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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der sinnlich. Kenntn. u. d. vernünftigen.
muß doch die Denkkraft sich in ihrer größten Energie
beweisen.

Jch wiederhole es; Jede Erkenntniß, als Erkennt-
niß, ist ein Werk der Denkkraft. Nicht das Gefühl,
nicht die vorstellende Kraft kann unterscheiden, ge-
wahrnehmen und erkennen. Dieß thut die Denkkraft.
Aber dadurch wird das Eigene der sinnlichen und der
Empfindungserkenntnisse nicht aufgehoben. Wor-
inn bestehet dieser Unterschied?

2.

Bey den Erfahrungen, bey denen, die reine Erfah-
rungen sind, oder, wenn man das Wort, Erfahrung,
wie es gemeiniglich geschicht, nur für die Erkenntniß
der Sachen gebrauchen will, die aus der Vergleichung
der Beobachtungen mit dem Verstande gezogen wird,
und die uns die Sachen so vorhält, wie sie sind, nicht
wie sie in einzelnen Beobachtungen zu seyn scheinen, so
sage man lieber, bey den reinen Empfindungsurtheilen;
bey diesen wird die Aktion der Denkkraft, wenn sie ur-
theilet, durch nichts als durch die Empfindung oder, ei-
gentlich, durch die Empfindungsvorstellung bestim-
met, die in uns von den Objekten gegenwärtig vorhan-
den ist. Die Denkkraft unterscheidet, hält Dinge für
einerley, beziehet Eins aufs andere, je nachdem die Ein-
drücke sie leiten, die sie von den Objekten aus der Em-
pfindung her hat. Der Mond ist so groß als die Son-
ne. So urtheilet der Verstand des Schäfers. Eben
so siehet es der Astronom, das ist, er urtheilet eben so,
wenn seine Reflexion von diesen Gesichtsbildern sich zum
Vergleichen und Urtheilen bringen lässet, und nichts an-
ders da ist, wodurch die Denkthätigkeit geleitet wird.
Es ist ein Naturgesetz der Denkkraft, "da wo sie in ih-
"ren Vorstellungen von zweyen Objekten das Kennzei-
"chen der Gleichheit findet;" und das findet sie in die-

sem

der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
muß doch die Denkkraft ſich in ihrer groͤßten Energie
beweiſen.

Jch wiederhole es; Jede Erkenntniß, als Erkennt-
niß, iſt ein Werk der Denkkraft. Nicht das Gefuͤhl,
nicht die vorſtellende Kraft kann unterſcheiden, ge-
wahrnehmen und erkennen. Dieß thut die Denkkraft.
Aber dadurch wird das Eigene der ſinnlichen und der
Empfindungserkenntniſſe nicht aufgehoben. Wor-
inn beſtehet dieſer Unterſchied?

2.

Bey den Erfahrungen, bey denen, die reine Erfah-
rungen ſind, oder, wenn man das Wort, Erfahrung,
wie es gemeiniglich geſchicht, nur fuͤr die Erkenntniß
der Sachen gebrauchen will, die aus der Vergleichung
der Beobachtungen mit dem Verſtande gezogen wird,
und die uns die Sachen ſo vorhaͤlt, wie ſie ſind, nicht
wie ſie in einzelnen Beobachtungen zu ſeyn ſcheinen, ſo
ſage man lieber, bey den reinen Empfindungsurtheilen;
bey dieſen wird die Aktion der Denkkraft, wenn ſie ur-
theilet, durch nichts als durch die Empfindung oder, ei-
gentlich, durch die Empfindungsvorſtellung beſtim-
met, die in uns von den Objekten gegenwaͤrtig vorhan-
den iſt. Die Denkkraft unterſcheidet, haͤlt Dinge fuͤr
einerley, beziehet Eins aufs andere, je nachdem die Ein-
druͤcke ſie leiten, die ſie von den Objekten aus der Em-
pfindung her hat. Der Mond iſt ſo groß als die Son-
ne. So urtheilet der Verſtand des Schaͤfers. Eben
ſo ſiehet es der Aſtronom, das iſt, er urtheilet eben ſo,
wenn ſeine Reflexion von dieſen Geſichtsbildern ſich zum
Vergleichen und Urtheilen bringen laͤſſet, und nichts an-
ders da iſt, wodurch die Denkthaͤtigkeit geleitet wird.
Es iſt ein Naturgeſetz der Denkkraft, „da wo ſie in ih-
„ren Vorſtellungen von zweyen Objekten das Kennzei-
„chen der Gleichheit findet;“ und das findet ſie in die-

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[429/0489] der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen. muß doch die Denkkraft ſich in ihrer groͤßten Energie beweiſen. Jch wiederhole es; Jede Erkenntniß, als Erkennt- niß, iſt ein Werk der Denkkraft. Nicht das Gefuͤhl, nicht die vorſtellende Kraft kann unterſcheiden, ge- wahrnehmen und erkennen. Dieß thut die Denkkraft. Aber dadurch wird das Eigene der ſinnlichen und der Empfindungserkenntniſſe nicht aufgehoben. Wor- inn beſtehet dieſer Unterſchied? 2. Bey den Erfahrungen, bey denen, die reine Erfah- rungen ſind, oder, wenn man das Wort, Erfahrung, wie es gemeiniglich geſchicht, nur fuͤr die Erkenntniß der Sachen gebrauchen will, die aus der Vergleichung der Beobachtungen mit dem Verſtande gezogen wird, und die uns die Sachen ſo vorhaͤlt, wie ſie ſind, nicht wie ſie in einzelnen Beobachtungen zu ſeyn ſcheinen, ſo ſage man lieber, bey den reinen Empfindungsurtheilen; bey dieſen wird die Aktion der Denkkraft, wenn ſie ur- theilet, durch nichts als durch die Empfindung oder, ei- gentlich, durch die Empfindungsvorſtellung beſtim- met, die in uns von den Objekten gegenwaͤrtig vorhan- den iſt. Die Denkkraft unterſcheidet, haͤlt Dinge fuͤr einerley, beziehet Eins aufs andere, je nachdem die Ein- druͤcke ſie leiten, die ſie von den Objekten aus der Em- pfindung her hat. Der Mond iſt ſo groß als die Son- ne. So urtheilet der Verſtand des Schaͤfers. Eben ſo ſiehet es der Aſtronom, das iſt, er urtheilet eben ſo, wenn ſeine Reflexion von dieſen Geſichtsbildern ſich zum Vergleichen und Urtheilen bringen laͤſſet, und nichts an- ders da iſt, wodurch die Denkthaͤtigkeit geleitet wird. Es iſt ein Naturgeſetz der Denkkraft, „da wo ſie in ih- „ren Vorſtellungen von zweyen Objekten das Kennzei- „chen der Gleichheit findet;“ und das findet ſie in die- ſem

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/489>, abgerufen am 19.04.2024.