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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Lau
daß die Aufmerksamkeit von dem Jnhalt auf die
Kunst des Sängers abziehet.

Von dem Vortrag der Läufe findet man in Tosis
Anleitung zur Singkunst, und den von Hrn. Agri-
cola daselöst beygefügten Anmerkungen einen sehr
gründlichen Unterricht.

Laune.
(Schöne Künste.)

Bedeutet eben das, was man gemeiniglich auch im
Deutschen mit dem franzdsischen Wort Humeur aus-
drüket; nämlich eine Gemüthsfassung in der eine
unbestimmte angenehme oder verdrießliche Empfin-
dung so herrschend ist, daß alle Vorstellungen und
Aeußerungen der Seele davon angestekt werden.
Sie ist ein leidenschaftlicher Zustand, in dem die
Leidenschaft nicht heftig ist, keinen bestimmten Ge-
genstand hat; sondern blos das Angenehme, oder
Unangenehme das sie hat, über die ganze Seele ver-
breitet. Jn einer lustigen Laune sieht man alles
von der ergözenden und belustigenden Seite, in einer
verdrießlichen aber, ist alles verdrießlich. Wie ein
von gelber Galle kranker Mensch alles gelb siehet,
so erscheinet einem Menschen in guter oder übler
Laune alles lustig, oder verdrießlich; seine Urtheile,
Empfindungen, Handlungen, haben alsdenn etwas
salsches, oder übertriebenes an sich. Von der Laune
wird die Vernunft nicht so völlig, als von der hefti-
gen Leidenschaft gehemmet; aber sie bekommt doch eine
schiefe Lenkung, daß sie keinen Gegenstand in seiner
wahren Gestalt, oder in seinem eigentlichen Ver-
hältnis sieht. Menschen von lebhafter und sehr
empfindsamer Gemüthsart, denen es sonst an Ver-
nunst nicht sehlet, werden von Gegenständen, die
lebhaften Eindruk auf sie machen, so ganz durch-
drungen, daß sie eine Zeitlang halb aus Ueberle-
gung und halb aus blinder Empfindung handeln
und urtheilen; und in diesem Zustande schreibet
man ihnen eine Lanne zu. Jn Absicht auf die schö-
nen Künste ist dieser Zustand wichtig; denn die
Laune vertritt nicht selten die Stelle der Begeiste-
rung, indem sie das Gemüth des Künstlers in den
Ton stimmt, dar sich zu seinem Gegenstand schiket,
und auch nicht selten die eigentlichsten Einfälle, Ge-
danken und Bilder darbiethet: facit indignatio ver-
sum.
Gar ofte hat der Künstler keine Muse zum
Beystand, als seine Laune. Jedes lyrische Gedicht
muß von der Laune seinen Ton bekommen. Die
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Lau
Horazische Ode an den über See seegelnden Virgil,
ist fast ganz die Würkung der verdrießlichen Laune des
Dichters, der um seinen Freund besorgt ist. Alles
kommt ihm gefährlicher vor, als es ist, und er
schimpft in dieser Laune auf die Verwegenheit des
Menschen, die diese Art zu reisen erfunden hat.

Wir beobachten den Menschen nie mit mehr Auf-
merksamkeit, als wenn wir ihn in einer merklichen
Laune sehen; auch ist in diesen Umständen fast alles,
was wir an ihm sehen, belustigend, oder lehrreich.
Was wir in seiner wahren Gestalt, und mit seinen na-
türlichen Farben sehen, das sieht der launige Mensch
in veränderter Gestalt und in verfälschter Farbe. Es
befremdet uns, daß er die Sachen nicht so sieht, wie
wir; und daher nähert sich der launige Zustand dem
Lächerlichen, und dienet uns zu belustigen. Lehrreich ist
er für den Philosophen, der daraus erkennen lernt, auf
wie vielerley seltsame Weise die Urtheile verdräht wer-
den, und wie die wunderlichsten Trugschlüsse entstehen.

Auf der comischen Schaubühne macht die Laune
der Hauptpersonen oft das Vornehmste aus. Nichts
ist belustigender zu sehen und zu hören, als die Farb
und der Ton, den die Laune allen Handlungen und
Urtheilen der Menschen giebt; und die merkwürdig-
sten Gegensätze entstehen da, wo Personen von ent-
gegengesezter Laune sich für einerley Gegenstände
intreßiren, da der eine alles von der verdrießlichen,
der andre von der lustigen Seite ansieht. Der Dich-
ter hat anch nirgendwo bessere Gelegenheit, als bey
solchen Contrasten, uns die gerade Richtung der
Vernunst sichtbar zu machen. Die wichtigsten
Beobachtungen, die der Mensch über sich selbst ma-
chen könnte, wären ohne Zweifel die, die er über
den Einflus seiner Laune, auf seine Urtheile machen
würde. Wir müssen uns ofte über uns selbst verwun-
dern, daß wir zu verschiedenen Zeiten, so verschie-
dene Urtheile über dieselben Sachen fällen. Sie sind
eine Würkung der Laune. Der comische Schauspieler
kann uns dergleichen Beobachtungen erleichern.

Wer für die comische Bühne arbeiten will, muß
sich in jede Art der Laune zu sezen wissen. Darin
findet er das sicherste Hülfsmittel, den Zuschauer zu
ergözen, und zu unterrichten. Darum ist es sein
Hauptstudium die Menschen in jeder Gattung der
Laune zu beobachten. Er kann es, als eine Grund-
maxime annehmen, daß er gewiß nur in den Sce-
nen recht glüklich ist, wo es ihm gelungen, sich selbst
in die Laune zu sezen, die er zu schildern hat.

Auch

[Spaltenumbruch]

Lau
daß die Aufmerkſamkeit von dem Jnhalt auf die
Kunſt des Saͤngers abziehet.

Von dem Vortrag der Laͤufe findet man in Toſis
Anleitung zur Singkunſt, und den von Hrn. Agri-
cola daſeloͤſt beygefuͤgten Anmerkungen einen ſehr
gruͤndlichen Unterricht.

Laune.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Bedeutet eben das, was man gemeiniglich auch im
Deutſchen mit dem franzdſiſchen Wort Humeur aus-
druͤket; naͤmlich eine Gemuͤthsfaſſung in der eine
unbeſtimmte angenehme oder verdrießliche Empfin-
dung ſo herrſchend iſt, daß alle Vorſtellungen und
Aeußerungen der Seele davon angeſtekt werden.
Sie iſt ein leidenſchaftlicher Zuſtand, in dem die
Leidenſchaft nicht heftig iſt, keinen beſtimmten Ge-
genſtand hat; ſondern blos das Angenehme, oder
Unangenehme das ſie hat, uͤber die ganze Seele ver-
breitet. Jn einer luſtigen Laune ſieht man alles
von der ergoͤzenden und beluſtigenden Seite, in einer
verdrießlichen aber, iſt alles verdrießlich. Wie ein
von gelber Galle kranker Menſch alles gelb ſiehet,
ſo erſcheinet einem Menſchen in guter oder uͤbler
Laune alles luſtig, oder verdrießlich; ſeine Urtheile,
Empfindungen, Handlungen, haben alsdenn etwas
ſalſches, oder uͤbertriebenes an ſich. Von der Laune
wird die Vernunft nicht ſo voͤllig, als von der hefti-
gen Leidenſchaft gehemmet; aber ſie bekommt doch eine
ſchiefe Lenkung, daß ſie keinen Gegenſtand in ſeiner
wahren Geſtalt, oder in ſeinem eigentlichen Ver-
haͤltnis ſieht. Menſchen von lebhafter und ſehr
empfindſamer Gemuͤthsart, denen es ſonſt an Ver-
nunſt nicht ſehlet, werden von Gegenſtaͤnden, die
lebhaften Eindruk auf ſie machen, ſo ganz durch-
drungen, daß ſie eine Zeitlang halb aus Ueberle-
gung und halb aus blinder Empfindung handeln
und urtheilen; und in dieſem Zuſtande ſchreibet
man ihnen eine Lanne zu. Jn Abſicht auf die ſchoͤ-
nen Kuͤnſte iſt dieſer Zuſtand wichtig; denn die
Laune vertritt nicht ſelten die Stelle der Begeiſte-
rung, indem ſie das Gemuͤth des Kuͤnſtlers in den
Ton ſtimmt, dar ſich zu ſeinem Gegenſtand ſchiket,
und auch nicht ſelten die eigentlichſten Einfaͤlle, Ge-
danken und Bilder darbiethet: facit indignatio ver-
ſum.
Gar ofte hat der Kuͤnſtler keine Muſe zum
Beyſtand, als ſeine Laune. Jedes lyriſche Gedicht
muß von der Laune ſeinen Ton bekommen. Die
[Spaltenumbruch]

Lau
Horaziſche Ode an den uͤber See ſeegelnden Virgil,
iſt faſt ganz die Wuͤrkung der verdrießlichen Laune des
Dichters, der um ſeinen Freund beſorgt iſt. Alles
kommt ihm gefaͤhrlicher vor, als es iſt, und er
ſchimpft in dieſer Laune auf die Verwegenheit des
Menſchen, die dieſe Art zu reiſen erfunden hat.

Wir beobachten den Menſchen nie mit mehr Auf-
merkſamkeit, als wenn wir ihn in einer merklichen
Laune ſehen; auch iſt in dieſen Umſtaͤnden faſt alles,
was wir an ihm ſehen, beluſtigend, oder lehrreich.
Was wir in ſeiner wahren Geſtalt, und mit ſeinen na-
tuͤrlichen Farben ſehen, das ſieht der launige Menſch
in veraͤnderter Geſtalt und in verfaͤlſchter Farbe. Es
befremdet uns, daß er die Sachen nicht ſo ſieht, wie
wir; und daher naͤhert ſich der launige Zuſtand dem
Laͤcherlichen, und dienet uns zu beluſtigen. Lehrreich iſt
er fuͤr den Philoſophen, der daraus erkennen lernt, auf
wie vielerley ſeltſame Weiſe die Urtheile verdraͤht wer-
den, und wie die wunderlichſten Trugſchluͤſſe entſtehen.

Auf der comiſchen Schaubuͤhne macht die Laune
der Hauptperſonen oft das Vornehmſte aus. Nichts
iſt beluſtigender zu ſehen und zu hoͤren, als die Farb
und der Ton, den die Laune allen Handlungen und
Urtheilen der Menſchen giebt; und die merkwuͤrdig-
ſten Gegenſaͤtze entſtehen da, wo Perſonen von ent-
gegengeſezter Laune ſich fuͤr einerley Gegenſtaͤnde
intreßiren, da der eine alles von der verdrießlichen,
der andre von der luſtigen Seite anſieht. Der Dich-
ter hat anch nirgendwo beſſere Gelegenheit, als bey
ſolchen Contraſten, uns die gerade Richtung der
Vernunſt ſichtbar zu machen. Die wichtigſten
Beobachtungen, die der Menſch uͤber ſich ſelbſt ma-
chen koͤnnte, waͤren ohne Zweifel die, die er uͤber
den Einflus ſeiner Laune, auf ſeine Urtheile machen
wuͤrde. Wir muͤſſen uns ofte uͤber uns ſelbſt verwun-
dern, daß wir zu verſchiedenen Zeiten, ſo verſchie-
dene Urtheile uͤber dieſelben Sachen faͤllen. Sie ſind
eine Wuͤrkung der Laune. Der comiſche Schauſpieler
kann uns dergleichen Beobachtungen erleichern.

Wer fuͤr die comiſche Buͤhne arbeiten will, muß
ſich in jede Art der Laune zu ſezen wiſſen. Darin
findet er das ſicherſte Huͤlfsmittel, den Zuſchauer zu
ergoͤzen, und zu unterrichten. Darum iſt es ſein
Hauptſtudium die Menſchen in jeder Gattung der
Laune zu beobachten. Er kann es, als eine Grund-
maxime annehmen, daß er gewiß nur in den Sce-
nen recht gluͤklich iſt, wo es ihm gelungen, ſich ſelbſt
in die Laune zu ſezen, die er zu ſchildern hat.

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[678[660]/0095] Lau Lau daß die Aufmerkſamkeit von dem Jnhalt auf die Kunſt des Saͤngers abziehet. Von dem Vortrag der Laͤufe findet man in Toſis Anleitung zur Singkunſt, und den von Hrn. Agri- cola daſeloͤſt beygefuͤgten Anmerkungen einen ſehr gruͤndlichen Unterricht. Laune. (Schoͤne Kuͤnſte.) Bedeutet eben das, was man gemeiniglich auch im Deutſchen mit dem franzdſiſchen Wort Humeur aus- druͤket; naͤmlich eine Gemuͤthsfaſſung in der eine unbeſtimmte angenehme oder verdrießliche Empfin- dung ſo herrſchend iſt, daß alle Vorſtellungen und Aeußerungen der Seele davon angeſtekt werden. Sie iſt ein leidenſchaftlicher Zuſtand, in dem die Leidenſchaft nicht heftig iſt, keinen beſtimmten Ge- genſtand hat; ſondern blos das Angenehme, oder Unangenehme das ſie hat, uͤber die ganze Seele ver- breitet. Jn einer luſtigen Laune ſieht man alles von der ergoͤzenden und beluſtigenden Seite, in einer verdrießlichen aber, iſt alles verdrießlich. Wie ein von gelber Galle kranker Menſch alles gelb ſiehet, ſo erſcheinet einem Menſchen in guter oder uͤbler Laune alles luſtig, oder verdrießlich; ſeine Urtheile, Empfindungen, Handlungen, haben alsdenn etwas ſalſches, oder uͤbertriebenes an ſich. Von der Laune wird die Vernunft nicht ſo voͤllig, als von der hefti- gen Leidenſchaft gehemmet; aber ſie bekommt doch eine ſchiefe Lenkung, daß ſie keinen Gegenſtand in ſeiner wahren Geſtalt, oder in ſeinem eigentlichen Ver- haͤltnis ſieht. Menſchen von lebhafter und ſehr empfindſamer Gemuͤthsart, denen es ſonſt an Ver- nunſt nicht ſehlet, werden von Gegenſtaͤnden, die lebhaften Eindruk auf ſie machen, ſo ganz durch- drungen, daß ſie eine Zeitlang halb aus Ueberle- gung und halb aus blinder Empfindung handeln und urtheilen; und in dieſem Zuſtande ſchreibet man ihnen eine Lanne zu. Jn Abſicht auf die ſchoͤ- nen Kuͤnſte iſt dieſer Zuſtand wichtig; denn die Laune vertritt nicht ſelten die Stelle der Begeiſte- rung, indem ſie das Gemuͤth des Kuͤnſtlers in den Ton ſtimmt, dar ſich zu ſeinem Gegenſtand ſchiket, und auch nicht ſelten die eigentlichſten Einfaͤlle, Ge- danken und Bilder darbiethet: facit indignatio ver- ſum. Gar ofte hat der Kuͤnſtler keine Muſe zum Beyſtand, als ſeine Laune. Jedes lyriſche Gedicht muß von der Laune ſeinen Ton bekommen. Die Horaziſche Ode an den uͤber See ſeegelnden Virgil, iſt faſt ganz die Wuͤrkung der verdrießlichen Laune des Dichters, der um ſeinen Freund beſorgt iſt. Alles kommt ihm gefaͤhrlicher vor, als es iſt, und er ſchimpft in dieſer Laune auf die Verwegenheit des Menſchen, die dieſe Art zu reiſen erfunden hat. Wir beobachten den Menſchen nie mit mehr Auf- merkſamkeit, als wenn wir ihn in einer merklichen Laune ſehen; auch iſt in dieſen Umſtaͤnden faſt alles, was wir an ihm ſehen, beluſtigend, oder lehrreich. Was wir in ſeiner wahren Geſtalt, und mit ſeinen na- tuͤrlichen Farben ſehen, das ſieht der launige Menſch in veraͤnderter Geſtalt und in verfaͤlſchter Farbe. Es befremdet uns, daß er die Sachen nicht ſo ſieht, wie wir; und daher naͤhert ſich der launige Zuſtand dem Laͤcherlichen, und dienet uns zu beluſtigen. Lehrreich iſt er fuͤr den Philoſophen, der daraus erkennen lernt, auf wie vielerley ſeltſame Weiſe die Urtheile verdraͤht wer- den, und wie die wunderlichſten Trugſchluͤſſe entſtehen. Auf der comiſchen Schaubuͤhne macht die Laune der Hauptperſonen oft das Vornehmſte aus. Nichts iſt beluſtigender zu ſehen und zu hoͤren, als die Farb und der Ton, den die Laune allen Handlungen und Urtheilen der Menſchen giebt; und die merkwuͤrdig- ſten Gegenſaͤtze entſtehen da, wo Perſonen von ent- gegengeſezter Laune ſich fuͤr einerley Gegenſtaͤnde intreßiren, da der eine alles von der verdrießlichen, der andre von der luſtigen Seite anſieht. Der Dich- ter hat anch nirgendwo beſſere Gelegenheit, als bey ſolchen Contraſten, uns die gerade Richtung der Vernunſt ſichtbar zu machen. Die wichtigſten Beobachtungen, die der Menſch uͤber ſich ſelbſt ma- chen koͤnnte, waͤren ohne Zweifel die, die er uͤber den Einflus ſeiner Laune, auf ſeine Urtheile machen wuͤrde. Wir muͤſſen uns ofte uͤber uns ſelbſt verwun- dern, daß wir zu verſchiedenen Zeiten, ſo verſchie- dene Urtheile uͤber dieſelben Sachen faͤllen. Sie ſind eine Wuͤrkung der Laune. Der comiſche Schauſpieler kann uns dergleichen Beobachtungen erleichern. Wer fuͤr die comiſche Buͤhne arbeiten will, muß ſich in jede Art der Laune zu ſezen wiſſen. Darin findet er das ſicherſte Huͤlfsmittel, den Zuſchauer zu ergoͤzen, und zu unterrichten. Darum iſt es ſein Hauptſtudium die Menſchen in jeder Gattung der Laune zu beobachten. Er kann es, als eine Grund- maxime annehmen, daß er gewiß nur in den Sce- nen recht gluͤklich iſt, wo es ihm gelungen, ſich ſelbſt in die Laune zu ſezen, die er zu ſchildern hat. Auch

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 678[660]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/95>, abgerufen am 20.04.2024.