Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit
ste bestehet in den Urtheilen über die Einerleyheit und
Verschiedenheit der Objekte nach den Jdeen von ih-
nen. Die erwähnten Urtheile des unmittelbaren Be-
wußtseyns über Wirklichkeiten machen die zwote aus.
Zweifler oder Vernünftler, so lange sie nicht ganz zu den
Sinnlosen sich gesellen, urtheilen hierinn so, wie andere
Menschen. Diese beiden erwähnten Gattungen von Ur-
theilen haben doch auch Hume und Berkeley für Grund-
wahrheiten angenommen.

6.

Es sind drittens unsere gefolgerten und aus an-
dern geschlossenen Urtheile nothwendige Urtheile,
wenn die Vordersätze als anerkannte Wahrheiten voraus-
gesetzet werden. Der Beyfall, womit wir den Schluß-
satz annehmen, ist nicht aufzuhalten, noch zu unterdrü-
cken, woferne die Vernunft nicht in ihrer folgernden
Aktion aufgehalten wird, und sonsten kein Zweifel bey
den Grundsätzen, noch einige Verwirrung in der Art
des Schließens uns aufstößet. Denn indem die Ver-
nunft den Schlußsatz aus den Vordersätzen herausnimmt,
so wirket sie nach dem Gesetz der Denkbarkeit, der
Jdentität, und nach dem Grundgesetz der beiden
entgegenstehenden möglichen Fälle,
in so ferne
diese allgemeine Axiome als formelle Denkungsgesetze
betrachtet werden. Die Denkkraft kann Widersprüche
nicht gedenken; sie setzet nothwendig Einerley für Einer-
ley; dieß ist das Gesetz der Substitution; sie kann
nur zwo mögliche Fälle, Seyn oder Nichtseyn sich
vorstellen, und nimmt nothwendig den Einen an, wenn
der andere auf etwas widersprechendes führet. Jndem
sie diesen Gesetzen gemäß verfähret, kommt sie auf den
Gedanken, der den Schlußgedanken ausmachet. Un-
ter der Voraussetzung also, daß sie denket, und von den
für richtig erkannten Vordersätzen anfängt, kann sie den

Schluß-

VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
ſte beſtehet in den Urtheilen uͤber die Einerleyheit und
Verſchiedenheit der Objekte nach den Jdeen von ih-
nen. Die erwaͤhnten Urtheile des unmittelbaren Be-
wußtſeyns uͤber Wirklichkeiten machen die zwote aus.
Zweifler oder Vernuͤnftler, ſo lange ſie nicht ganz zu den
Sinnloſen ſich geſellen, urtheilen hierinn ſo, wie andere
Menſchen. Dieſe beiden erwaͤhnten Gattungen von Ur-
theilen haben doch auch Hume und Berkeley fuͤr Grund-
wahrheiten angenommen.

6.

Es ſind drittens unſere gefolgerten und aus an-
dern geſchloſſenen Urtheile nothwendige Urtheile,
wenn die Vorderſaͤtze als anerkannte Wahrheiten voraus-
geſetzet werden. Der Beyfall, womit wir den Schluß-
ſatz annehmen, iſt nicht aufzuhalten, noch zu unterdruͤ-
cken, woferne die Vernunft nicht in ihrer folgernden
Aktion aufgehalten wird, und ſonſten kein Zweifel bey
den Grundſaͤtzen, noch einige Verwirrung in der Art
des Schließens uns aufſtoͤßet. Denn indem die Ver-
nunft den Schlußſatz aus den Vorderſaͤtzen herausnimmt,
ſo wirket ſie nach dem Geſetz der Denkbarkeit, der
Jdentitaͤt, und nach dem Grundgeſetz der beiden
entgegenſtehenden moͤglichen Faͤlle,
in ſo ferne
dieſe allgemeine Axiome als formelle Denkungsgeſetze
betrachtet werden. Die Denkkraft kann Widerſpruͤche
nicht gedenken; ſie ſetzet nothwendig Einerley fuͤr Einer-
ley; dieß iſt das Geſetz der Subſtitution; ſie kann
nur zwo moͤgliche Faͤlle, Seyn oder Nichtſeyn ſich
vorſtellen, und nimmt nothwendig den Einen an, wenn
der andere auf etwas widerſprechendes fuͤhret. Jndem
ſie dieſen Geſetzen gemaͤß verfaͤhret, kommt ſie auf den
Gedanken, der den Schlußgedanken ausmachet. Un-
ter der Vorausſetzung alſo, daß ſie denket, und von den
fuͤr richtig erkannten Vorderſaͤtzen anfaͤngt, kann ſie den

Schluß-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0552" n="492"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Ver&#x017F;uch. Von der Nothwendigkeit</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">&#x017F;te</hi> be&#x017F;tehet in den Urtheilen u&#x0364;ber die <hi rendition="#fr">Einerleyheit</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;chiedenheit</hi> der Objekte nach den Jdeen von ih-<lb/>
nen. Die erwa&#x0364;hnten Urtheile des unmittelbaren Be-<lb/>
wußt&#x017F;eyns u&#x0364;ber Wirklichkeiten machen die zwote aus.<lb/>
Zweifler oder Vernu&#x0364;nftler, &#x017F;o lange &#x017F;ie nicht ganz zu den<lb/>
Sinnlo&#x017F;en &#x017F;ich ge&#x017F;ellen, urtheilen hierinn &#x017F;o, wie andere<lb/>
Men&#x017F;chen. Die&#x017F;e beiden erwa&#x0364;hnten Gattungen von Ur-<lb/>
theilen haben doch auch <hi rendition="#fr">Hume</hi> und <hi rendition="#fr">Berkeley</hi> fu&#x0364;r Grund-<lb/>
wahrheiten angenommen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>6.</head><lb/>
            <p>Es &#x017F;ind <hi rendition="#fr">drittens</hi> un&#x017F;ere <hi rendition="#fr">gefolgerten</hi> und aus an-<lb/>
dern <hi rendition="#fr">ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Urtheile nothwendige Urtheile,</hi><lb/>
wenn die Vorder&#x017F;a&#x0364;tze als anerkannte Wahrheiten voraus-<lb/>
ge&#x017F;etzet werden. Der Beyfall, womit wir den Schluß-<lb/>
&#x017F;atz annehmen, i&#x017F;t nicht aufzuhalten, noch zu unterdru&#x0364;-<lb/>
cken, woferne die Vernunft nicht in ihrer <hi rendition="#fr">folgernden</hi><lb/>
Aktion aufgehalten wird, und &#x017F;on&#x017F;ten kein Zweifel bey<lb/>
den Grund&#x017F;a&#x0364;tzen, noch einige Verwirrung in der Art<lb/>
des Schließens uns auf&#x017F;to&#x0364;ßet. Denn indem die Ver-<lb/>
nunft den Schluß&#x017F;atz aus den Vorder&#x017F;a&#x0364;tzen herausnimmt,<lb/>
&#x017F;o wirket &#x017F;ie nach dem <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;etz der Denkbarkeit,</hi> der<lb/><hi rendition="#fr">Jdentita&#x0364;t,</hi> und nach dem <hi rendition="#fr">Grundge&#x017F;etz der beiden<lb/>
entgegen&#x017F;tehenden mo&#x0364;glichen Fa&#x0364;lle,</hi> in &#x017F;o ferne<lb/>
die&#x017F;e allgemeine Axiome als <hi rendition="#fr">formelle</hi> Denkungsge&#x017F;etze<lb/>
betrachtet werden. Die Denkkraft kann Wider&#x017F;pru&#x0364;che<lb/>
nicht gedenken; &#x017F;ie &#x017F;etzet nothwendig Einerley fu&#x0364;r Einer-<lb/>
ley; dieß i&#x017F;t das <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;etz der Sub&#x017F;titution;</hi> &#x017F;ie kann<lb/>
nur zwo mo&#x0364;gliche Fa&#x0364;lle, <hi rendition="#fr">Seyn</hi> oder <hi rendition="#fr">Nicht&#x017F;eyn</hi> &#x017F;ich<lb/>
vor&#x017F;tellen, und nimmt nothwendig den Einen an, wenn<lb/>
der andere auf etwas wider&#x017F;prechendes fu&#x0364;hret. Jndem<lb/>
&#x017F;ie die&#x017F;en Ge&#x017F;etzen gema&#x0364;ß verfa&#x0364;hret, kommt &#x017F;ie auf den<lb/>
Gedanken, der den Schlußgedanken ausmachet. Un-<lb/>
ter der Voraus&#x017F;etzung al&#x017F;o, daß &#x017F;ie denket, und von den<lb/>
fu&#x0364;r richtig erkannten Vorder&#x017F;a&#x0364;tzen anfa&#x0364;ngt, kann &#x017F;ie den<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Schluß-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[492/0552] VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit ſte beſtehet in den Urtheilen uͤber die Einerleyheit und Verſchiedenheit der Objekte nach den Jdeen von ih- nen. Die erwaͤhnten Urtheile des unmittelbaren Be- wußtſeyns uͤber Wirklichkeiten machen die zwote aus. Zweifler oder Vernuͤnftler, ſo lange ſie nicht ganz zu den Sinnloſen ſich geſellen, urtheilen hierinn ſo, wie andere Menſchen. Dieſe beiden erwaͤhnten Gattungen von Ur- theilen haben doch auch Hume und Berkeley fuͤr Grund- wahrheiten angenommen. 6. Es ſind drittens unſere gefolgerten und aus an- dern geſchloſſenen Urtheile nothwendige Urtheile, wenn die Vorderſaͤtze als anerkannte Wahrheiten voraus- geſetzet werden. Der Beyfall, womit wir den Schluß- ſatz annehmen, iſt nicht aufzuhalten, noch zu unterdruͤ- cken, woferne die Vernunft nicht in ihrer folgernden Aktion aufgehalten wird, und ſonſten kein Zweifel bey den Grundſaͤtzen, noch einige Verwirrung in der Art des Schließens uns aufſtoͤßet. Denn indem die Ver- nunft den Schlußſatz aus den Vorderſaͤtzen herausnimmt, ſo wirket ſie nach dem Geſetz der Denkbarkeit, der Jdentitaͤt, und nach dem Grundgeſetz der beiden entgegenſtehenden moͤglichen Faͤlle, in ſo ferne dieſe allgemeine Axiome als formelle Denkungsgeſetze betrachtet werden. Die Denkkraft kann Widerſpruͤche nicht gedenken; ſie ſetzet nothwendig Einerley fuͤr Einer- ley; dieß iſt das Geſetz der Subſtitution; ſie kann nur zwo moͤgliche Faͤlle, Seyn oder Nichtſeyn ſich vorſtellen, und nimmt nothwendig den Einen an, wenn der andere auf etwas widerſprechendes fuͤhret. Jndem ſie dieſen Geſetzen gemaͤß verfaͤhret, kommt ſie auf den Gedanken, der den Schlußgedanken ausmachet. Un- ter der Vorausſetzung alſo, daß ſie denket, und von den fuͤr richtig erkannten Vorderſaͤtzen anfaͤngt, kann ſie den Schluß-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/552
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/552>, abgerufen am 24.04.2024.