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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
einander fließen. Aber wenn die Dunkelheit zunimmt,
so werden auch die dunklen Vorstellungen wiederum den
verwirrten ähnlich. Davon ist die schöpferische Phan-
tasie die Ursache. Denn sobald die Klarheit der Vor-
stellungen sich bis auf eine gewisse Gränze hin vermin-
dert hat, so findet die Phantasie Gelegenheit, die ge-
schwächten und erlöschenden Züge der Bilder aus sich
selbst zu ersetzen. Es sind alle Kühe nach dem Sprich-
wort, schwarz bey der Nacht; aber sie haben die Farbe
nicht, welche die schwarzen am Tage haben; sondern
weil die Gegenstände in der Dunkelheit ganz farbenlos
sind, so giebt die Phantasie ihnen die schwächeste und
überzieht sie mit einem Schein, der nichts ist, als ein
von ihr selbst gemachter Firniß. So entstehen eigene
Schattirungen, wo die einzelnen Züge, wie bey verwirr-
tem Schein, in einander laufen, und durch einander ge-
mischt werden. Und diese verdunkelten und modificir-
ten Vorstellungen sind von den deutlichen noch weit mehr
unterschieden, als in Hinsicht der größern oder geringern
Klarheit, obgleich in den gewöhnlichen Fällen die Ver-
wirrungen von der Phantasie gehoben werden, und die
einzelnen Theile des Ganzen in ihrer wahren Situation
sich wiederum darstellen, sobald das entzogene Licht zu-
rück gebracht wird.

XIII.
Verschiedene Thätigkeiten und Vermögen der vor-
stellenden Kraft. Das Vermögen der Per-
ception. Die Einbildungskraft. Die bilden-
de Dichtkraft.

Die ursprünglichen Empfindungsvorstellun-
gen sind der Grundstoff aller übrigen.
Die
abgeleiteten werden alle ohne Ausnahme aus ihnen ge-

macht.

I. Verſuch. Ueber die Natur
einander fließen. Aber wenn die Dunkelheit zunimmt,
ſo werden auch die dunklen Vorſtellungen wiederum den
verwirrten aͤhnlich. Davon iſt die ſchoͤpferiſche Phan-
taſie die Urſache. Denn ſobald die Klarheit der Vor-
ſtellungen ſich bis auf eine gewiſſe Graͤnze hin vermin-
dert hat, ſo findet die Phantaſie Gelegenheit, die ge-
ſchwaͤchten und erloͤſchenden Zuͤge der Bilder aus ſich
ſelbſt zu erſetzen. Es ſind alle Kuͤhe nach dem Sprich-
wort, ſchwarz bey der Nacht; aber ſie haben die Farbe
nicht, welche die ſchwarzen am Tage haben; ſondern
weil die Gegenſtaͤnde in der Dunkelheit ganz farbenlos
ſind, ſo giebt die Phantaſie ihnen die ſchwaͤcheſte und
uͤberzieht ſie mit einem Schein, der nichts iſt, als ein
von ihr ſelbſt gemachter Firniß. So entſtehen eigene
Schattirungen, wo die einzelnen Zuͤge, wie bey verwirr-
tem Schein, in einander laufen, und durch einander ge-
miſcht werden. Und dieſe verdunkelten und modificir-
ten Vorſtellungen ſind von den deutlichen noch weit mehr
unterſchieden, als in Hinſicht der groͤßern oder geringern
Klarheit, obgleich in den gewoͤhnlichen Faͤllen die Ver-
wirrungen von der Phantaſie gehoben werden, und die
einzelnen Theile des Ganzen in ihrer wahren Situation
ſich wiederum darſtellen, ſobald das entzogene Licht zu-
ruͤck gebracht wird.

XIII.
Verſchiedene Thaͤtigkeiten und Vermoͤgen der vor-
ſtellenden Kraft. Das Vermoͤgen der Per-
ception. Die Einbildungskraft. Die bilden-
de Dichtkraft.

Die urſpruͤnglichen Empfindungsvorſtellun-
gen ſind der Grundſtoff aller uͤbrigen.
Die
abgeleiteten werden alle ohne Ausnahme aus ihnen ge-

macht.
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[104/0164] I. Verſuch. Ueber die Natur einander fließen. Aber wenn die Dunkelheit zunimmt, ſo werden auch die dunklen Vorſtellungen wiederum den verwirrten aͤhnlich. Davon iſt die ſchoͤpferiſche Phan- taſie die Urſache. Denn ſobald die Klarheit der Vor- ſtellungen ſich bis auf eine gewiſſe Graͤnze hin vermin- dert hat, ſo findet die Phantaſie Gelegenheit, die ge- ſchwaͤchten und erloͤſchenden Zuͤge der Bilder aus ſich ſelbſt zu erſetzen. Es ſind alle Kuͤhe nach dem Sprich- wort, ſchwarz bey der Nacht; aber ſie haben die Farbe nicht, welche die ſchwarzen am Tage haben; ſondern weil die Gegenſtaͤnde in der Dunkelheit ganz farbenlos ſind, ſo giebt die Phantaſie ihnen die ſchwaͤcheſte und uͤberzieht ſie mit einem Schein, der nichts iſt, als ein von ihr ſelbſt gemachter Firniß. So entſtehen eigene Schattirungen, wo die einzelnen Zuͤge, wie bey verwirr- tem Schein, in einander laufen, und durch einander ge- miſcht werden. Und dieſe verdunkelten und modificir- ten Vorſtellungen ſind von den deutlichen noch weit mehr unterſchieden, als in Hinſicht der groͤßern oder geringern Klarheit, obgleich in den gewoͤhnlichen Faͤllen die Ver- wirrungen von der Phantaſie gehoben werden, und die einzelnen Theile des Ganzen in ihrer wahren Situation ſich wiederum darſtellen, ſobald das entzogene Licht zu- ruͤck gebracht wird. XIII. Verſchiedene Thaͤtigkeiten und Vermoͤgen der vor- ſtellenden Kraft. Das Vermoͤgen der Per- ception. Die Einbildungskraft. Die bilden- de Dichtkraft. Die urſpruͤnglichen Empfindungsvorſtellun- gen ſind der Grundſtoff aller uͤbrigen. Die abgeleiteten werden alle ohne Ausnahme aus ihnen ge- macht.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/164>, abgerufen am 28.03.2024.