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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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II. Versuch. Ueber das Gefühl,
Ding in der Nähe, oder unmittelbar vor uns liege; ein
anderes entfernter sey; wir empfinden die Lage der Theile
in einem Gebäude, das Uebereinstimmende und Regel-
mäßige, was wir Ordnung und Symmetrie nen-
nen. Solche Empfindungen von Gegenständen, in
denen wir nichts mehr bemerken, als nur allein das Ge-
fühl ihrer selbst und ihrer Verhältnisse, sind schon unter
der Benennung der gleichgültigen Empfindungen
oder der bloß lehrenden Empfindungen, welche in soweit
einen Theil unserer Erkenntnisse und Gedanken ausma-
chen, von den übrigen abgesondert.

Dieß Gewahrnehmen der Verhältnisse in den gegen-
wärtigen Dingen sehen wir als eine äußerliche Empfin-
dung, oder als eine Folge von ihr an, wenn es äußere
Gegenstände sind, die solche Verhältnisse an sich haben.
Dagegen gehören die Verhältnißgefühle in den innern
Modifikationen der Seele zu der Klasse der innern
Empfindungen.

3.

Man unterscheidet ferner eine Art von Empfindun-
gen oder von Abänderungen, die das Gefühl nach den
verschiedenen Beziehungen der gefühlten Objekte
auf die gegenwärtige Beschaffenheit der Seele,
und ihrer Vermögen und Kräfte
annimmt. Eini-
ge von den Gegenständen und ihren Vorstellungen bezie-
hen sich auf die vorstellende und denkende Kräfte; ande-
re auf die Kräfte des Willens. Wirkungen, die von
denselbigen sinnlichen Eindrücken, von einerley Vorstel-
lungen und Gedanken in uns entstehen, sind doch ver-
schieden, wenn die gegenwärtige Seelenverfassung ver-
schieden ist, die sie in sich aufnimmt. Einem Gesättig-
ten ekelt vor dem weitern Genuß einer Speise, die dem
Hungrigen eine Wollust erwecket. Der Anblick eines
Menschen ist dem Freunde angenehm, dem Feinde wi-

drig;

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
Ding in der Naͤhe, oder unmittelbar vor uns liege; ein
anderes entfernter ſey; wir empfinden die Lage der Theile
in einem Gebaͤude, das Uebereinſtimmende und Regel-
maͤßige, was wir Ordnung und Symmetrie nen-
nen. Solche Empfindungen von Gegenſtaͤnden, in
denen wir nichts mehr bemerken, als nur allein das Ge-
fuͤhl ihrer ſelbſt und ihrer Verhaͤltniſſe, ſind ſchon unter
der Benennung der gleichguͤltigen Empfindungen
oder der bloß lehrenden Empfindungen, welche in ſoweit
einen Theil unſerer Erkenntniſſe und Gedanken ausma-
chen, von den uͤbrigen abgeſondert.

Dieß Gewahrnehmen der Verhaͤltniſſe in den gegen-
waͤrtigen Dingen ſehen wir als eine aͤußerliche Empfin-
dung, oder als eine Folge von ihr an, wenn es aͤußere
Gegenſtaͤnde ſind, die ſolche Verhaͤltniſſe an ſich haben.
Dagegen gehoͤren die Verhaͤltnißgefuͤhle in den innern
Modifikationen der Seele zu der Klaſſe der innern
Empfindungen.

3.

Man unterſcheidet ferner eine Art von Empfindun-
gen oder von Abaͤnderungen, die das Gefuͤhl nach den
verſchiedenen Beziehungen der gefuͤhlten Objekte
auf die gegenwaͤrtige Beſchaffenheit der Seele,
und ihrer Vermoͤgen und Kraͤfte
annimmt. Eini-
ge von den Gegenſtaͤnden und ihren Vorſtellungen bezie-
hen ſich auf die vorſtellende und denkende Kraͤfte; ande-
re auf die Kraͤfte des Willens. Wirkungen, die von
denſelbigen ſinnlichen Eindruͤcken, von einerley Vorſtel-
lungen und Gedanken in uns entſtehen, ſind doch ver-
ſchieden, wenn die gegenwaͤrtige Seelenverfaſſung ver-
ſchieden iſt, die ſie in ſich aufnimmt. Einem Geſaͤttig-
ten ekelt vor dem weitern Genuß einer Speiſe, die dem
Hungrigen eine Wolluſt erwecket. Der Anblick eines
Menſchen iſt dem Freunde angenehm, dem Feinde wi-

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[184/0244] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, Ding in der Naͤhe, oder unmittelbar vor uns liege; ein anderes entfernter ſey; wir empfinden die Lage der Theile in einem Gebaͤude, das Uebereinſtimmende und Regel- maͤßige, was wir Ordnung und Symmetrie nen- nen. Solche Empfindungen von Gegenſtaͤnden, in denen wir nichts mehr bemerken, als nur allein das Ge- fuͤhl ihrer ſelbſt und ihrer Verhaͤltniſſe, ſind ſchon unter der Benennung der gleichguͤltigen Empfindungen oder der bloß lehrenden Empfindungen, welche in ſoweit einen Theil unſerer Erkenntniſſe und Gedanken ausma- chen, von den uͤbrigen abgeſondert. Dieß Gewahrnehmen der Verhaͤltniſſe in den gegen- waͤrtigen Dingen ſehen wir als eine aͤußerliche Empfin- dung, oder als eine Folge von ihr an, wenn es aͤußere Gegenſtaͤnde ſind, die ſolche Verhaͤltniſſe an ſich haben. Dagegen gehoͤren die Verhaͤltnißgefuͤhle in den innern Modifikationen der Seele zu der Klaſſe der innern Empfindungen. 3. Man unterſcheidet ferner eine Art von Empfindun- gen oder von Abaͤnderungen, die das Gefuͤhl nach den verſchiedenen Beziehungen der gefuͤhlten Objekte auf die gegenwaͤrtige Beſchaffenheit der Seele, und ihrer Vermoͤgen und Kraͤfte annimmt. Eini- ge von den Gegenſtaͤnden und ihren Vorſtellungen bezie- hen ſich auf die vorſtellende und denkende Kraͤfte; ande- re auf die Kraͤfte des Willens. Wirkungen, die von denſelbigen ſinnlichen Eindruͤcken, von einerley Vorſtel- lungen und Gedanken in uns entſtehen, ſind doch ver- ſchieden, wenn die gegenwaͤrtige Seelenverfaſſung ver- ſchieden iſt, die ſie in ſich aufnimmt. Einem Geſaͤttig- ten ekelt vor dem weitern Genuß einer Speiſe, die dem Hungrigen eine Wolluſt erwecket. Der Anblick eines Menſchen iſt dem Freunde angenehm, dem Feinde wi- drig;

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/244>, abgerufen am 16.04.2024.