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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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über Empfindungen u. Empfindnisse.
drig; der Musik, die uns jetzo ergötzet, sind wir nach
einigen Stunden überdrüßig. Der Anblick des Kranken
und die Jdee von der Krankheit rühret bey dem Arzte
weiter nichts als die Phantasie und den Verstand; bey
andern Empfindsamen das ganze Gemüth, und bey dem
Empfindlichen alle Triebe des Herzens. Daher ha-
ben wir die qualificirten Empfindungen, die mehr sind,
als die bloßen Empfindungen der Dinge selbst, die nemlich
eine gewisse Beschaffenheit an sich haben, und ein Ge-
fühl der Beziehung oder des Verhältnisses auf den der-
maligen Seelenzustand in sich enthalten. Sie mögen
überhaupt afficirende Empfindungen heißen. Sie
thun uns, so zu sagen, etwas an, wenn dieß fast ver-
altete Wort, anthun, gebraucht werden darf. Rüh-
rende
werden sie von einigen genennet. Jch kenne kein
deutsches Wort, das im Allgemeinen die Beschaffenheit
der Empfindnisse ausdrücket. Die Empfindsamkeit
bezeichnet bald die objektivische Beschaffenheit der Din-
ge, die uns angenehm oder unangenehm sind; bald die
Disposition der Seele, solche Empfindnisse leicht anzu-
nehmen. *)

4.

Das Gefühl des Wahren, des Schönen und
des Guten,
und der diesen entgegengesetzten Beschaf-
fenheiten der Dinge, mit den besondern Arten der Ge-
fühle, die hierunter begriffen sind, gehören ohne Zweifel
zu den Gefühlen, die von den Verhältnissen und Bezie-

hungen
*) Das Wort Gemuthlich würde hier vielleicht nicht un-
anpassend seyn. Es kommt in den Schriften der
Herrnhuter vor, aus denen es in der Klopstockischen
Gelehrtenrepublik angeführet ist. Ob es das Bürger-
recht in der psychologischen Sprache erhalten soll, oder
nicht, mag darauf ankommen, wie es sich bey den deut-
schen Philosophen empfehlen kann.
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uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
drig; der Muſik, die uns jetzo ergoͤtzet, ſind wir nach
einigen Stunden uͤberdruͤßig. Der Anblick des Kranken
und die Jdee von der Krankheit ruͤhret bey dem Arzte
weiter nichts als die Phantaſie und den Verſtand; bey
andern Empfindſamen das ganze Gemuͤth, und bey dem
Empfindlichen alle Triebe des Herzens. Daher ha-
ben wir die qualificirten Empfindungen, die mehr ſind,
als die bloßen Empfindungen der Dinge ſelbſt, die nemlich
eine gewiſſe Beſchaffenheit an ſich haben, und ein Ge-
fuͤhl der Beziehung oder des Verhaͤltniſſes auf den der-
maligen Seelenzuſtand in ſich enthalten. Sie moͤgen
uͤberhaupt afficirende Empfindungen heißen. Sie
thun uns, ſo zu ſagen, etwas an, wenn dieß faſt ver-
altete Wort, anthun, gebraucht werden darf. Ruͤh-
rende
werden ſie von einigen genennet. Jch kenne kein
deutſches Wort, das im Allgemeinen die Beſchaffenheit
der Empfindniſſe ausdruͤcket. Die Empfindſamkeit
bezeichnet bald die objektiviſche Beſchaffenheit der Din-
ge, die uns angenehm oder unangenehm ſind; bald die
Dispoſition der Seele, ſolche Empfindniſſe leicht anzu-
nehmen. *)

4.

Das Gefuͤhl des Wahren, des Schoͤnen und
des Guten,
und der dieſen entgegengeſetzten Beſchaf-
fenheiten der Dinge, mit den beſondern Arten der Ge-
fuͤhle, die hierunter begriffen ſind, gehoͤren ohne Zweifel
zu den Gefuͤhlen, die von den Verhaͤltniſſen und Bezie-

hungen
*) Das Wort Gemuthlich wuͤrde hier vielleicht nicht un-
anpaſſend ſeyn. Es kommt in den Schriften der
Herrnhuter vor, aus denen es in der Klopſtockiſchen
Gelehrtenrepublik angefuͤhret iſt. Ob es das Buͤrger-
recht in der pſychologiſchen Sprache erhalten ſoll, oder
nicht, mag darauf ankommen, wie es ſich bey den deut-
ſchen Philoſophen empfehlen kann.
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[185/0245] uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. drig; der Muſik, die uns jetzo ergoͤtzet, ſind wir nach einigen Stunden uͤberdruͤßig. Der Anblick des Kranken und die Jdee von der Krankheit ruͤhret bey dem Arzte weiter nichts als die Phantaſie und den Verſtand; bey andern Empfindſamen das ganze Gemuͤth, und bey dem Empfindlichen alle Triebe des Herzens. Daher ha- ben wir die qualificirten Empfindungen, die mehr ſind, als die bloßen Empfindungen der Dinge ſelbſt, die nemlich eine gewiſſe Beſchaffenheit an ſich haben, und ein Ge- fuͤhl der Beziehung oder des Verhaͤltniſſes auf den der- maligen Seelenzuſtand in ſich enthalten. Sie moͤgen uͤberhaupt afficirende Empfindungen heißen. Sie thun uns, ſo zu ſagen, etwas an, wenn dieß faſt ver- altete Wort, anthun, gebraucht werden darf. Ruͤh- rende werden ſie von einigen genennet. Jch kenne kein deutſches Wort, das im Allgemeinen die Beſchaffenheit der Empfindniſſe ausdruͤcket. Die Empfindſamkeit bezeichnet bald die objektiviſche Beſchaffenheit der Din- ge, die uns angenehm oder unangenehm ſind; bald die Dispoſition der Seele, ſolche Empfindniſſe leicht anzu- nehmen. *) 4. Das Gefuͤhl des Wahren, des Schoͤnen und des Guten, und der dieſen entgegengeſetzten Beſchaf- fenheiten der Dinge, mit den beſondern Arten der Ge- fuͤhle, die hierunter begriffen ſind, gehoͤren ohne Zweifel zu den Gefuͤhlen, die von den Verhaͤltniſſen und Bezie- hungen *) Das Wort Gemuthlich wuͤrde hier vielleicht nicht un- anpaſſend ſeyn. Es kommt in den Schriften der Herrnhuter vor, aus denen es in der Klopſtockiſchen Gelehrtenrepublik angefuͤhret iſt. Ob es das Buͤrger- recht in der pſychologiſchen Sprache erhalten ſoll, oder nicht, mag darauf ankommen, wie es ſich bey den deut- ſchen Philoſophen empfehlen kann. M 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/245>, abgerufen am 29.03.2024.