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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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IV. Versuch. Ueber die Denkkraft
Methode, das sogenannte Schulgerechte so wenig schä-
tzen, als man will, so verdienet es doch eine Beherzi-
gung, daß eben die Wissenschaft, die dem Verstande
die Anweisung geben soll, richtig, fest und sicher in den
Kenntnissen einherzugehen, an so manchen Stellen einen
schwankenden Gang hat. An der logischen Erklärung
eines Urtheils mögte endlich wenig gelegen seyn, und
ich will es unten noch besonders zeigen, daß sich die ge-
wöhnliche, von Einer Seite betrachtet, und so ferne von
einem deutlich gedachtem Urtheil die Rede ist, zur Noth
vertheidigen lasse. Nur muß es dadurch nicht zu einem
Grundsatz gemacht werden, "daß alle Verhältnisse, wenn
man sie auflöset, auf Jdentität und Diversität hin-
auskommen." Dieser unrichtige Satz hat bey der Unter-
suchung des menschlichen Verstandes seine vielen nach-
theiligen Folgen gehabt.

Jst denn die Abhängigkeit eines Dinges von ei-
nem andern auch eine Aehnlichkeit oder Verschiedenheit
dieser Dinge? wenn gleich die von einander abhangende
Gegenstände sich entweder einander ähnlich oder unähn-
lich sind? Jst die Folge der Dinge auf einander;
ist ihr Beyeinanderseyn; die besondere Art ihrer
Mitwirklichkeit,
ihre Lage gegen einander; Jst das
Jnhäriren einer Beschaffenheit in ihrem Subjekt nichts
als eine Art von Jdentität und Diversität? Nach mei-
nen Begriffen ist es nicht also. Jch unternehme es zwar
hier noch nicht, die ganze Mannigfaltigkeit der Wirkun-
gen unserer Denkkraft anzugeben; aber ich meine, man
hat nur Eine Seite von ihr betrachtet, wenn man alle
einfache und allgemeine Verhältnisse auf diese einzige Art
einschränket.

2.

Leibnitz, dessen scharfe und eindringende Blicke in
die allgemeinen Denkarten des menschlichen Verstandes

sich

IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
Methode, das ſogenannte Schulgerechte ſo wenig ſchaͤ-
tzen, als man will, ſo verdienet es doch eine Beherzi-
gung, daß eben die Wiſſenſchaft, die dem Verſtande
die Anweiſung geben ſoll, richtig, feſt und ſicher in den
Kenntniſſen einherzugehen, an ſo manchen Stellen einen
ſchwankenden Gang hat. An der logiſchen Erklaͤrung
eines Urtheils moͤgte endlich wenig gelegen ſeyn, und
ich will es unten noch beſonders zeigen, daß ſich die ge-
woͤhnliche, von Einer Seite betrachtet, und ſo ferne von
einem deutlich gedachtem Urtheil die Rede iſt, zur Noth
vertheidigen laſſe. Nur muß es dadurch nicht zu einem
Grundſatz gemacht werden, „daß alle Verhaͤltniſſe, wenn
man ſie aufloͤſet, auf Jdentitaͤt und Diverſitaͤt hin-
auskommen.‟ Dieſer unrichtige Satz hat bey der Unter-
ſuchung des menſchlichen Verſtandes ſeine vielen nach-
theiligen Folgen gehabt.

Jſt denn die Abhaͤngigkeit eines Dinges von ei-
nem andern auch eine Aehnlichkeit oder Verſchiedenheit
dieſer Dinge? wenn gleich die von einander abhangende
Gegenſtaͤnde ſich entweder einander aͤhnlich oder unaͤhn-
lich ſind? Jſt die Folge der Dinge auf einander;
iſt ihr Beyeinanderſeyn; die beſondere Art ihrer
Mitwirklichkeit,
ihre Lage gegen einander; Jſt das
Jnhaͤriren einer Beſchaffenheit in ihrem Subjekt nichts
als eine Art von Jdentitaͤt und Diverſitaͤt? Nach mei-
nen Begriffen iſt es nicht alſo. Jch unternehme es zwar
hier noch nicht, die ganze Mannigfaltigkeit der Wirkun-
gen unſerer Denkkraft anzugeben; aber ich meine, man
hat nur Eine Seite von ihr betrachtet, wenn man alle
einfache und allgemeine Verhaͤltniſſe auf dieſe einzige Art
einſchraͤnket.

2.

Leibnitz, deſſen ſcharfe und eindringende Blicke in
die allgemeinen Denkarten des menſchlichen Verſtandes

ſich
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[330/0390] IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft Methode, das ſogenannte Schulgerechte ſo wenig ſchaͤ- tzen, als man will, ſo verdienet es doch eine Beherzi- gung, daß eben die Wiſſenſchaft, die dem Verſtande die Anweiſung geben ſoll, richtig, feſt und ſicher in den Kenntniſſen einherzugehen, an ſo manchen Stellen einen ſchwankenden Gang hat. An der logiſchen Erklaͤrung eines Urtheils moͤgte endlich wenig gelegen ſeyn, und ich will es unten noch beſonders zeigen, daß ſich die ge- woͤhnliche, von Einer Seite betrachtet, und ſo ferne von einem deutlich gedachtem Urtheil die Rede iſt, zur Noth vertheidigen laſſe. Nur muß es dadurch nicht zu einem Grundſatz gemacht werden, „daß alle Verhaͤltniſſe, wenn man ſie aufloͤſet, auf Jdentitaͤt und Diverſitaͤt hin- auskommen.‟ Dieſer unrichtige Satz hat bey der Unter- ſuchung des menſchlichen Verſtandes ſeine vielen nach- theiligen Folgen gehabt. Jſt denn die Abhaͤngigkeit eines Dinges von ei- nem andern auch eine Aehnlichkeit oder Verſchiedenheit dieſer Dinge? wenn gleich die von einander abhangende Gegenſtaͤnde ſich entweder einander aͤhnlich oder unaͤhn- lich ſind? Jſt die Folge der Dinge auf einander; iſt ihr Beyeinanderſeyn; die beſondere Art ihrer Mitwirklichkeit, ihre Lage gegen einander; Jſt das Jnhaͤriren einer Beſchaffenheit in ihrem Subjekt nichts als eine Art von Jdentitaͤt und Diverſitaͤt? Nach mei- nen Begriffen iſt es nicht alſo. Jch unternehme es zwar hier noch nicht, die ganze Mannigfaltigkeit der Wirkun- gen unſerer Denkkraft anzugeben; aber ich meine, man hat nur Eine Seite von ihr betrachtet, wenn man alle einfache und allgemeine Verhaͤltniſſe auf dieſe einzige Art einſchraͤnket. 2. Leibnitz, deſſen ſcharfe und eindringende Blicke in die allgemeinen Denkarten des menſchlichen Verſtandes ſich

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/390>, abgerufen am 28.03.2024.