derlegung wird immer vorausgesezt, daß man schon
ein Vorurtheil gegen sich habe. Dieses muß durch
die Wiederlegung völlig zernichtet werden, ehe der
Zwek der Wiederlegung kann erreicht werden.

Es ist aber unsere Absicht hier gar nicht, den
sophistischen Rednern zu zeigen, wie eine würkliche
Wahrheit könne verdächtig gemacht, oder so ver-
dräht werden, daß der Beyfall, den andre ihr ge-
gegeben, ihr genommen werde. Nichts macht einen
Redner bey Verständigen verächtlicher, als wenn er
offenbaren Wahrheiten falsche Vernunftschlüsse ent-
gegen sezt, oder sie durch ein schimmerndes Wortge-
präng verdächtig zu machen sucht. Wir sezen vor-
aus, daß blos der Jrrthum wiederlegt, und das
ungegründete Vorurtheil soll gehoben werden.

Cicero sezet drey Arten der Wiederlegung. 1. Ent-
weder, sagt er, verwirft man das Fundament,
worauf der zu wiederlegende Saz gegründet ist;
2. oder man zeiget, daß das was daraus geschlossen
worden, nicht daraus folge; 3. oder man sezet dem
Vorgeben, oder dem Saz etwas entgegen, das
noch mehr oder doch eben so viel Schein hat. Her-
nach merkt er an, daß ofte der Scherz ungemein
viel zur Wiederlegung beytrage. (++)

Die beyden ersten Fälle der Wiederlegung haben
statt, wenn das, was man wiederlegen will, den
würklichen Schein der Wahrheit, oder einen schein-
baren Beweis für sich hat. Jn diesem Fall ist ent-
weder das Fundament, worauf der vermeinte Be-
weis sich gründet, oder der Schluß, der daraus
gezogen wird, unrichtig; folglich muß die Wieder-
legung auf eine der zwey ersten Arten geschehen.
Jst aber das, was man wiederlegen soll, ein blos-
ses Vorgeben, eine Behauptung, die durch keinen
Beweis unterstüzt ist; so kann es auch nicht wol
anders, als auf die dritte Art wiederlegt werden.
So wiederlegt Hektor den Polydamas, der wegen

eines
(+) Resutatio dupliciter accipi potest. Nam et pars de-
Fensoris tota
est posita in refutatione: et quae dicta sunt ex
diverso, debent utrimque dissolvi
: et hoec est propric, cui
in causis quartus assignatur locus. Quint. Inst. L. V. c.
13.
(*) S.
Ueberre-
dung.
(++) [Spaltenumbruch]
Resistendum - aut iis quae comprobandi ejus causa
[Spaltenumbruch] sumuntur reprehendendis; aut demonstrando id quod cen-
cludere illi velint non effici ex propositis, nec esse conse-
quens; aut asserendum in contrariam partem quod sit aut
gravius, aut aeque grave. -- Vehementer saepe utilis jo-
cus, et facetiae. In Orat.

[Spaltenumbruch]

Wie
einen Beweis methodiſch zu fuͤhren, oder eine um-
ſtaͤndliche Erzaͤhlung zu machen, als das kraͤftigſte
davon in wenig Worten zuſammen zu faſſen. Quin-
tilian fuͤhret die Peroration, oder den Beſchluß der
lezten Rede des Cicero gegen den Verres zum Mu-
ſter einer vollkommenen ſummariſchen Wiederho-
lung an: ſie iſt in der That hoͤchſt pathetiſch. Jun-
gen Rednern iſt eine ganz beſondere Uebung in die-
ſem Theile der Kunſt zu empfehlen. Sie koͤnnen
die Reden des Demoſthenes und Cicero dazu neh-
men, und verſuchen, den darin abgehandelten Ma-
terien, durch ſummariſcher Wiederholung, neue
Kraft zu geben. Sie muͤſſen dabey vorausſezen,
daß die Zuhoͤrer durch die Abhandlung hinlaͤnglich
uͤberzeuget, oder geruͤhrt ſeyen, und bedenken, daß
es nun darum zu thun ſey, dieſer Ueberzeugung
oder Ruͤhrung den lezten Nachdruk, und das wahre
Leben zu geben. Dieſes kann nicht anders geſche-
hen, als wenn ſie ſelbſt in volles Feuer der Em-
pfindung geſezt ſind. Denn im Grund iſt dieſer
Theil der Rede nichts anders, als eine ſehr ſchnelle
und lebhafte Aeußerung deſſen, was man izt, nach-
dem der Redner das ſeinige gethan hat, fuͤhlt.

Wiederlegung.
(Beredſamkeit.)

Man wiederlegt einen andern, wenn man die
Falſchheit deſſen, was er geſagt, oder behauptet
hat, zeiget. Eigentlich iſt jeder Beweis, und jede
Vertheidigung eine Wiederlegung. Wir betrachten
aber hier die Sache nicht in dieſem allgemeinen Ge-
ſichtspunkt, noch iſt unſre Abſicht hier ausfuͤhrlich
zu zeigen, wie eine foͤrmliche Vertheidigungsrede,
beſchaffen ſeyn muͤſſe. Wir nehmen das Wort in
dem eigentlichern Sinn, und ſprechen von der Wie-
derlegung, als einem beſondern Theil einer Rede,
der gegen einen beſondern Theil einer andern Rede
gerichtet iſt. Dieſe Bedeutung geben die Lehrer
der Redner dem Worte. (†) Es wird durchgehends
fuͤr ſchweerer gehalten, etwas zu wiederlegen, als
einen Saz, gerade zu zu beweiſen. Quintilian ſagt,
es ſey eben ſo viel leichter, einen anzuklagen, denn
[Spaltenumbruch]

Wie
zu vertheidigen, als es leichter iſt zu verwunden,
denn zu heilen. Wir haben bereits anderswo (*)
angemerkt, daß es ſehr leichte ſey, die Menſchen
von etwas zu uͤberreden, wenn ſie gaͤnzlich unpar-
theyiſch, oder uneingenommen ſind. Bey der Wie-
derlegung wird immer vorausgeſezt, daß man ſchon
ein Vorurtheil gegen ſich habe. Dieſes muß durch
die Wiederlegung voͤllig zernichtet werden, ehe der
Zwek der Wiederlegung kann erreicht werden.

Es iſt aber unſere Abſicht hier gar nicht, den
ſophiſtiſchen Rednern zu zeigen, wie eine wuͤrkliche
Wahrheit koͤnne verdaͤchtig gemacht, oder ſo ver-
draͤht werden, daß der Beyfall, den andre ihr ge-
gegeben, ihr genommen werde. Nichts macht einen
Redner bey Verſtaͤndigen veraͤchtlicher, als wenn er
offenbaren Wahrheiten falſche Vernunftſchluͤſſe ent-
gegen ſezt, oder ſie durch ein ſchimmerndes Wortge-
praͤng verdaͤchtig zu machen ſucht. Wir ſezen vor-
aus, daß blos der Jrrthum wiederlegt, und das
ungegruͤndete Vorurtheil ſoll gehoben werden.

Cicero ſezet drey Arten der Wiederlegung. 1. Ent-
weder, ſagt er, verwirft man das Fundament,
worauf der zu wiederlegende Saz gegruͤndet iſt;
2. oder man zeiget, daß das was daraus geſchloſſen
worden, nicht daraus folge; 3. oder man ſezet dem
Vorgeben, oder dem Saz etwas entgegen, das
noch mehr oder doch eben ſo viel Schein hat. Her-
nach merkt er an, daß ofte der Scherz ungemein
viel zur Wiederlegung beytrage. (††)

Die beyden erſten Faͤlle der Wiederlegung haben
ſtatt, wenn das, was man wiederlegen will, den
wuͤrklichen Schein der Wahrheit, oder einen ſchein-
baren Beweis fuͤr ſich hat. Jn dieſem Fall iſt ent-
weder das Fundament, worauf der vermeinte Be-
weis ſich gruͤndet, oder der Schluß, der daraus
gezogen wird, unrichtig; folglich muß die Wieder-
legung auf eine der zwey erſten Arten geſchehen.
Jſt aber das, was man wiederlegen ſoll, ein bloſ-
ſes Vorgeben, eine Behauptung, die durch keinen
Beweis unterſtuͤzt iſt; ſo kann es auch nicht wol
anders, als auf die dritte Art wiederlegt werden.
So wiederlegt Hektor den Polydamas, der wegen

eines
(†) Reſutatio dupliciter accipi poteſt. Nam et pars de-
Fenſoris tota
eſt poſita in refutatione: et quæ dicta ſunt ex
diverſo, debent utrimque diſſolvi
: et hœc eſt propric, cui
in cauſis quartus aſſignatur locus. Quint. Inſt. L. V. c.
13.
(*) S.
Ueberre-
dung.
(††) [Spaltenumbruch]
Reſiſtendum ‒ aut iis quæ comprobandi ejus cauſa
[Spaltenumbruch] ſumuntur reprehendendis; aut demonſtrando id quod cen-
cludere illi velint non effici ex propoſitis, nec eſſe conſe-
quens; aut aſſerendum in contrariam partem quod ſit aut
gravius, aut æque grave. — Vehementer ſæpe utilis jo-
cus, et facetiæ. In Orat.
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[1270[1252]/0699] Wie Wie einen Beweis methodiſch zu fuͤhren, oder eine um- ſtaͤndliche Erzaͤhlung zu machen, als das kraͤftigſte davon in wenig Worten zuſammen zu faſſen. Quin- tilian fuͤhret die Peroration, oder den Beſchluß der lezten Rede des Cicero gegen den Verres zum Mu- ſter einer vollkommenen ſummariſchen Wiederho- lung an: ſie iſt in der That hoͤchſt pathetiſch. Jun- gen Rednern iſt eine ganz beſondere Uebung in die- ſem Theile der Kunſt zu empfehlen. Sie koͤnnen die Reden des Demoſthenes und Cicero dazu neh- men, und verſuchen, den darin abgehandelten Ma- terien, durch ſummariſcher Wiederholung, neue Kraft zu geben. Sie muͤſſen dabey vorausſezen, daß die Zuhoͤrer durch die Abhandlung hinlaͤnglich uͤberzeuget, oder geruͤhrt ſeyen, und bedenken, daß es nun darum zu thun ſey, dieſer Ueberzeugung oder Ruͤhrung den lezten Nachdruk, und das wahre Leben zu geben. Dieſes kann nicht anders geſche- hen, als wenn ſie ſelbſt in volles Feuer der Em- pfindung geſezt ſind. Denn im Grund iſt dieſer Theil der Rede nichts anders, als eine ſehr ſchnelle und lebhafte Aeußerung deſſen, was man izt, nach- dem der Redner das ſeinige gethan hat, fuͤhlt. Wiederlegung. (Beredſamkeit.) Man wiederlegt einen andern, wenn man die Falſchheit deſſen, was er geſagt, oder behauptet hat, zeiget. Eigentlich iſt jeder Beweis, und jede Vertheidigung eine Wiederlegung. Wir betrachten aber hier die Sache nicht in dieſem allgemeinen Ge- ſichtspunkt, noch iſt unſre Abſicht hier ausfuͤhrlich zu zeigen, wie eine foͤrmliche Vertheidigungsrede, beſchaffen ſeyn muͤſſe. Wir nehmen das Wort in dem eigentlichern Sinn, und ſprechen von der Wie- derlegung, als einem beſondern Theil einer Rede, der gegen einen beſondern Theil einer andern Rede gerichtet iſt. Dieſe Bedeutung geben die Lehrer der Redner dem Worte. (†) Es wird durchgehends fuͤr ſchweerer gehalten, etwas zu wiederlegen, als einen Saz, gerade zu zu beweiſen. Quintilian ſagt, es ſey eben ſo viel leichter, einen anzuklagen, denn zu vertheidigen, als es leichter iſt zu verwunden, denn zu heilen. Wir haben bereits anderswo (*) angemerkt, daß es ſehr leichte ſey, die Menſchen von etwas zu uͤberreden, wenn ſie gaͤnzlich unpar- theyiſch, oder uneingenommen ſind. Bey der Wie- derlegung wird immer vorausgeſezt, daß man ſchon ein Vorurtheil gegen ſich habe. Dieſes muß durch die Wiederlegung voͤllig zernichtet werden, ehe der Zwek der Wiederlegung kann erreicht werden. Es iſt aber unſere Abſicht hier gar nicht, den ſophiſtiſchen Rednern zu zeigen, wie eine wuͤrkliche Wahrheit koͤnne verdaͤchtig gemacht, oder ſo ver- draͤht werden, daß der Beyfall, den andre ihr ge- gegeben, ihr genommen werde. Nichts macht einen Redner bey Verſtaͤndigen veraͤchtlicher, als wenn er offenbaren Wahrheiten falſche Vernunftſchluͤſſe ent- gegen ſezt, oder ſie durch ein ſchimmerndes Wortge- praͤng verdaͤchtig zu machen ſucht. Wir ſezen vor- aus, daß blos der Jrrthum wiederlegt, und das ungegruͤndete Vorurtheil ſoll gehoben werden. Cicero ſezet drey Arten der Wiederlegung. 1. Ent- weder, ſagt er, verwirft man das Fundament, worauf der zu wiederlegende Saz gegruͤndet iſt; 2. oder man zeiget, daß das was daraus geſchloſſen worden, nicht daraus folge; 3. oder man ſezet dem Vorgeben, oder dem Saz etwas entgegen, das noch mehr oder doch eben ſo viel Schein hat. Her- nach merkt er an, daß ofte der Scherz ungemein viel zur Wiederlegung beytrage. (††) Die beyden erſten Faͤlle der Wiederlegung haben ſtatt, wenn das, was man wiederlegen will, den wuͤrklichen Schein der Wahrheit, oder einen ſchein- baren Beweis fuͤr ſich hat. Jn dieſem Fall iſt ent- weder das Fundament, worauf der vermeinte Be- weis ſich gruͤndet, oder der Schluß, der daraus gezogen wird, unrichtig; folglich muß die Wieder- legung auf eine der zwey erſten Arten geſchehen. Jſt aber das, was man wiederlegen ſoll, ein bloſ- ſes Vorgeben, eine Behauptung, die durch keinen Beweis unterſtuͤzt iſt; ſo kann es auch nicht wol anders, als auf die dritte Art wiederlegt werden. So wiederlegt Hektor den Polydamas, der wegen eines (†) Reſutatio dupliciter accipi poteſt. Nam et pars de- Fenſoris tota eſt poſita in refutatione: et quæ dicta ſunt ex diverſo, debent utrimque diſſolvi: et hœc eſt propric, cui in cauſis quartus aſſignatur locus. Quint. Inſt. L. V. c. 13. (*) S. Ueberre- dung. (††) Reſiſtendum ‒ aut iis quæ comprobandi ejus cauſa ſumuntur reprehendendis; aut demonſtrando id quod cen- cludere illi velint non effici ex propoſitis, nec eſſe conſe- quens; aut aſſerendum in contrariam partem quod ſit aut gravius, aut æque grave. — Vehementer ſæpe utilis jo- cus, et facetiæ. In Orat.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1270[1252]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/699>, abgerufen am 19.04.2024.