Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Versuch. Ueber das Gefühl,
vergangene Ding selbst, das vorgestellet wird. Wir
fühlen die Gemüthsbewegung, in der die Vorstellung
des Vergangenen enthalten ist, oder durch die sie wie-
dererwecket wird, aber nur so, wie sie jetzo wiederum ge-
genwärtig ist. Wir erinnern uns des ehemaligen Zu-
standes, aber nur den gegenwärtigen fühlen wir.

2.

Ferner der Aktus des Gefühls ist verschiede-
ner Grade fähig.
Er kann stärker oder schwächer
seyn, der Jntension nach, der Ausdehnung und der
Dauer nach. Dieß ist Erfahrung. Es ist also mög-
lich, daß das Gefühl einer Sache so matt, und kurz
vorübergehend sey; daß es ungewahrgenommen bleibet,
und nicht als ein besonders Gefühl dieser Sache bemer-
ket wird, ob es gleich die Quantität des ganzen Gefühls
vergrößert, wovon es ein Theil ist. Wo eine vielbesas-
sende Modifikation das Objekt des Gefühls ist; wo das
unmittelbare Gefühl des Ganzen aus dem unmittelba-
ren Gefühl seiner Theile bestehet und bestehen muß; und
wo dennoch diese einzelnen Gefühlstheile ununterscheid-
bar sind, da hat man die Erfahrungen, woraus das Da-
seyn solcher dunklen ununterscheidbaren Gefühle geschlos-
sen werden kann. Jch höre einen vermischten Ton meh-
rerer Jnstrumente im Koncert, und sehe eine Menge
von Blättern auf einmal verwirrt an einem Baum in
der Ferne. Die Blätter, die hinter einander stehen,
und sich dem äußern Auge verstecken, sehe ich nicht.
Aber es liegen eine Menge an der vordern Fläche, von
denen ich Licht empfange. Würde ich nicht die einzelnen
Blätter fühlen, die Töne einzelner Jnstrumente hören,
woher entstünde denn das Gefühl des Ganzen? Sollen
jene einzelne Gefühle, die für sich besonders nicht zu bemer-
ken sind, nicht eben so wohl für Gefühlsaktus angesehen
werden, als das ganze, aus ihrer Verbindung bestehende

Gefühl?

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
vergangene Ding ſelbſt, das vorgeſtellet wird. Wir
fuͤhlen die Gemuͤthsbewegung, in der die Vorſtellung
des Vergangenen enthalten iſt, oder durch die ſie wie-
dererwecket wird, aber nur ſo, wie ſie jetzo wiederum ge-
genwaͤrtig iſt. Wir erinnern uns des ehemaligen Zu-
ſtandes, aber nur den gegenwaͤrtigen fuͤhlen wir.

2.

Ferner der Aktus des Gefuͤhls iſt verſchiede-
ner Grade faͤhig.
Er kann ſtaͤrker oder ſchwaͤcher
ſeyn, der Jntenſion nach, der Ausdehnung und der
Dauer nach. Dieß iſt Erfahrung. Es iſt alſo moͤg-
lich, daß das Gefuͤhl einer Sache ſo matt, und kurz
voruͤbergehend ſey; daß es ungewahrgenommen bleibet,
und nicht als ein beſonders Gefuͤhl dieſer Sache bemer-
ket wird, ob es gleich die Quantitaͤt des ganzen Gefuͤhls
vergroͤßert, wovon es ein Theil iſt. Wo eine vielbeſaſ-
ſende Modifikation das Objekt des Gefuͤhls iſt; wo das
unmittelbare Gefuͤhl des Ganzen aus dem unmittelba-
ren Gefuͤhl ſeiner Theile beſtehet und beſtehen muß; und
wo dennoch dieſe einzelnen Gefuͤhlstheile ununterſcheid-
bar ſind, da hat man die Erfahrungen, woraus das Da-
ſeyn ſolcher dunklen ununterſcheidbaren Gefuͤhle geſchloſ-
ſen werden kann. Jch hoͤre einen vermiſchten Ton meh-
rerer Jnſtrumente im Koncert, und ſehe eine Menge
von Blaͤttern auf einmal verwirrt an einem Baum in
der Ferne. Die Blaͤtter, die hinter einander ſtehen,
und ſich dem aͤußern Auge verſtecken, ſehe ich nicht.
Aber es liegen eine Menge an der vordern Flaͤche, von
denen ich Licht empfange. Wuͤrde ich nicht die einzelnen
Blaͤtter fuͤhlen, die Toͤne einzelner Jnſtrumente hoͤren,
woher entſtuͤnde denn das Gefuͤhl des Ganzen? Sollen
jene einzelne Gefuͤhle, die fuͤr ſich beſonders nicht zu bemer-
ken ſind, nicht eben ſo wohl fuͤr Gefuͤhlsaktus angeſehen
werden, als das ganze, aus ihrer Verbindung beſtehende

Gefuͤhl?
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0232" n="172"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Gefu&#x0364;hl,</hi></fw><lb/>
vergangene Ding &#x017F;elb&#x017F;t, das vorge&#x017F;tellet wird. Wir<lb/>
fu&#x0364;hlen die Gemu&#x0364;thsbewegung, in der die Vor&#x017F;tellung<lb/>
des Vergangenen enthalten i&#x017F;t, oder durch die &#x017F;ie wie-<lb/>
dererwecket wird, aber nur &#x017F;o, wie &#x017F;ie jetzo wiederum ge-<lb/>
genwa&#x0364;rtig i&#x017F;t. Wir erinnern uns des ehemaligen Zu-<lb/>
&#x017F;tandes, aber nur den gegenwa&#x0364;rtigen fu&#x0364;hlen wir.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>2.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Ferner der Aktus des Gefu&#x0364;hls i&#x017F;t ver&#x017F;chiede-<lb/>
ner Grade fa&#x0364;hig.</hi> Er kann &#x017F;ta&#x0364;rker oder &#x017F;chwa&#x0364;cher<lb/>
&#x017F;eyn, der Jnten&#x017F;ion nach, der Ausdehnung und der<lb/>
Dauer nach. Dieß i&#x017F;t Erfahrung. Es i&#x017F;t al&#x017F;o mo&#x0364;g-<lb/>
lich, daß das Gefu&#x0364;hl einer Sache &#x017F;o matt, und kurz<lb/>
voru&#x0364;bergehend &#x017F;ey; daß es ungewahrgenommen bleibet,<lb/>
und nicht als ein be&#x017F;onders Gefu&#x0364;hl die&#x017F;er Sache bemer-<lb/>
ket wird, ob es gleich die Quantita&#x0364;t des ganzen Gefu&#x0364;hls<lb/>
vergro&#x0364;ßert, wovon es ein Theil i&#x017F;t. Wo eine vielbe&#x017F;a&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ende Modifikation das Objekt des Gefu&#x0364;hls i&#x017F;t; wo das<lb/>
unmittelbare Gefu&#x0364;hl des Ganzen aus dem unmittelba-<lb/>
ren Gefu&#x0364;hl &#x017F;einer Theile be&#x017F;tehet und be&#x017F;tehen muß; und<lb/>
wo dennoch die&#x017F;e einzelnen Gefu&#x0364;hlstheile ununter&#x017F;cheid-<lb/>
bar &#x017F;ind, da hat man die Erfahrungen, woraus das Da-<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;olcher dunklen ununter&#x017F;cheidbaren Gefu&#x0364;hle ge&#x017F;chlo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en werden kann. Jch ho&#x0364;re einen vermi&#x017F;chten Ton meh-<lb/>
rerer Jn&#x017F;trumente im Koncert, und &#x017F;ehe eine Menge<lb/>
von Bla&#x0364;ttern auf einmal verwirrt an einem Baum in<lb/>
der Ferne. Die Bla&#x0364;tter, die hinter einander &#x017F;tehen,<lb/>
und &#x017F;ich dem a&#x0364;ußern Auge ver&#x017F;tecken, &#x017F;ehe ich nicht.<lb/>
Aber es liegen eine Menge an der vordern Fla&#x0364;che, von<lb/>
denen ich Licht empfange. Wu&#x0364;rde ich nicht die einzelnen<lb/>
Bla&#x0364;tter fu&#x0364;hlen, die To&#x0364;ne einzelner Jn&#x017F;trumente ho&#x0364;ren,<lb/>
woher ent&#x017F;tu&#x0364;nde denn das Gefu&#x0364;hl des Ganzen? Sollen<lb/>
jene einzelne Gefu&#x0364;hle, die fu&#x0364;r &#x017F;ich be&#x017F;onders nicht zu bemer-<lb/>
ken &#x017F;ind, nicht eben &#x017F;o wohl fu&#x0364;r Gefu&#x0364;hlsaktus ange&#x017F;ehen<lb/>
werden, als das ganze, aus ihrer Verbindung be&#x017F;tehende<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Gefu&#x0364;hl?</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0232] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, vergangene Ding ſelbſt, das vorgeſtellet wird. Wir fuͤhlen die Gemuͤthsbewegung, in der die Vorſtellung des Vergangenen enthalten iſt, oder durch die ſie wie- dererwecket wird, aber nur ſo, wie ſie jetzo wiederum ge- genwaͤrtig iſt. Wir erinnern uns des ehemaligen Zu- ſtandes, aber nur den gegenwaͤrtigen fuͤhlen wir. 2. Ferner der Aktus des Gefuͤhls iſt verſchiede- ner Grade faͤhig. Er kann ſtaͤrker oder ſchwaͤcher ſeyn, der Jntenſion nach, der Ausdehnung und der Dauer nach. Dieß iſt Erfahrung. Es iſt alſo moͤg- lich, daß das Gefuͤhl einer Sache ſo matt, und kurz voruͤbergehend ſey; daß es ungewahrgenommen bleibet, und nicht als ein beſonders Gefuͤhl dieſer Sache bemer- ket wird, ob es gleich die Quantitaͤt des ganzen Gefuͤhls vergroͤßert, wovon es ein Theil iſt. Wo eine vielbeſaſ- ſende Modifikation das Objekt des Gefuͤhls iſt; wo das unmittelbare Gefuͤhl des Ganzen aus dem unmittelba- ren Gefuͤhl ſeiner Theile beſtehet und beſtehen muß; und wo dennoch dieſe einzelnen Gefuͤhlstheile ununterſcheid- bar ſind, da hat man die Erfahrungen, woraus das Da- ſeyn ſolcher dunklen ununterſcheidbaren Gefuͤhle geſchloſ- ſen werden kann. Jch hoͤre einen vermiſchten Ton meh- rerer Jnſtrumente im Koncert, und ſehe eine Menge von Blaͤttern auf einmal verwirrt an einem Baum in der Ferne. Die Blaͤtter, die hinter einander ſtehen, und ſich dem aͤußern Auge verſtecken, ſehe ich nicht. Aber es liegen eine Menge an der vordern Flaͤche, von denen ich Licht empfange. Wuͤrde ich nicht die einzelnen Blaͤtter fuͤhlen, die Toͤne einzelner Jnſtrumente hoͤren, woher entſtuͤnde denn das Gefuͤhl des Ganzen? Sollen jene einzelne Gefuͤhle, die fuͤr ſich beſonders nicht zu bemer- ken ſind, nicht eben ſo wohl fuͤr Gefuͤhlsaktus angeſehen werden, als das ganze, aus ihrer Verbindung beſtehende Gefuͤhl?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/232
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/232>, abgerufen am 28.03.2024.