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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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ein Band von beiden ist, in ihr gewahr werden müßte,
sobald man die Fiktion in ihre Theile zerleget. So et-
was wird aber nicht gewahrgenommen. Das Ganze in
seine Stücke zerleget, giebt nicht mehr als jene beiden
einzelne verbundene Vorstellungen.

3.

Eine ausführliche physische Untersuchung der bilden-
den Kraft der Seele, in der jede Regel, jedes Gesetz
ihrer Wirksamkeit so vollkommen mit Beobachtungen
beleget würde, als eine überweisende Deduktion aus Er-
fahrungen es erfordert, würde über die Gränzen hinaus-
gehen, die ich mir in dem gegenwärtigen Versuch gesetzet
habe. Da aber doch diese Seite unserer vorstellenden
Natur an sich so erheblich und fruchtbar ist; da sie noch
weiter führet, als auf die Kenntnißkraft, und auch über
die Selbstthätigkeit der Seele bey äußern Handlungen
Licht verbreitet, so will ich einige Bemerkungen, die mir
die wesentlichsten hierüber zu seyn geschienen haben, hin-
zu fügen. Jst dieß eine zu lange Verweilung bey einer
einzelnen Sache, so bitte ich, in etwas doch die Ent-
schuldigung hier gelten zu lassen, die Plinius für die
Länge eines Briefes angab: es ist die Materie zu groß,
nicht die Beschreibung. *)

Wenn
*) Hr. Gerard, der scharfsinnige Beobachter des Genies, --
und dieß ist bey ihm das Vermögen, das hier die bil-
dende Dichtkraft genennet wird -- hat vielleicht am
vollständigsten die besondern Regeln angegeben, nach
welchen neue Jdeenassociationen durch die Dichtkraft
gemacht werden. So ferne diese Kraft unter der Di-
rektion der Reflexion arbeitet, müssen die neuen Jdeen-
verknüpfungen ohne Zweifel eine Beziehung auf die
Denkarten haben, womit die letztere die Verhältnisse
und Beziehungen in den Dingen gewahrnimmt. Da,
wo die Denkkraft Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten,
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der Vorſtellungen.
ein Band von beiden iſt, in ihr gewahr werden muͤßte,
ſobald man die Fiktion in ihre Theile zerleget. So et-
was wird aber nicht gewahrgenommen. Das Ganze in
ſeine Stuͤcke zerleget, giebt nicht mehr als jene beiden
einzelne verbundene Vorſtellungen.

3.

Eine ausfuͤhrliche phyſiſche Unterſuchung der bilden-
den Kraft der Seele, in der jede Regel, jedes Geſetz
ihrer Wirkſamkeit ſo vollkommen mit Beobachtungen
beleget wuͤrde, als eine uͤberweiſende Deduktion aus Er-
fahrungen es erfordert, wuͤrde uͤber die Graͤnzen hinaus-
gehen, die ich mir in dem gegenwaͤrtigen Verſuch geſetzet
habe. Da aber doch dieſe Seite unſerer vorſtellenden
Natur an ſich ſo erheblich und fruchtbar iſt; da ſie noch
weiter fuͤhret, als auf die Kenntnißkraft, und auch uͤber
die Selbſtthaͤtigkeit der Seele bey aͤußern Handlungen
Licht verbreitet, ſo will ich einige Bemerkungen, die mir
die weſentlichſten hieruͤber zu ſeyn geſchienen haben, hin-
zu fuͤgen. Jſt dieß eine zu lange Verweilung bey einer
einzelnen Sache, ſo bitte ich, in etwas doch die Ent-
ſchuldigung hier gelten zu laſſen, die Plinius fuͤr die
Laͤnge eines Briefes angab: es iſt die Materie zu groß,
nicht die Beſchreibung. *)

Wenn
*) Hr. Gerard, der ſcharfſinnige Beobachter des Genies, —
und dieß iſt bey ihm das Vermoͤgen, das hier die bil-
dende Dichtkraft genennet wird — hat vielleicht am
vollſtaͤndigſten die beſondern Regeln angegeben, nach
welchen neue Jdeenaſſociationen durch die Dichtkraft
gemacht werden. So ferne dieſe Kraft unter der Di-
rektion der Reflexion arbeitet, muͤſſen die neuen Jdeen-
verknuͤpfungen ohne Zweifel eine Beziehung auf die
Denkarten haben, womit die letztere die Verhaͤltniſſe
und Beziehungen in den Dingen gewahrnimmt. Da,
wo die Denkkraft Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten,
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[119/0179] der Vorſtellungen. ein Band von beiden iſt, in ihr gewahr werden muͤßte, ſobald man die Fiktion in ihre Theile zerleget. So et- was wird aber nicht gewahrgenommen. Das Ganze in ſeine Stuͤcke zerleget, giebt nicht mehr als jene beiden einzelne verbundene Vorſtellungen. 3. Eine ausfuͤhrliche phyſiſche Unterſuchung der bilden- den Kraft der Seele, in der jede Regel, jedes Geſetz ihrer Wirkſamkeit ſo vollkommen mit Beobachtungen beleget wuͤrde, als eine uͤberweiſende Deduktion aus Er- fahrungen es erfordert, wuͤrde uͤber die Graͤnzen hinaus- gehen, die ich mir in dem gegenwaͤrtigen Verſuch geſetzet habe. Da aber doch dieſe Seite unſerer vorſtellenden Natur an ſich ſo erheblich und fruchtbar iſt; da ſie noch weiter fuͤhret, als auf die Kenntnißkraft, und auch uͤber die Selbſtthaͤtigkeit der Seele bey aͤußern Handlungen Licht verbreitet, ſo will ich einige Bemerkungen, die mir die weſentlichſten hieruͤber zu ſeyn geſchienen haben, hin- zu fuͤgen. Jſt dieß eine zu lange Verweilung bey einer einzelnen Sache, ſo bitte ich, in etwas doch die Ent- ſchuldigung hier gelten zu laſſen, die Plinius fuͤr die Laͤnge eines Briefes angab: es iſt die Materie zu groß, nicht die Beſchreibung. *) Wenn *) Hr. Gerard, der ſcharfſinnige Beobachter des Genies, — und dieß iſt bey ihm das Vermoͤgen, das hier die bil- dende Dichtkraft genennet wird — hat vielleicht am vollſtaͤndigſten die beſondern Regeln angegeben, nach welchen neue Jdeenaſſociationen durch die Dichtkraft gemacht werden. So ferne dieſe Kraft unter der Di- rektion der Reflexion arbeitet, muͤſſen die neuen Jdeen- verknuͤpfungen ohne Zweifel eine Beziehung auf die Denkarten haben, womit die letztere die Verhaͤltniſſe und Beziehungen in den Dingen gewahrnimmt. Da, wo die Denkkraft Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten, Ueber- H 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/179>, abgerufen am 24.04.2024.