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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Wiz
griffe und seltenen Einfälle, in den Reden des wizi-
gen Kopfes.

Es erhellet hieraus, daß der Wiz eine der Grund-
lagen des zur Kunst nöthigen Genies sey. Denn
da die lebhafte Nührung der Einbildungskraft eine
der nothwendigsten Würkungen der Werke des Ge-
schmaks ist, der Wiz aber gerade dahin zielt, so ist
er eines der Hauptmittel einem Gegenstand, der an
sich nicht Reizung genug hätte, ästhetische Kraft zu
geben. Eine an sich unbedeutende Begebenheit, von
einem wizigen Kopf erzählt, kann sehr unterhaltend
werden. Der gemeineste Gedanken, die Schilderung
des unerheblichsten Gegenstandes, gewinnt durch den
Einfluß des Wizes einen Reiz, der ihn für Men-
schen von Geschmak höchst angenehm macht.

Wenn er aber in Werken des Geschmaks diesen
Dienst leisten soll, so muß er mit Scharfsinn ver-
bunden und von Verstand und guter Beurtheilung
geleitet werden. Ohne Scharfsinn wird er leicht
falsch, ausschweifend und so gar abgeschmakt; und
wenn ihn nicht eine richtige Beurtheilung begleitet,
so wird er unzeitig, abentheuerlich, übertrieben und
schädlich.

Man muß überhaupt die Aeußerungen des Wizes
als ein Gewürz ansehen, und gerade den Gebrauch
davon machen, der bey Zurichtung einer Mahlzeit
von diesem gemacht wird. Ganz von Gewürze wird
kein Gericht gemacht; doch etwa ein kleines Schäl-
chen, mehr zur Wollust, als zur Nahrung, hinge-
sezt. Aber jede zur Nahrung bestimmte Speise
wird damit etwas erhöhet; es sey denn, daß sie
schon an sich hinlänglichen Reiz für den Geschmak
habe. Gerade so verhält es sich mit dem Wize.
Blos wizig können kleinere zur Ergözung und zum
Scherz gemachte Werke der Kunst seyn; aber in
größern Werken, die schon eine höhere Bestimmung
haben, muß er niemals herrschend seyn, sondern
blos der schon an sich wichtigen Materie einen et-
was erhöheten Geschmak geben.

Zu viel Wiz, auch da, wo sein mäßiger Ge-
brauch nöthig ist, ermüdet, unterdrükt die, den
Geist und das Herz nährenden Kräfte, die schon in
dem Stoff liegen, und macht, daß das, was nüz-
lich seyn sollte, blos angenehm wird. Jst er ein-
mal im Reiche des Geschmaks herrschend geworden,
so thut er eben die verderbliche Würkung, die der
unmäßige Gebrauch des Gewürzes in der Lebensart
[Spaltenumbruch]

Wiz
der Wollüstlinge thut, die allen Geschmak an nahr-
haften und gesunden Speisen verliehren, und des-
wegen in eine Weichlichkeit versinken, in der alle
Stärke des Körpers verlohren geht. Verschwen-
dung des Wizes zeiget allemal den Verfall des Ge-
schmaks; und ein Volk das in Werken des Ge-
schmaks sich vorzüglich nach Wiz umsieht, ist schon
so verdorben, daß die schönen Künste die heilsameste
Würkung, die man von ihnen zu erwarten hat, an
ihm nicht mehr thun können. Die gründlichste
Rede, darin ein solches Volk zu ernstlicher Ueberle-
gung dessen, was zu seinem wahren Jnteresse die-
net, ermahnet würde, thäte weniger Würkung,
als ein wiziger Einfall. Weit mehr richten die
schönen Künste bey einem Volk aus, dessen Ge-
schmak noch rauh und ungeläutert ist, als bey dem,
dessen Geschmak durch übertriebenen Gebrauch des
Wizes die Schwächung der Weichlichkeit erfahren
hat. Darum sollten Kunstrichter, denen die Aus-
breitung des wahren und gründlichen Geschmaks am
Herzen liegt, auf nichts mehr wachen, als auf die
Hintertreibung des Mißbrauches, der insgemein
von dem Wize gemacht wird, so bald die schönen
Künste bis zu einer gewissen Verfeinerung getrie-
ben worden.

Da der Wiz eigentlich dazu dienet, daß gewisse
Vorstellungen, die in ihrer wesentlichen Beschaffen-
heit die Aufmerksamkeit nicht genug reizen, dadurch
Leben und ästhetische Kraft bekommen; so versteht
es sich von selbst, daß sein Gebrauch bey Gegen-
ständen, die an sich Lebhaftigkeit und Reizung ge-
nug haben, überflüßig, auch wol gar schädlich sey.
Wie er einen gemeinen Gedanken erhebt, so be-
nihmt er einem starken und wichtigen etwas von sei-
ner Kraft, indem er die Aufmerksamkeit von dem
Wesentlichen auf etwas Zufälliges lenket. Wo der
Verstand durch große und wichtige Wahrheit zu er-
leuchten, oder wo das Herz durch pathetische, oder
zärtliche Gegenstände zu rühren ist, da bleibt der
Wiz ausgeschlossen. So unumgänglich er zu blos
unterhaltenden Werken, zu dem lustigen Schau-
spiehl und zu der spottenden Satyre ist, so übel wär
er in dem Trauerspiehl und in andern pathetischen
Werken angewendet. Je feiner er ist, je mehr be-
leidiget er den guten Geschmak, wo das Herz blos
empfinden, oder der Verstand blos erkennen und
beurtheilen will.

Wolklang.
Zweyter Theil. U u u u u u u

[Spaltenumbruch]

Wiz
griffe und ſeltenen Einfaͤlle, in den Reden des wizi-
gen Kopfes.

Es erhellet hieraus, daß der Wiz eine der Grund-
lagen des zur Kunſt noͤthigen Genies ſey. Denn
da die lebhafte Nuͤhrung der Einbildungskraft eine
der nothwendigſten Wuͤrkungen der Werke des Ge-
ſchmaks iſt, der Wiz aber gerade dahin zielt, ſo iſt
er eines der Hauptmittel einem Gegenſtand, der an
ſich nicht Reizung genug haͤtte, aͤſthetiſche Kraft zu
geben. Eine an ſich unbedeutende Begebenheit, von
einem wizigen Kopf erzaͤhlt, kann ſehr unterhaltend
werden. Der gemeineſte Gedanken, die Schilderung
des unerheblichſten Gegenſtandes, gewinnt durch den
Einfluß des Wizes einen Reiz, der ihn fuͤr Men-
ſchen von Geſchmak hoͤchſt angenehm macht.

Wenn er aber in Werken des Geſchmaks dieſen
Dienſt leiſten ſoll, ſo muß er mit Scharfſinn ver-
bunden und von Verſtand und guter Beurtheilung
geleitet werden. Ohne Scharfſinn wird er leicht
falſch, ausſchweifend und ſo gar abgeſchmakt; und
wenn ihn nicht eine richtige Beurtheilung begleitet,
ſo wird er unzeitig, abentheuerlich, uͤbertrieben und
ſchaͤdlich.

Man muß uͤberhaupt die Aeußerungen des Wizes
als ein Gewuͤrz anſehen, und gerade den Gebrauch
davon machen, der bey Zurichtung einer Mahlzeit
von dieſem gemacht wird. Ganz von Gewuͤrze wird
kein Gericht gemacht; doch etwa ein kleines Schaͤl-
chen, mehr zur Wolluſt, als zur Nahrung, hinge-
ſezt. Aber jede zur Nahrung beſtimmte Speiſe
wird damit etwas erhoͤhet; es ſey denn, daß ſie
ſchon an ſich hinlaͤnglichen Reiz fuͤr den Geſchmak
habe. Gerade ſo verhaͤlt es ſich mit dem Wize.
Blos wizig koͤnnen kleinere zur Ergoͤzung und zum
Scherz gemachte Werke der Kunſt ſeyn; aber in
groͤßern Werken, die ſchon eine hoͤhere Beſtimmung
haben, muß er niemals herrſchend ſeyn, ſondern
blos der ſchon an ſich wichtigen Materie einen et-
was erhoͤheten Geſchmak geben.

Zu viel Wiz, auch da, wo ſein maͤßiger Ge-
brauch noͤthig iſt, ermuͤdet, unterdruͤkt die, den
Geiſt und das Herz naͤhrenden Kraͤfte, die ſchon in
dem Stoff liegen, und macht, daß das, was nuͤz-
lich ſeyn ſollte, blos angenehm wird. Jſt er ein-
mal im Reiche des Geſchmaks herrſchend geworden,
ſo thut er eben die verderbliche Wuͤrkung, die der
unmaͤßige Gebrauch des Gewuͤrzes in der Lebensart
[Spaltenumbruch]

Wiz
der Wolluͤſtlinge thut, die allen Geſchmak an nahr-
haften und geſunden Speiſen verliehren, und des-
wegen in eine Weichlichkeit verſinken, in der alle
Staͤrke des Koͤrpers verlohren geht. Verſchwen-
dung des Wizes zeiget allemal den Verfall des Ge-
ſchmaks; und ein Volk das in Werken des Ge-
ſchmaks ſich vorzuͤglich nach Wiz umſieht, iſt ſchon
ſo verdorben, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte die heilſameſte
Wuͤrkung, die man von ihnen zu erwarten hat, an
ihm nicht mehr thun koͤnnen. Die gruͤndlichſte
Rede, darin ein ſolches Volk zu ernſtlicher Ueberle-
gung deſſen, was zu ſeinem wahren Jntereſſe die-
net, ermahnet wuͤrde, thaͤte weniger Wuͤrkung,
als ein wiziger Einfall. Weit mehr richten die
ſchoͤnen Kuͤnſte bey einem Volk aus, deſſen Ge-
ſchmak noch rauh und ungelaͤutert iſt, als bey dem,
deſſen Geſchmak durch uͤbertriebenen Gebrauch des
Wizes die Schwaͤchung der Weichlichkeit erfahren
hat. Darum ſollten Kunſtrichter, denen die Aus-
breitung des wahren und gruͤndlichen Geſchmaks am
Herzen liegt, auf nichts mehr wachen, als auf die
Hintertreibung des Mißbrauches, der insgemein
von dem Wize gemacht wird, ſo bald die ſchoͤnen
Kuͤnſte bis zu einer gewiſſen Verfeinerung getrie-
ben worden.

Da der Wiz eigentlich dazu dienet, daß gewiſſe
Vorſtellungen, die in ihrer weſentlichen Beſchaffen-
heit die Aufmerkſamkeit nicht genug reizen, dadurch
Leben und aͤſthetiſche Kraft bekommen; ſo verſteht
es ſich von ſelbſt, daß ſein Gebrauch bey Gegen-
ſtaͤnden, die an ſich Lebhaftigkeit und Reizung ge-
nug haben, uͤberfluͤßig, auch wol gar ſchaͤdlich ſey.
Wie er einen gemeinen Gedanken erhebt, ſo be-
nihmt er einem ſtarken und wichtigen etwas von ſei-
ner Kraft, indem er die Aufmerkſamkeit von dem
Weſentlichen auf etwas Zufaͤlliges lenket. Wo der
Verſtand durch große und wichtige Wahrheit zu er-
leuchten, oder wo das Herz durch pathetiſche, oder
zaͤrtliche Gegenſtaͤnde zu ruͤhren iſt, da bleibt der
Wiz ausgeſchloſſen. So unumgaͤnglich er zu blos
unterhaltenden Werken, zu dem luſtigen Schau-
ſpiehl und zu der ſpottenden Satyre iſt, ſo uͤbel waͤr
er in dem Trauerſpiehl und in andern pathetiſchen
Werken angewendet. Je feiner er iſt, je mehr be-
leidiget er den guten Geſchmak, wo das Herz blos
empfinden, oder der Verſtand blos erkennen und
beurtheilen will.

Wolklang.
Zweyter Theil. U u u u u u u
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1275[1257]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/704>, abgerufen am 24.04.2024.